Titel
Stalins V-2. Der Technologietransfer der deutschen Fernlenkwaffentechnik in die UdSSR und der Aufbau der sowjetischen Raketenindustrie 1945 bis 1959


Autor(en)
Uhl, Matthias
Reihe
Wehrtechnik und wissenschaftliche Waffenkunde 14
Erschienen
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Karlsch

Dissertationsschriften zur Zeitgeschichte sind leider nicht selten ungewöhnlich lang, mitunter in einem schwerfälligen Stil verfasst und daher für ein größeres Publikum kaum geeignet. Matthias Uhl zeigt mit seinem rundum gelungenen Buch das es auch anders geht. Auf ca. 300 Seiten schildert er leicht verständlich, bisweilen auch packend, den Aufbau der sowjetischen Raketenindustrie von 1945 bis 1959. Die Arbeit beruht im wesentlichen auf der Auswertung russischer Archivalien und Publikationen. Ähnlich dicht und kompetent wurden russische Quellen zur Zeitgeschichte bisher nur in wenigen anderen Monographien bzw. Studien, so von Christop Mick und Jochen Laufer, ausgewertet. Uhl’ s Studie ist ohne jeden Zweifel eine Pionierleistung. Vor wenigen Jahren wäre es noch ganz undenkbar gewesen, solch tiefgründige Einblicke in die Geschichte der sowjetischen Rüstungstechnologie zu erhalten.

In sieben Kapiteln werden der Stand der sowjetischen Raketenentwicklung bis Kriegsende, die Vorbereitungen zum Transfer der deutschen Raketentechnik, die Anfänge des Technologietransfers, das sowjetische Raketenbauprogramm in der DDR, die Arbeiten der deutschen Spezialisten in der UdSSR, die „Sowjetisierung“ der Raketentechnologie und die ersten außenpolitischen Schritte der Atommacht UdSSR behandelt. Der Autor versäumt es nicht, mit einigen zählebigen Legenden gründlich aufzuräumen. Überzeugend legt er dar, dass die legendären „Katjuschas“ nicht die Vorläufer der sowjetischen Raketenwaffen waren, sondern zur Artillerie gehörten. Demgegenüber stellte die Entwicklung von Raketen unvergleichlich kompliziertere Anforderungen.

Sowohl in sowjetischen als auch in vielen westlichen Publikationen wurde immer wieder behauptet, das die technologische Beute der Sowjetunion auf dem Gebiet der Raketen begrenzt war, da bereits die Amerikaner das „Mittelwerk“ bei Nordhausen komplett ausgeräumt und zudem mit Wernher von Braun und seinen Mitarbeitern die wichtigsten Spezialisten in die USA gebracht hätten. Uhl weist an Hand aussagekräftiger Dokumente nach, dass die sowjetische Beute der amerikanischen nicht nachstand. So wurden die „Mittelwerke“ 1945/46, nunmehr unter sowjetischer Regie, wieder in Betrieb genommen und fertigten nunmehr V-2 Raketen für die Siegermacht. Zudem hatten die Amerikaner einen wichtigen V-Waffenreparaturbetrieb in Kleinbodungen und eine Versuchsanlage bei Lehesten völlig unberührt gelassen. Warum die unterirdischen V-Waffenproduktionsstätten nicht, wie von den Briten gefordert, zerstört wurden, sondern intakt blieben, bedarf noch der weiteren Forschung. Gleiches betrifft auch die Übergabe eines kompletten Startkomplexes für die A-4 durch die Amerikaner an eine sowjetische Spezialeinheit in Sondershausen. Woher rührte diese Großzügigkeit bei der Verteilung der Beute? In anderen Fällen, z.B. bei der Suche nach den deutschen Uranoxydreserven und der Zerstörung der Auer-Werke in Oranienburg, haben die Amerikaner nichts unversucht gelassen, um die sowjetische Beute zu schmälern. Uhl beschränkt sich an dieser Stelle darauf, die Argumentation von Eisenhower zu wiederholten. Der Oberkommandierende der amerikanischen Truppen hielt eine Zerstörung der Mittelwerke für zwecklos, da die sowjetische Armee in Schlesien und Peenemünde ohnehin in den Besitz der deutschen Raketentechnologie gelangt sei. Ganz zu überzeugen vermag diese Erklärung nicht.

Akribisch wird vom Autor der Aufbau der Institute „Berlin“ und „Nordhausen“ in Thüringen beschrieben. Bei diesen Instituten handelte es sich um Forschungsstätten an denen deutsche Spezialisten unter sowjetischer Leitung arbeiteten. Typisch waren dabei Parallelstrukturen, d.h. jedem deutschen Abteilungsleiter war ein sowjetischer Kontrolleur vorgesetzt. Uhl sieht darin den wesentlichsten Unterschied zum Vorgehen der Amerikaner. In den USA arbeitete die Gruppe um Wernher von Braun zunächst nahezu isoliert von den amerikanischen Forschern.

Erstmals wird in der vorliegenden Arbeit das Ausmaß der sowjetischen Raketenforschung in der SBZ exakt quantifiziert. Mehr als 7 300 deutsche und sowjetische Wissenschaftler, Konstrukteure, Ingenieure und Arbeiter wirkten an dem Programm an zehn verschiedenen Standorten mit. Für die fast 1 000 sowjetischen Fernlenkwaffenexperten war dies einen unschätzbare Schule. Sie konnten dadurch ab Ende 1946 ohne größere Zeitverzögerungen mit der Arbeit an eigenständigen Projekten beginnen. Der Aufbau der sowjetischen Raketentruppen begann in der SBZ. Selbst die Erprobung der V-Waffen auf der Insel Usedom, d.h. an der „Geburtsstätte“ der deutschen V-Waffen, war für Ende 1946 vorgesehen, wurde dann aber von Stalin aus außenpolitischen Gründen untersagt.
Indem Uhl auf diese bemerkenswerten Fakt verweist, korrigiert er ein weiteres Kapitel aus der jüngeren sowjetischen Militärgeschichte.

Sowohl die Dimension des Technologietransfers als auch die von Uhl gut analysierte Entscheidungsfindung in der sowjetischen Partei- und Armeespitze deuten darauf hin, dass die UdSSR die strategische Bedeutung einer mit Atomwaffen ausgestatteten Raketenwaffe eher erkannten als die USA. Während die USA zunächst noch auf eine atomare Bomberflotte setzte, entschied sich die UdSSR für die vorrangige Entwicklung von Interkontinentalraketen.
Erstaunlicherweise, so der Autor, erhielt das sowjetische Raketenprogramm bereits im Frühjahr 1946 eine dem Atombombenprogramm vergleichbare Prioritätsstufe. Der schnelle und erfolgreiche Technologietransfer aus Deutschland ermöglichte es der Sowjetunion, früher als die USA über Interkontinentalraketen zu verfügen. Nicht zuletzt an diesem Punkt sollte eine künftige vergleichende Forschung ansetzen. In welchen Umfang war das Konzept einer interkontinentalen Atomrakete bereits im Dritten Reich entwickelt worden? Wie konnte es der Sowjetunion trotz immenser Nachkriegslasten gelingen, im technologischen Wettlauf um den Bau dieser Waffe den USA Paroli zu bieten?
Im Kapitel über die Arbeit der deutschen Raketenspezialisten in der UdSSR fasst der Autor den bisherigen, zumeist auf Memoiren beruhenden Kenntnisstand zusammen, und bringt aus der Kenntnis der russischen Akten viele weitere Details ein.

Der Transfer von Maschinen und Anlagen sowie Know how erfolgte bei Raketen und Strahlflugzeugen wesentlich effizienter als in anderen Branchen. Uhl führt dies darauf zurück, dass es sich in diesen Fällen um völlig neue Fertigungslinien handelte, die von Deutschland in die Sowjetunion verpflanzt wurden. Im Fall der optischen Industrie hingegen, vom Autor als Gegenbeispiel herangezogen, drohten die Demontagelieferungen eingespielte Produktionsabläufe zu „stören“. So zog sich die Wiederinbetriebnahme der wertvollen Ausrüstungen des Zeiss Werkes in der Sowjetunion, im Gegensatz zur Raketentechnik, bis Anfang der fünfziger Jahre hin. Diese Erklärung ist einleuchtend, könnte aber noch verfeinert werden.

Für einige Kontroversen dürfte vor allem das Kapitel über die Sowjetisierung der deutschen Raketentechnologie sorgen. Bereits John Gimbel hat 1990 in seiner bahnbrechenden Arbeit „Science, Technology and Reparations“ auf die Probleme der Bewertung des Technologietransfers verwiesen. Während amerikanische Firmen den Wert der aus Deutschland entnommenen Patente nur auf wenige Millionen Dollar bezifferten, sprachen deutsche Firmen und Wissenschaftler von einem Schaden in Höhe von bis zu 10 Mrd. Dollar. Welchen Beitrag die Deutschen für das sowjetische Raketenbauprogramm geleistet haben, wird sich kaum quantifizieren lassen. Die Bewertung ihrer Leistungen war und ist politischen Konjunkturen unterworfen. Verständlicherweise spürten die sowjetischen Wissenschaftler wenig Neigung, ihren ungeliebten deutschen Kollegen einen überragenden Anteil an den Nach-, Weiter- und Neuentwicklungen zuzubilligen. Es war vor allem der spätere sowjetische Verteidigungsminister Ustinov, der ab Mitte 1948 auf eine Herauslösung der deutschen Wissenschaftler aus dem sowjetischen Raketenbau drängte. Die Mohren hatten ihre Schuldigkeit getan und konnten trotzdem noch nicht gehen. Sie wurden seit 1949 an die Peripherie der Raketenforschung eingesetzt und mussten nunmehr längere Zeit in völliger wissenschaftlicher Isolation arbeiten. Dann folgte noch eine „Abkühlungsphase“ bevor sie in die Heimat zurückkehren konnten.

Überzeugend werden vom Autor die Schwierigkeiten bei der Nachentwicklung deutscher Raketensysteme dargestellt. Vor allem bei den technisch unausgereiften Fliegerabwehrraketen konnten sich die sowjetischen Ingenieure nicht auf bloßes Kopieren beschränken, sondern mussten gleichzeitig neue technische Lösungswege bestreiten. Für eine parallele Entwicklung von Fern- und Fla-Raketen reichten jedoch die sowjetischen Ressourcen nicht. Allein auf dem Gebiet der Fernraketen gelang in kurzer Zeit eine erfolgreiche Übernahme der deutsche Technik. Ob man diesen geglückten Know how Transfer als „Sowjetisierung“ bezeichnen sollte, wie es Uhl tut, sein dahingestellt.

Besonders interessant sind die Abschnitte über den Bau der ersten Atomrakete und ihre erstmalige Stationierung außerhalb der UdSSR. Bisher nahm man an, dass die erste Stationierung im Ausland 1962 auf Kuba erfolgte. Nun ist es heraus. Die sowjetische Führung unter Chrustschow hatte bereits während der zweiten Berlinkrise 1958 mit dem atomaren Knüppel gedroht, und ohne Wissen der SED-Führung Mittelstreckenraketen in der DDR stationiert. Freilich bedürfen die politischen Hintergründe für dieses gewagte außenpolitische Manöver noch eingehender Forschungen. Wenn es an dem Buch etwas zu kritisieren gibt, dann ist das die leider sehr knapp gehaltene Schlussbetrachtung. Ungewöhnlich das sich am Ende des Buches zwar die Viten der Herausgeber der Reihe „Wehrtechnik und wissenschaftliche Waffenkunde“ finden lassen, nicht jedoch ein Lebenslauf des Verfassers. Dabei dürfte die Leser doch wohl eher an den Angaben zum Verfasser interessiert sein.
Besonders hervorzuheben ist die hervorragende Gestaltung des Bandes. Dazu gehören u.a. zahlreiche erstmals veröffentlichte Fotos, die größtenteils aus russischen Archiven und Museen stammen, Skizzen von Fernlenkwaffen mit detaillierten technischen Daten, Lagepläne, Dokumentenkopien sowie Kurzbiographien der wichtigsten Wissenschaftler und Militärs und ein Dokumentenanhang. Ein Blick ins Literaturverzeichnis zeigt im übrigen auch die wachsende Bedeutung des Internet für die Zeitgeschichtsschreibung, auch wenn die Zitierweise der www.-Adressen noch gewöhnungsbedürftig ist. Dieses Buch ist nicht nur für Technikhistoriker ein „Muss“, sondern allen zu empfehlen, die sich für die deutsch-russische Zeitgeschichte und Militärgeschichte interessieren.

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