G. Manz u.a. (Hg.): Sozialpolitik in der DDR

Cover
Titel
Sozialpolitik in der DDR. Ziele und Wirklichkeit


Herausgeber
Manz, Günter; Sachse, Ekkehard; Winkler, Gunnar
Erschienen
Berlin 2001: Trafo Verlag
Anzahl Seiten
429 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Peter Hübner

Kurz nachdem Band 1 der vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung sowie vom Bundesarchiv herausgegebenen „Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945“ im Baden-Badener Nomos-Verlag erschienen war und nahezu zeitgleich mit dem zweiten Band dieser auf insgesamt 21 Bände konzipierten Reihe brachte der Berliner Trafo-Verlag das anzuzeigende Buch heraus.
Das zeitliche Zusammentreffen mag Zufall sein, gleichwohl besteht zwischen beiden Veröffentlichungen mehr als ein nur thematischer Bezug.

Die in der DDR praktizierte Sozialpolitik gehört zweifelsohne zu den ambivalentesten Themenfeldern, die man sich denken kann. Schon deshalb liegt es nahe, dass sich vor unterschiedlichen Erfahrungshintergründen divergierende und auch konkurrierende Perspektiven erschließen. Doch gibt es noch eine zweite Querverbindung zwischen den beiden Projekten: Herausgeber und die meisten Autoren des Buches „Sozialpolitik in der DDR“ waren von den sechziger Jahren an bis zum Ende der DDR selbst wichtige Protagonisten des von ihnen behandelten Gegenstandes. Das hat eine bemerkenswerte Konstellation zur Folge: Experten der DDR-Sozialpolitik, die in den Bänden 9 und 10 der erwähnten „Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945“ als historische Akteure eine Rolle spielen, reflektieren die Entwicklung des Politikfeldes jetzt aus der mehr oder weniger kritischen Distanz des involvierten Betrachters. Im Umschlagtext des Bandes ist, nicht unzutreffend, von „maßgeblichen Zeitzeugen und Aktivisten“ die Rede.

Die Herausgeber haben sich für eine dreiteilige Struktur der Darstellung entschieden. Zunächst werden Genese und Intentionen der von der SED praktizierten Sozialpolitik thematisiert, dann folgt eine systematische Übersicht über die einzelnen Aufgabenbereiche des Politikfeldes, und schließlich folgt noch ein kürzerer Teil über die Sozialpolitik in der DDR als Gegenstand von Forschung und Lehre. Diese Anlage führt mitunter zu etwas Redundanz, doch wird dieser Nachteil durch eine insgesamt überzeugende Systematik der Darstellung aufgewogen.

Im ersten Teil „Grundsätzliche Fragen der Sozialpolitik“ stellt Gunnar Winkler generalisierende Überlegungen über deren Ziele und Inhalte, Leistungen und Defizite sowie über den Umgang mit sozialer Gleichheit und Ungleichheit an. Winklers These, das Fehlen einer „Gesamtzuständigkeit“ für Sozialpolitik habe die Potentiale des Politikfeldes begrenzt, wäre zu diskutieren. War es nicht umgekehrt, und resultierte dessen Leistungsfähigkeit wenigstens zum Teil nicht etwa doch aus konkurrierenden Kompetenzen und dezentraler Improvisation? Wachsende Widersprüche zwischen Ökonomie und Sozialem haben nach Winklers Auffassung zur Destabilisierung der DDR beigetragen. Anders gesagt, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit reichte für die „sozialistische Sozialpolitik“ nicht aus. So kann man das sehen, doch spannender wäre die Frage, ob und in welchem Maße eine solche Art von Sozialpolitik selbst zu diesem für die DDR fatalen Effekt beigetragen hat.

Im folgenden Abschnitt über die Anfänge der „neuen Sozialpolitik“ zeichnet Horst Barthel die ersten sozialen Maßnahmen zur Bewältigung der Nachkriegsnot in der SBZ nach. Der Hinweis, sie hätten nicht zur Verschwendung angeregt, erscheint freilich angesichts der realen Situation, vor allem der Besatzungs- Reparations- und Vertriebenenproblematik, etwas blauäugig. Günter Manz vertieft in einem kurzen Beitrag zur „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik als Basis staatlicher Sozialpolitik“ Hinweise auf eine Überdehnung wirtschaftlicher Ressourcen und unterstreicht die kontraproduktive Wirkung des Festhaltens an von der Entwicklung überholten sozialen Leistungen. Gerhard Tietze wendet sich der betrieblichen Sozialpolitik zu, geht kurz auf die „territoriale“ Sozialpolitik, also jene der Städte, Gemeinden und Kreise sowie auf deren Zusammenarbeit mit den Betrieben ein, und wendet sich dann der „Volkssolidarität“ sowie dem FDGB als wichtigen sozialpolitischen Akteuren zu. Hier werden wesentliche Zusammenhänge der praktischen Sozialpolitik sichtbar, doch bleibt alles sehr deskriptiv und zu wenig problematisiert.

Der umfangreichere zweite Teil des Buches präsentiert unter der Überschrift „Aufgabenfelder der Sozialpolitik“ eine Reihe von Themenquerschnitten, die teils weit über das hinausreichen, was allgemein unter Sozialpolitik verstanden wird. Allerdings lassen auch die peripheren Aspekte recht plausible Bezüge zum Kernbereich des Politikfeldes erkennen. Vor allem aber wird sichtbar, wie die sozialpolitische Praxis in der DDR im Laufe der Zeit auf nahezu alle Bereiche der täglichen Lebensbewältigung ausstrahlte. Bedürfnisse, Lebensniveau und Lebensweise sind die Stichworte, unter denen Günter Manz einem Phänomen nachgeht, das vielleicht am ehesten mit dem Begriff „Versorgungspolitik“ auf den Punkt gebracht werden kann. Deren Bedingungen und Folgen, etwa in Form einer Subventionsspirale und einer höchst problematischen Schwerpunktversorgung, werden kritisch beleuchtet. Die Frage nach der Existenz von Armut und Reichtum in der nivellierten Arbeitsgesellschaft der DDR hätte wohl eingehendere Erörterung verdient.

Die anderen Beiträge thematisieren die Bevölkerungspolitik (Erich Strohbach und Reinhard Liebscher), Arbeitszeit, Freizeit und Erholung (Gerhard Lippold), das Beschäftigungssystem im Kontext des Rechtes auf Arbeit (Ekkehard Sachse), die Einkommens-und Subventionspolitik (Günter Manz), die Sozialversicherung (Heinz Ebert), die Umweltpolitik (Horst Barthel), die Wohnungspolitik (Regine Grabowski), das Bildungswesen (Günter Wilms), die Gesundheitspolitik (Horst Spaar), der Gesundheits- und Arbeitsschutz (Gerhard Tietze), die Familienpolitik (Anita Grandke), die Senioren (Klaus-Peter Schwitzer), die Behinderten (Ders.), und schließlich die „internationale Solidarität“, also im engeren Sinne eine für die „realsozialistischen“ Länder charakteristische Form von Entwicklungshilfe (Ekkehard Sachse).

Ohne hier im einzelnen auf diese Beiträge eingehen zu können, ist aber doch nach dem verbindenden roten Faden zu fragen. Er leitet sich aus dem Untertitel des Buches her. Nahezu durchgängig halten sich die Verfasser an das Prinzip, Ziele und Wirklichkeit der Sozialpolitik in der DDR darzulegen und gegeneinander abzuwägen. Methodisch ist das gut nachvollziehbar, auch die durchaus kritische Bilanz trifft die Situation in den einzelnen Segmenten des Politikfeldes. Allerdings folgt man dabei vielfach, nicht immer, einer Argumentationslinie, die den kritischen Akzent auf die Ergebnisse, in gewisser Abstufung auch auf die sozialpolitische Praxis, aber deutlich weniger auf die Ziele legt. Diese hätten aber durchaus einer problematisierenden Betrachtung unterzogen werden müssen, um zum Kern des Themas vorzustoßen: Ist eine staatliche, zentral organisierte und zum guten Teil aus dem Staatshaushalt finanzierte, in der Absicht gesellschaftspolitischer Steuerung konzipierte und auf Versorgung durch den Staat gerichtete Sozialpolitik leistungsfähiger und den Interessen der verschiedenen Gesellschaftsschichten angemessener als eine, die Leistung und Solidarität auf andere Art verbindet, nämlich durch Selbstverantwortung und Subsidiarität? Der von mehreren Autoren herangezogene Vergleich zwischen den Sozialpolitiken der DDR und der Bundesrepublik gibt auf diese Frage keine Antwort.

Im dritten Teil des Buches bietet Gunnar Winkler einen konzentrierten Überblick zu Aufbau und Struktur der in der DDR mit sozialpolitischen Themen befassten Forschungseinrichtungen. Knapp werden die Forschungsfragen und Kontroversen resümiert. Bemerkenswert ist der Hinweis auf die interschiedlichen Positionen der beteiligten Forscher zur zentralen Planung, ein Thema, das nicht nur für Sozialhistoriker interessant sein dürfte. Die Entwicklung der Sozialpolitik als akademisches Lehrfach beleuchtet Renate Walther im abschließenden Beitrag. Auch hier wird die in der DDR vorherrschende Tendenz sichtbar, das Politikfeld sehr weit zu definieren.

Man wird nicht fehlgehen, bei einigen der in diesem Buch präsentierten Texte den Versuch der Autoren zu vermuten, eine Bilanz des eigenen Lebenswerkes zu ziehen. Dass dies, wenn auch nicht ohne manch apologetisches Argument, zumeist in kritischer Distanz erfolgt, nötigt Respekt ab. Insofern handelt es sich bei dieser Publikation auch um ein zeithistorisches Dokument. Diese Eigenschaft nimmt der eigentlich nötigen Kritik am Sprachduktus, der über weite Passagen die hölzerne Amtssprache der DDR reproduziert, etwas an Schärfe. Die Beiträge changieren zwischen historischer und systematischer Darstellung. Der Anmerkungsapparat ist sparsam gehalten, aber ausreichend. Ein Register fehlt. Wer sich mit der Geschichte der Sozialpolitik in der DDR auseinandersetzen möchte, wird dieses Buch zur Kenntnis nehmen müssen.

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