E. Wolgast: Die Wahrnehmung des Dritten Reiches

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Titel
Die Wahrnehmung des Dritten Reiches in der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945/1946).


Autor(en)
Wolgast, Eike
Reihe
Schriften der Philosophisch-Historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 22
Erschienen
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Classen, Christoph

Die Untersuchung von Prozessen der Erinnerung und des Vergessens, der Wahrnehmung und Konstruktion von Vergangenheit sowie ihrer geschichtspolitischen Instrumentalisierung hat seit einiger Zeit Konjunktur. Der Verlust eines naiven, ontologischen Wahrheitsbegriffes in der Postmoderne und daraus resultierende methodische und theoretische Umorientierungen wie der „linguistic turn“ und allgemein die kulturalistische Wende in den Geisteswissenschaften haben das Interesse an einer Geschichtsschreibung „zweiter Ordnung“ immens steigen lassen.

Kaum ein Gebiet schien allerdings lange Zeit so wenig davon erfasst worden zu sein wie Untersuchungen zum Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nach 1945. Die monströse Dimension der begangenen Verbrechen erschwert nicht nur die Historisierung der Zeit selbst, sondern auch der Geschichte ihrer retrospektiven Aneignung. In Deutschland besteht dieses Problem naturgemäß in besonderer Weise, und in der Konsequenz folgte auch die wissenschaftliche Diskussion lange Zeit mehr oder minder einem „evaluatorischen“ Schema, das vor allem inquisitorische Anklagen und dagegen gerichteten Apologien hervorbrachte. 1 Oft sagte das freilich mehr über die politischen Interessen und sozialen Identitäten der Autoren in der Gegenwart aus als über die Zeit selbst und ihre spezifischen Bedingungen. Indirekt führte diese starke politisch-moralische Aufladung des Themas auch dazu, dass die materielle Seite des Umgangs mit dem Nationalsozialismus in Politik und Justiz die meiste Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, während die Geschichte der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Nationalsozialismus über weite Strecken noch geschrieben werden muss.

Es ist deshalb begrüßenswert, dass Eike Wolgast dazu nun „sine ira et studio“ einen Baustein liefert, indem er die ersten beiden Nachkriegsjahre einer systematischen Analyse unterzieht. Er folgt dabei einem sehr konventionellen Schema, das ganz ohne Bezüge zu den eingangs angedeuteten kulturgeschichtlichen Debatten und den damit verbundenen begrifflichen und theoretischen Konzepten auskommt. Sein Ansatz beschränkt sich vielmehr darauf, anhand programmatischer öffentlicher Äußerungen der ersten Nachkriegsjahre zu rekonstruieren, welches Bild des Nationalsozialismus bei Repräsentanten der wichtigsten Parteien, der beiden Kirchen und der Universitäten jeweils vorherrschte. Bei dem untersuchten Textcorpus handelt es sich ganz überwiegend um veröffentlichtes Material wie Gründungsaufrufe der Parteien, Hirtenbriefe und die Eröffnungsreden der Universitätsrektoren, die gewissermaßen „gegen den Strich“ gelesen werden mussten, weil ihr eigentliches Thema nicht die Vergangenheit, sondern die Gestaltung der Zukunft war.

Damit wird ein sehr enges Konzept verfolgt, sowohl in zeitlicher als auch in gesellschaftlicher Hinsicht: Kontroversen innerhalb der Institutionen, wie sie zweifellos zu Tage getreten wären, wenn interne institutionelle Öffentlichkeiten untersucht worden wären, bleiben so meistens verborgen, am wenigsten noch im Bereich der Kirchen. Vielmehr handelte es sich um ausgefeilte Texte, die Rücksicht auf verschiedene Interessen und Stimmungen, nicht zuletzt aber auch auf die Besatzungsmächte nehmen mussten und schon deshalb Konkretisierungen vermissen ließen. Weniger professionelle Äußerungen, womöglich aus anderen gesellschaftlichen Bereichen, die nicht so direkt unter politischem Druck standen, bleiben so leider ganz ausgeblendet. Zudem werden die konstitutionellen Rahmenbedingungen der alliierten Kontrolle und des Chaos der „Zusammenbruchgesellschaft“ nur knapp angedeutet.

Insgesamt vermögen die Ergebnisse den vorgebildeten Leser denn auch nicht wirklich zu überraschen. Neben der prinzipiellen Distanzierung von der NS-Vergangenheit und dem grundsätzlichen Mangel an explanatorischer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (die man vielleicht von solchen Texten aber auch nicht erwarten kann) sowie der weit verbreiteten Haltung, sich selbst als erstes Opfer des Regimes zu begreifen, imponiert die kaum ausgeprägte Wahrnehmung des Holocaust und die weitgehende Unterordnung der Verbrechen unter den Topos der allgemeinen Grausamkeit des Krieges. Bemerkenswert ist das Selbstbewusstsein, mit dem die Institutionen und Parteien sich auf ihre traditionellen Deutungsmuster beriefen, nahezu jede eigene Verantwortung von sich wiesen und sich selbst zu Horten des Widerstandes und der Resistenz stilisierten. Schuld wurde dabei zumeist dem jeweiligen politischen Gegner zuschoben.

Die KPD/SED, traditionell nicht eben die Partei der institutionalisierten Selbstzweifel, sah in den Ereignissen eine einzige Bestätigung ihrer Gesellschaftsanalyse und ihres Kampfes in den zwanziger Jahren gegen die Weimarer Republik, und sie sparte nicht an Seitenhieben auf die Sozialdemokraten. Die West-SPD unter Schuhmacher unterschied sich hinsichtlich der ökonomischen Deutung, die egoistische Klasseninteressen des Großkapitals hinter Hitler sah, nicht sehr von der KPD/SED, übernahm aber nicht deren negatives Urteil über die Republik und thematisierte zusammen mit den Liberalen als einzige Partei konkret den Massenmord an den europäischen Juden.

In der CDU und den Kirchen hingegen war eine konservative Kritik der Moderne weit verbreitet, der zufolge die jüngste Geschichte den Endpunkt der Säkularisierung, des Materialismus und der Vermassung darstellte, deren Wurzeln bisweilen bis in die Renaissance zurückprojiziert wurden. Adenauer sah im Marxismus eine der treibenden Kräfte dieser Entwicklung und wies deshalb KPD und SPD eine erhebliche Mitschuld an der Etablierung der NS-Herrschaft zu. In der konservativen Wahrnehmung wurde zudem regelmäßig ein „überzogener“ Liberalismus, wie er in der Weimarer Republik institutionalisiert gewesen sei, für die Misere verantwortlich gemacht.

Auch die Universitätsrektoren flüchteten sich mehrheitlich in mystifizierende und dämonisierende Deutungsmuster, nicht ohne die vermeintliche Integrität der Universität während der Diktatur zu behaupten und die traditionellen, überzeitlich gültigen Werte des Christentums und des Humanismus sowie die politische Enthaltsamkeit als geeignete Anknüpfungspunkte für den Neuanfang zu empfehlen – ganz so, als hätten sie in der Vergangenheit eine immunisierende Wirkung entfaltet. Allen gemeinsam war, dass die Integrität der eigenen Institution bzw. des eigenen Milieus postuliert wurde und die Ereignisse im wesentlichen als Bestätigung der überkommenen Standpunkte und Deutungen gewertet wurden.

Fast durchweg erschien die Lage 1945 als politische Katastrophe, deren Lasten und Opfer nicht selten in exkulpierender Absicht ins Feld geführt wurden. In den Kirchen artikulierte sich offener als anderswo die nationale Frontstellung gegen die Alliierten in Form von Kritik an den Entnazifizierungen und der Zurückweisung kollektiver Schuld, in pauschalen Entlastungen besonders der Soldaten und der Aufrechnung von Schuld und Verbrechen, die bisweilen zudem noch von grotesk verzerrten Wahrnehmungen zeugten. So unterrichtete beispielsweise der katholische Bischof Sproll den Papst über die „neuen Konzentrationslager“ der Amerikaner, in denen ähnliche Methoden herrschten wie in den „mit soviel Hohn und Verachtung übergossenen deutschen“, und der Rat der EKD sah in der Entnazifizierung eine Verfolgung von Gesinnung, „wie sie selbst unter dem Nationalsozialismus nie gewesen ist“. Aus den evangelischen Landeskirchen drang die Klage über „das drückende Joch der Fremdherrschaft, das sich auf unseren Rücken gelegt hat und am Mark unseres Lebens frißt.“

Überhaupt zeugen viele Formulierungen und Äußerungen von der tiefen Verwurzelung überkommener Deutungsmuster, die mit dem „Dritten Reich“ keineswegs schlagartig verschwanden. Der Mainzer Bischof Stohr etwa bekannte sich im Sommer 1945 in einem Hirtenbrief zum Vaterland als der „von Gott gewollte(n) Bluts- und Gesinnungsgemeinschaft aller deutschen Brüder und Schwestern“ und beklagte den Verlust des „einst so stolzen Heer(es)“ und von „unserem stolzen Reich“. Der Würzburger Rektor Wunderle sah das Ziel akademischer Ausbildung in „geistigem Führertum“ gegenüber der Masse und sprach von der Verpflichtung des Akademikers „als geistiger Arbeiter der Volksgemeinschaft“, sein Kieler Kollege Kreutzfeld verlangte analog dazu, der Wissenschaftler solle seinen Dienst an „Volkstum und Umwelt“ „volksverbunden, schollenpflichtig und heimatstark“ verrichten. Ein latenter Antisemitismus schimmerte in vielen Äußerungen durch, und in der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten sah der evangelische Landesbischof Wurm nicht nur das Unrecht des Dritten Reiches überboten, sondern er hielt es auch für unmenschlich, das „seit Jahrhunderten besiedelte und kulturell entwickelte Land dem Slawentum“ auszuliefern.

All dies präsentiert Wolgast ganz ohne anklagenden Gestus, oft lässt er die Quellen für sich sprechen, ohne andererseits auf präzise und deutliche Urteile zu verzichten, wo sie ihm geboten scheinen. Er konzentriert sich keineswegs nur auf die Defizite der Debatte, sondern behandelt auch ausführlich die Diskussionen um Schuld und Verantwortung, wie sie vor allem im Bereich der evangelischen Kirche und teilweise in den Linksparteien geführt wurden. In der akribischen Quellenarbeit und in dem zurückhaltenden, ausgewogenen Urteil liegt die Stärke des Buches. Es liefert eine Momentaufnahme ausgewählter Elitendiskurse und erliegt nicht der Versuchung, die heutige Erinnerungskultur, in der der Holocaust ins Zentrum der Wahrnehmung gerückt ist, retrospektiv zum normativen Maßstab zu erheben. Vielmehr wird deutlich, wie stark die Erfahrungen von Krieg, Niederlage und materieller Not den Horizont der „Tätergesellschaft“ geprägt haben und wie groß der Impuls war, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und „über Gräber vorwärts“ zu schreiten, wie es der LDP-Gründer Wilhelm Külz seinerzeit programmatisch formulierte.

Zugleich hätte dem Buch aber insgesamt ein weniger deskriptiv-immanenter und statt dessen stärker kulturgeschichtlich fundierter Ansatz zusätzlichen Reiz verliehen. Beispielsweise hätte die Analyse unter dem Blickwinkel des Umbruchs von Wirklichkeitsordnungen betrieben werden können; dann wäre wohl ein vielschichtiges Bild entstanden, das einerseits die nahezu ungebrochene Wiederbesetzung der milieugebundenen Positionen aus Weimarer Zeiten gezeigt und auf die fragmentierte politische Kultur in Deutschland verwiesen hätte und zum anderen die Nachwirkungen des nationalistischen Volksgemeinschafts-Kitts, der die Deutschen nun in Form einer Leidens- und Opfergemeinschaft zusammenschloss. Nur wirklich neue Farben und Motive waren offenkundig Mangelware.

1 Vgl. insbes. Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last ein Deutscher zu sein. Hamburg 1987 sowie Manfred Kittel, Die Legende von der „Zweiten Schuld“. Vergangenheitsbewältigung in der Ära Adenauer. Frankfurt/M. 1993.

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