Titel
Das Undenkbare tun. Juden in Deutschland nach 1945


Autor(en)
Gay, Ruth
Erschienen
München 2001: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 24,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Donate Strathmann, Universität Paderborn

Ein Überblick über die jüdische Nachkriegsgeschichte in Deutschland lag, von zwei Versuchen abgesehen, noch nicht vor. 1 Gleichwohl wuchs seit Mitte der 80er Jahre mit der Erschließung neuer Aktenbestände das Interesse am Thema, was seinen Niederschlag in Aufsätzen, Sammelbänden 2 und Monographien fand. 3 Gays Buch verspricht eine Zusammenschau der bisherigen Ergebnisse und richtet sich an eine Öffentlichkeit, der es „gleichgültig oder ein Dorn im Auge ist, daß Juden sich nach Krieg wieder in Deutschland niedergelassen haben." (S.12) Gay übersieht die Vielzahl verschiedenartiger Publikationen und Fernsehdokumentationen, die sich auch an ein breiteres Publikum richteten.

Statt der Vorgeschichte der beiden Hauptgruppen der jüdischen Nachkriegsbevölkerung, der osteuropäischen DPs und der Juden deutscher Herkunft, behandelt das Kapitel "Woher sie kamen" die Verfolgungsgeschichte der osteuropäischen Juden vor 1933. Die verschiedenen Überlebensstrategien der deutschen Juden (Versteck, 'Mischehe', Exil), die NS-Besatzung Osteuropas und die Pogrome im Nachkriegspolen werden kaum behandelt. Nur so kann Gay die kühne These aufstellen, etwa 200.000 osteuropäische Juden seien nach 1945 "freiwillig" in "das Land ihrer Mörder" gekommen (S.13-14). Im Sommer 1946 flohen zehntausende jüdische Rückwanderer aus der Sowjetunion vor Pogromen in Polen nach Deutschland, um von dort auszuwandern. In Polen hatten sie ihre Familien ermordet, Häuser und Synagogen zerstört gefunden und Pogrome kosteten fast 2.000 Juden das Leben.

Das Kapitel "Zurück ins Leben" führt nicht etwa in die Situation in DP-Lagern und Gemeinden ein, sondern beschränkt sich auf die kulturellen Aktivitäten in den Camps, vor allem die jiddische Zeitungslandschaft. Nicht erwähnt werden die politische Selbstverwaltung der DPs in Komitees, die bis 1951 das gesamte jüdische Leben maßgeblich mitbestimmten und die sehr unterschiedlichen, durch die Militärregierungen vorgegebenen politischen Rahmenbedingungen und deren Auswirkungen auf DPs und Hilfsorganisationen. Die britische Jewish Relief Unit wird nicht einmal erwähnt, das größte DP Camp in Belsen nur einmal.

"Die letzten deutschen Juden" läßt einen Blick auf die Gemeinden erwarten, beschränkt sich jedoch nach weiteren Exkursen darauf, Probleme anzudeuten: fehlende Auswanderungsmöglichkeiten, Wirtschaftsleben der DPs, ihr Verhältnis zur Bevölkerung, ihre Stellung in den Gemeinden, Haltung der internationalen jüdischen Gemeinschaft zum Wiederaufbau der Gemeinden. Ausführlicher wird nur die Diskussion der Juden deutscher Herkunft um 'Gehen oder Bleiben?' behandelt. Gay benennt den Umgang mit den durch die Nürnberger Gesetze definierten "nicht-arischen Christen" als Schlüsselproblem, bricht aber mit der Feststellung ab, die Ansprüche dieser Gruppe hätten sich nach 1945 als ein "heikles Thema" für die Gemeinden entpuppt und schließt mit Gründung des Zentralrats, ohne die Bedeutung dieser Entscheidung zu analysieren. Gay konstatiert zuletzt, daß bis 1950 "die Juden im Westen, die nicht in DP-Lagern lebten, die traditionellen Gemeinden wieder aufgebaut (hätten) und mit (...) ihren durch Staatsgelder unterstützten Institutionen in das öffentliche Leben in Deutschland eingebettet" gewesen seien. (S.139) Das Zustandekommen dieses Urteils bleibt rätselhaft, denn Gay äußert sich nicht zu Aufbau und Aktivitäten von Gemeinden und Institutionen.

"Wieder Juden in Berlin" soll offenbar die früheren Ausführungen illustrieren, aber erst nach langen Exkursen erfährt man Konkretes zum Wiederaufbau der Berliner Gemeinde: von vier zunächst parallel existierenden Gemeindeverwaltungen, ersten Gottesdiensten, den Problemen im Ostsektor und den Anfängen der Einheitsgemeinde im Herbst 1945. Die kurze Erwähnung des Joint wird dessen für die Gemeindemitglieder überlebenswichtiger Leistung nicht gerecht. Die Problematik nicht-jüdischer Ehepartner, der "nicht-arischen Christen" und der zahlreichen Deutschen, die aus materiellen oder politischen Erwägungen zum Judentum übertreten wollten, kommt erneut zu kurz. Die Auswirkungen auf das Gemeindeleben werden nicht einmal angedeutet. Verkürzt auch die Darstellung des zentralen Problemkreises Entschädigung, Rückgabe, Wiedergutmachung und Rechtsnachfolge der Berliner Nachkriegsgemeinde. Die zweite Hälfte des Kapitels ist den DP-Lagern gewidmet und reißt bereits abgehandelte Aspekte am Beispiel Berlin nochmals an, jedoch ohne Erkenntnisgewinn.

"Juden in Ostberlin" schildert die kontinuierlich sich verschlechternde Situation der Juden in der SBZ/DDR: Von der Einstufung als Faschismusopfer zweiter Klasse, des Zionismus als "nationalistische, imperialistische Bewegung" bis zur Flucht des Ostberliner Vorstandes nach Westberlin 1953 nach den antisemitischen Schauprozessen in Moskau und Prag. Gay beschreibt, wie die Juden nach Chruschtschows Abkehr vom Stalinismus 1956 zum ebenso gegängelten wie gehätschelten Aushängeschild der "antifaschistischen" DDR wurden. Einerseits waren bis in die siebziger Jahre kulturelle jüdische Aktivitäten nicht-religiösen Inhalts verboten, andererseits wurde 1953 die Synagoge Rykestraße wieder eingeweiht. Gay skizziert die Rolle führender jüdischer Persönlichkeiten und ihre angeblichen Kontakte zum Regime. Zu knapp fällt die Analyse der durchsichtigen Wende Honeckers gegenüber Israel, den Juden in Amerika und der DDR aus, von der er sich wirtschaftliche Vorteile erhoffte. Gleichzeitig ließ das SED-Regime demonstrativ die Große Synagoge in der Oranienburger Straße restaurieren.

In "Die neue jüdische Generation in Deutschland" geht Gay den Identitäten der ersten und zweiten Generation nach und springt dann vom akuten Rabbinermangel über die Situation an der Hochschule für jüdische Studien zum ambivalenten Verhältnis der jüdischen Linken zur Studentenbewegung. Gay beschreibt den Ostberliner Trend der achtziger Jahre zur Bildung jüdischer Kulturgruppen und stellt sie auf eine Stufe mit den liberalen Gemeinden in den westdeutschen Großstädten. Schlaglichtartig folgen weitere Aspekte: vom Frauenlehrhaus Bet Debora bis zum Problem der Zuwanderung. Hinsichtlich jüdischer Zeitschriftengründungen erkennt Gay ein gewachsenes jüdisches Selbstbewußtsein und führt das darauf zurück, daß die Redakteure als Kinder osteuropäischer Juden "in einem der stabilsten und demokratischsten Länder Europas mit einer beispielhaften Menschenrechtspolitik" (S.280) aufgewachsen seien, bezeichnet aber dann die deutsche Politik als "immer stärker ausländerfeindlich." (S.281) Vermutlich haben die Aktionen von Neonazis und die Anschläge in Düsseldorf diese 'Wende' bewirkt. Abschließend steckt Gay die Grenzen zwischen Juden und Deutschen neu ab: Auf der einen Seite die Juden und nichtjüdischen Deutschen "mit Sinn für die Vergangenheit" (S.286), auf der anderen diejenigen Deutschen, die die historische Schuld ganz verdrängen oder ihre Zuflucht zu jüdischer Folklore nehmen.

Das Buch weist viele Schwächen und Fehler auf: Gay spricht von "jüdischen (DP-)Lagern (...) in auffallendem Kontrast zu den Lagern, die mit anderen Osteuropäern belegt waren" (S.122) und ignoriert, daß es anfangs nur gemischte Lager gab. Sie spricht von "der Bundesrepublik Deutschland, die aus den Besatzungszonen der Westalliierten bestand" (S.139) und der zeitgleichen Gründung der Jewish Restitution Successor Organization in den Westzonen 1948. (S.168) Diese arbeitete jedoch nur in der US-Zone und die Jewish Trust Corporation für die britische Zone wurde erst 1950 gegründet. Gay interessiert sich nicht für die gravierenden Unterschiede zwischen den Westzonen, sondern unterscheidet nur zwischen 'gutem Westen' und 'bösem Osten'. Die Zahl der jüdischen Rückwanderer in die DDR beziffert Gay auf 3.300 und gibt als Quelle Maors Dissertation von 1961 an. Dort finden sich allerdings keine entsprechenden Zahlenangaben. Maor hält ihre Zahl für eine zu vernachlässigende Größe. An vielen anderen Stellen fehlen notwendige Zahlenangaben, ebenso die Aufschlüsselung von Abkürzungen. Eine Definition der Begriffe 'Displaced Persons' und 'Sche'erit Haplejta' fehlt bzw. fällt unbefriedigend aus. Ein Glossar jiddischer und hebräischer Begriffe und ein Personen- und Ortsregister gibt es nicht. Ein Großteil des Buches besteht aus nicht zum Thema gehörenden Exkursen (z.B. Russische Revolution und Mahnmalsdebatte). Andererseits fehlen Erläuterungen zu Institutionen, die vielen Lesern nicht ohne weiteres vertraut sein dürften. (Reichsvereinigung der deutschen Juden, S.150, Zentralkomitee der befreiten Juden in der Britischen Zone, S.112) Kapiteleinteilung und inhaltliche Gewichtung sind sehr willkürlich. Randständige Aspekte werden ausführlich behandelt, wichtigere ausgeklammert, Hintergründe dem Leser vorenthalten. Selten finden sich Informationen am erwarteten Ort, hinzu kommen inhaltliche und chronologische Sprünge.

Die Sprache der Übersetzung ist oft unerträglich. Zu Beginn beschwört Gay auf romantisch-kitschige Weise die untergegangene Shtetl-Welt, deren Bewohner jederzeit "von plötzlich wildgewordenen Nachbarn oder Regierungen überfallen werden" konnten (S.28). Schlimmer, wenn es heißt, die Gestapo habe gewußt, "daß immer noch Juden frei herumliefen" (S.144) und viele junge Leute in der DDR seien "Volljuden oder partielle Juden" gewesen. (S.221) Fast harmlos dagegen, daß die russische Revolution "danebenging" (S.29), nach dem Krieg "die gesamte Infrastruktur durcheinander war" (S.177), die SED "unter der Fuchtel" indoktrinierter Kaderfunktionäre stand (S.197) oder jüdische Intellektuelle Gemeindevorstände "durch den Kakao ziehen". (S.278) Auch ist Autorin bzw. Übersetzerin der Unterschied zwischen Enteignungen und Reparationen sowie Terroristen und Demonstranten (S.283) unklar.

Anmerkungen:
1 Burgauer, Erica, Zwischen Erinnerung und Verdrängung - Juden in Deutschland nach 1945, Hamburg 1993.
Brenner, Michael, Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland nach 1945-1950, München 1995.
2 Brumlik, Micha, u.a. (Hg.), Jüdisches Leben in Deutschland seit 1945, Frankfurt/M. 1986.
Obenaus, Herbert (Hg.), Im Schatten des Holocaust: Jüdisches Leben in Niedersachsen nach 1945, Hannover 1997.
3 Wetzel, Juliane, Jüdisches Leben in München 1945-1951. Durchgangsstation oder Wiederaufbau?, München 1987.
Dewell-Giere, Jacqueline, Wir sind unterwegs, aber nicht in der Wüste. Erziehung und Kultur in den Jüdischen DP-Lagern der Amerikanischen Zone im Nachkriegsdeutschland 1945-1949, Frankfurt/M. 1992.
Königseder, Angelika / Wetzel, Juliane, Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt/M. 1994.
Eder, Angelika, Flüchtige Heimat. Jüdische DPs in Landsberg am Lech 1945-1950, München 1998.
Königseder, Angelika, Flucht nach Berlin. Jüdische DPs 1945-1948, Berlin 1998.
Geis, Jael, Übrig sein – Leben ‚danach‘. Juden deutscher Herkunft in der britischen und amerikanischen Zone Deutschlands 1945-1949, Berlin 2000.
Quast, Anke, Nach der Befreiung. Jüdische Gemeinden in Niedersachsen seit 1945 - das Beispiel Hannover, Göttingen 2001.
Strathmann, Donate, Von der „Liquidationsgemeinde“ zum „Zentralpunkt jüdischen Lebens“? - Neubeginn und Entwicklung jüdischen Lebens im Gebiet der britischen Besatzungszone Deutschlands am Beispiel Düsseldorfs (1945-1960), Essen 2001 (in Vorbereitung).

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