J. Wüstenhagen: "Blick durch den Vorhang"

Titel
"Blick durch den Vorhang". Die SBZ/DDR und die Integration Westeuropas (1946-1972)


Autor(en)
Wüstenhagen, Jana
Reihe
Nomos Universitätsschriften: Geschichte 13
Erschienen
Baden-Baden 2001: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
380 S.
Preis
DM 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Prof. Dr. Werner Müller

Die Hallenser Dissertation weist die Aufmerksamkeit auf ein wenig behandeltes Gebiet: die Wahrnehmung der westeuropäischen Integration durch die Führung der DDR. Hatte die Außenpolitik der DDR allgemein bereits wenig Interesse in der bisherigen Forschung gefunden, gilt das für die Ansätze zu supranationaler Verflechtung in Ost und West in besonderem Maße. Ihre Rolle als stille Nutznießerin der Römischen Verträge und sogar faktisch als inoffizielles, selbstverständlich heimliches, Mitglied der westeuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft würden solche Untersuchungen „eigentlich“ sogar nahe legen. Das gilt um so mehr, als die „Bruderländer“ der DDR diese Sonderrolle durchaus geneidet haben, freilich nicht in schriftlich niedergelegten Protokollen.

Die Analyse von Jana Wüstenhagen ist breit und schmal zugleich auf das behandelte Thema hin angelegt. Breit, weil sie die Rahmenbedingungen und institutionellen Grundlagen der DDR-Politik gegenüber der EWG recht ausführlich untersucht, schmal, weil sie dem eigentlichen Entscheidungsträger, der Partei, verhältnismäßig wenig Raum widmet und weil die Analyse aus Gründen des Quellenzugangs mit dem Jahr 1972 endet.

Das erste Kapitel, das rund ein Viertel der Gesamtuntersuchung umfasst und das umfangreichste darstellt, geht Determinanten, Kontext und Trägern der ostdeutschen Außenpolitik nach. Das schließt die Anfänge nach 1946 ebenso ein wie die zentrale Frage nach dem Handlungsspielraum der DDR gegenüber der Sowjetunion. Leider werden hierzu nur (S. 71-75) die Positionen und Kontroversen der Literatur geprüft. Das (möglicherweise im zeitlichen Verlauf sich verschiebende) Kräfteparallelogramm von Interessen der Partei- und Staatseliten, ökonomischen Bedürfnissen, Eigeninteressen der unterschiedlichen Bürokratien und ideologisch definierten Maximen bleibt ebenfalls auf der Ebene des Grundsätzlichen. In gleicher Weise gilt das für die „führende Rolle“ der Partei, konkret also die Gestaltungsmacht des Politbüros als eigentliches Machtzentrum in der DDR. Dessen Rolle wird knapp analysiert, und das auch noch schwerpunktmäßig für die Amtszeit Erich Honeckers, dem (zu Recht) zugeschrieben wird, er praktizierte die DDR Außenpolitik als seine „Privatangelegenheit“ (S. 81). Immerhin widmet sich die Gesamtuntersuchung dem Zeitraum bis 1972!

Ebenfalls den Grundlagen der Integrations-Problematik widmen sich das zweite und dritte Kapitel. Herausgearbeitet werden zunächst die strategischen Grundlagen, die sich die DDR-Führung jenseits aller ideologischen und propagandistischen Verdikte über die westeuropäische Integration erarbeiten musste. Selbstverständlich ergab sich dabei in politischer und völkerrechtlicher Analyse das auf Dauer bestimmende (und die Haltung der DDR dagegen nicht auf Dauer determinierende) Diktum einer - letztlich dysfunktionalen - „staatsmonopolistischen“ Integration, mit der sich „die großen Monopole [...] ein übernationales Regulierungsorgan schaffen würden“ (S. 112). Bei allen Veränderungen bis zum Ende der Ära Ulbricht, die Jana Wüstenhagen herausarbeitet, blieben die daraus abgeleiteten Grundkonstanten erhalten. Darunter werden gezählt: die Fortdauer unüberbrückbarer Widersprüche, die Frontstellung gegen das „sozialistische Lager“ als treibendes Motiv, die Verelendung der Massen in den beteiligten westlichen Ländern und der Ausbau der westdeutschen Hegemonie in diesem Integrationsprozess.

Der nächste Abschnitt untersucht das fragile Dreiecks-Verhältnis der DDR, ihrer Bündnispartner und der EWG. Es wird gezeigt, wie die DDR einerseits, ihre Verbündeten andererseits, jeweils argwöhnten, die anderen Länder und Parteien würden den RGW und sein Instrumentarium gegenüber der EWG für Eigeninteressen bemühen. Diese Phase des gegenseitigen Misstrauens wurde abgelöst von einer Haltung der DDR, die Bündnispartner zu einem koordinierten Vorgehen zu bewegen und unter allen Umständen die Geschlossenheit des eigenen „Lagers“ herauszustellen. Für die DDR hatte in dieser Phase der Kampf um „Statuserhöhung und internationale Anerkennung höchste Priorität“ (S. 196). Die Position der Sowjetunion löste in der DDR zugleich gelegentliche Irritationen aus.

Das vierte und eigentliche Hauptkapitel untersucht den politischen Formulierungs- und Entscheidungsmechanismus in der DDR-Europapolitik. Nach Meinung von Jana Wüstenhagen ist dabei das Augenmerk neben der SED-Spitze, die fraglos das „richtungsweisende Organ“ gewesen ist, auf die beteiligten Ministerien zu richten, das Ministerium für Auswärtigen Angelegenheiten (MfAA) und das Ministerium für Außenhandel und innerdeutschen Handel (MAI). Hier gilt ihr Interesse möglichen Differenzen zwischen den genannten Institutionen, also eben auch zwischen Partei und Staatsbürokratie (S.201).
Hierbei stellt sich von Anfang an eine bemerkenswerte Differenz in der Bewertung der EWG heraus: Die Parteiebene stellte verstärkt die „ideologischen Grundsätze zur Charakterisierung der EWG“ heraus, die Ministerien „disqualifizierten [...] den Zusammenschluss nicht pauschal als ideologisches Hirngespinst, sondern versuchten auch, Prognosen für die einzelnen Bereiche des Gemeinsamen Marktes abzugeben“ (S. 288). Fraglos fanden interne Differenzen der Ministerien nur bedingt ihren Niederschlag in Entscheidungsgremien. Die Suprematie der Partei wurde niemals in Frage gestellt.

Interessanterweise kam es aber Anfang der sechziger Jahre zwischen den beiden involvierten Ministerien zu Kontroversen. So sah das Außenministerium in der Position des Außenhandelsministeriums die möglichen Beziehungen zur „Dritten Welt“ unterschätzt und damit einen wichtigen Ansatzpunkt außer acht gelassen, für die DDR Verbündete gegen die Handelspolitik der EWG zu gewinnen (S. 230). Auch die Auswirkungen auf die Landwirtschaft der DDR blieben umstritten.

Generell verweist die Autorin auf ein Defizit der DDR-Politik - der „fachlich ungenügenden Behandlung der EWG in den Partei und Staatsorganen“, vermehrt um die „Unfähigkeit der RGW-Länder, sich auf ein gemeinsames Vorgehen gegenüber der Gemeinschaft zu einigen“. An dieser war die DDR „nicht unbeteiligt“ (S. 290). Damit sind die Grunddilemmata benannt. Ein unausgesprochenes Fazit ergibt sich hier aus der Analyse von Jana Wüstenhagen: Die ideologischen Prämissen, auch die Bindung an die Sowjetunion, mangelnde Professionalität in den beteiligten Ministerien, Interessen-Blockaden und auch tatsächlich fehlende Internationalität (jenseits des immer wieder postulierten „proletarischen Internationalismus“) verhinderten eine adäquate Wahrnehmung und daher auch Reaktion der DDR auf den westeuropäischen Integrationsprozess. Das gilt vor allem auch unter der Berücksichtigung des Faktums, dass die beteiligten Ministerien in ihren Planungs- und Grundsatzabteilungen früher als die Parteiinstitutionen die von der EWG ausgehende Dynamik erkannten und in Rechnung stellten.

Leider wird aufgrund des zeitlichen Rahmens der Arbeit die Phase des Abrückens der DDR von ihren ideologisch definierten Positionen, die vorsichtige Öffnung der DDR zur EWG in den Siebzigern und der Umschlag zu einem regelrechten „Run“ nach Brüssel in den achtziger Jahren nur noch kursorisch und in Ausblicken behandelt.

Das Verdienst der Untersuchung liegt fraglos auf zwei Ebenen: zum einen in der detaillierten Rekonstruktion der Grundsatzfragen zum Komplex „Integration“, die belegen, wie schwer sich SED- und DDR-Eliten mit der Annäherung an das neue Problem supranationale Verflechtung taten. Zum anderen liegt die besondere Leistung in der Erschließung des außenpolitischen Prozesses unterhalb der „Königsebene“. Sie zeigt, wie wenig im Grunde ohne die Billigung des Politbüros oder ohne die Koordination mit den „Freunden“ erreicht werden konnte. Ferner demonstriert sie die engen Grenzen und meta-ideologischen Beschränkungen des Koordinationsprozesses im „sozialistischen Lager“.

Ergänzt wird die Untersuchung durch einen lesenswerten Exkurs über die außenpolitische Funktion des Leipziger Messe. Hier wird exemplarisch demonstriert, wie die SED- und DDR-Führung seit 1946 die Messe als politisches Instrument zu nutzen suchte. Naturgemäß tritt der Aspekt der westeuropäischen Integration hier zurück; bis zur Anerkennungswelle Anfang der siebziger Jahre diente die Messe als Ersatzforum zur politisch-ideologischen Bearbeitung westdeutscher Geschäftsleute. Erst danach rückte sie in die „eigentliche“ Funktion zur Intensivierung wirtschaftlicher Kooperationsbeziehungen. Mit dieser anfänglichen Rolle hatte man zugleich die „Bruderländer“ brüskiert, die es zum Teil vorzogen, ihre Präsenz in Leipzig schmal zu halten und mit Erfolg Konkurrenzstandorte (Posen, Brünn) aufbauen konnten.

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