B. Schier: Alltagsleben im "sozialistischen" Dorf

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Titel
Alltagsleben im "sozialistischen" Dorf. Merxleben und seine LPG im Spannungsfeld der SED-Agrarpolitik (1945-1990)


Autor(en)
Schier, Babara
Reihe
Münchner Beiträge zur Volkskunde 30
Erschienen
Münster u.a. 2001: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
€ 19,43
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Schöne, Jens

Mit ihrer volkskundlichen Studie legt Barbara Schier eine erste fundierte Untersuchung der sozioökonomischen Folgewirkungen der SED-Agrarpolitik der Jahre 1945 bis 1990 vor. Auf der Grundlage ausgewählter Archivalien und umfangreicher Zeitzeugenbefragungen analysiert sie den Wandel der dörflichen Lebenswelt vornehmlich in Hinblick auf die Veränderung der Sozialstruktur, das Zusammenleben der Dorfbewohner, die Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie die sich dabei ergebenden Handlungsspielräume (S. 13). Darüber hinaus gibt sie einen umfassenden Einblick in den Wandel der ökonomischen Rahmenbedingungen, der sich im Dorf vor allem in der Gründung und Transformation der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) manifestierte und weitreichende Folgen zeitigte. Damit betritt die Autorin Neuland, denn bis zum heutigen Tage beschränkt sich sowohl die agrarhistorische als auch die sozialwissenschaftliche Forschung zur ländlichen Gesellschaft der DDR weitgehend auf den Zeitraum zwischen der Bodenreform und der Vollkollektivierung (1945-1960).

Im Mittelpunkt der Studie stehen vor allem die lokalen Auswirkungen der an zentraler Stelle gefällten agrarpolitischen Entscheidungen, „deren Weg ‚von oben’ – als Gesetze, Parteibeschlüsse und Verordnungen – bis hinunter ‚an die Basis’, zu denen, deren Alltag sie veränderten und die auf diese Veränderungen reagierten.“ Dabei zielt Barbara Schier weniger auf eine umfassende Gemeindestudie, die alle Bereiche des kommunalen Lebens gleichermaßen erfasst, sondern vielmehr auf eine „problemorientierte Fallskizze“, die lokale und regionale Besonderheiten zwar berücksichtigt, jedoch „allgemeinere Einsichten“ anstrebt (S. 10). Als Beispiel dient dabei das thüringische Dorf Merxleben mit seinen etwa 500 Einwohnern, in dem 1952 die erste LPG der DDR gegründet wurde und dem die Autorin bereits einige Arbeiten gewidmet hat.

Dem Erkenntnisinteresse entsprechend, skizziert Schier zunächst die allgemeine agrarpolitische Entwicklung der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. der DDR, um vor deren Hintergrund die angestrebte Transformation Merxlebens zum ‚sozialistischen Dorf’ zu exemplifizieren. Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang die Auswahl der Quellen. Mit dem Hinweis, dass „man wohl davon ausgehen kann, dass die Anweisungen der zentralen agrarpolitischen Instanzen sich im örtlichen Bereich in der Presse oder entsprechenden Handlungsanweisungen auf unterer Ebene widerspiegeln“ (S. 18), verzichtet Schier weitestgehend auf die Berücksichtigung der Unterlagen eben jener Instanzen (wie etwa das Sekretariat für Landwirtschaft beim Zentralkomitee der SED) und verschenkt damit viel. Denn: Derartige Handlungsanweisungen lassen sich in Merxleben tatsächlich belegen, sagen jedoch nichts aus über die zugrunde liegenden machtpolitischen Interessen und Entscheidungen und sind somit nur sehr bedingt geeignet, die angestrebten „allgemeineren Einsichten“ zu erlangen. Dies wird u.a. deutlich, wenn die Autorin die Gründung der LPG im Juni 1952 analysiert. Zwar gelingt ihr der überzeugende Nachweis, dass diese keineswegs in Eigeninitiative der Merxlebener Neubauern erfolgte, die tatsächlich vorhandene Einflussnahme des SED-Politbüros wird von ihr jedoch lediglich vermutet, kann aufgrund der engen Quellenbasis aber nicht nachgewiesen werden. 1

Die Stärken der Studie liegen folglich vor allem in der eindringlichen Darstellung der Entwicklung Merxlebens nach der vollständigen Kollektivierung des Jahres 1960; hier leistet Schier ohne Zweifel Pionierarbeit von hohem Wert. So zeigt die Autorin, dass über den gesamten Zeitraum alle wesentlichen Entscheidungen nicht im Dorf, sondern von übergeordneten Instanzen der selbsternannten ‚Partei der Arbeiterklasse’ getroffen und von dieser mit Nachdruck durchgesetzt wurden. Ein solcher Befund mag nicht sonderlich überraschen; es ist jedoch der Verdienst Barbara Schiers, dies erstmals ebenso fundiert wie detailliert nachgezeichnet zu haben. Dass die LPG dabei keineswegs ein Ort des freudigen Schaffens nivellierter Genossenschaftsbauern war, wird zweifelsfrei deutlich.

Bereits 1958 hatte sich in Merxleben als Zeichen der sozialen Differenzierung innerhalb des Dorfes eine zweite LPG gegründet, die ökonomisch weitaus erfolgreicher arbeitete als die bereits 6 Jahre zuvor auf zentrale Anweisung geschaffene. Dies stand in zunehmendem Maße im Widerspruch zu den agrarpolitischen Leitlinien der SED und gipfelte 1968 in einem Zusammenschluss beider Wirtschaftseinheiten, der „aus der Distanz nur als Erpressung zu bezeichnen“ ist (S. 159). Wie schon bei der Zwangskollektivierung des Jahres 1960 ging es auch hierbei weniger um ökonomische Konsolidierung, als vielmehr um eine ideologisch bedingte Gesellschaftskonstruktion durch wirtschaftliche Fusionierung und die damit angestrebte Entdifferenzierung der ländlichen Bevölkerung. Die Folgelasten dieses Ansinnens waren weitreichend. Die Entfremdung der Bauern von ihrem Boden nahm beständig zu, proportional dazu sank die Produktivität der LPG, und Merxleben wurde vom Schrittmacher zum Bremsklotz der kollektiven Produktion.

Dies änderte sich grundlegend erst in den siebziger und achtziger Jahren. Mit zunehmender Rationalisierung der Produktion, die auch den Rückgriff auf das eigentliche soziale Kapital im Dorf, die früheren ‚Großbauern’, einschloss, erlebte die LPG Merxleben einen wirtschaftlichen Aufschwung, wie er für viele Genossenschaften der DDR zu dieser Zeit typisch war. Jährlich wurden jetzt mindestens 20.000 Jungschweine aufgezogen, und „nebenbei noch 10.000 Doppelzentner Schweinefleisch extra produziert“ (S. 168), um die in der Mangelwirtschaft nötigen Kompensationsgeschäfte tätigen zu können. Die vom Betrieb angebotenen Sozialleistungen wurden hoch subventioniert, Betriebssportgemeinschaften großzügig finanziert und einflussreiche Partei- und Landwirtschaftsfunktionäre zu ausgedehnten Wochenendvergnügungen geladen. Der LPG-Vorsitzende entwickelte sich dabei zunehmend zu einem sozialistischen „Duodezfürsten“, der letztlich nur den übergeordneten Parteigremien Rechenschaft schuldete.

Als jedoch infolge der Ereignisse des Jahres 1989 die Preise für Agrarerzeugnisse dramatisch fielen, war auch die landwirtschaftliche Produktion in Merxleben nicht mehr rentabel und die LPG wurde vom Vorsitzenden auf Industrieproduktion umgestellt. Auf welche Art dies geschah, liest sich wie ein Lehrstück auf die vielfach zitierten „Roten Barone“ und zeigt exemplarisch, inwiefern es der SED tatsächlich gelungen ist, gewachsene Strukturen zu zerstören und dafür neue nachhaltig zu konstruieren.

Wie aber wirkte sich die geschilderte Entwicklung auf den Alltag in Merxleben aus? Dieser Frage widmet sich Schier im zweiten zentralen Teil ihrer Studie und bestätigt dabei einerseits bereits Bekanntes, vermag es aber durchaus, hier neue Dimensionen zu eröffnen. Die Autorin berücksichtigt dabei die Zielstellung einer ‚sozialistischen Arbeitskultur’ ebenso wie deren tatsächliche Ausgestaltung, etwa durch die Schaffung von Arbeitsbrigaden oder Gemeinschaftseinrichtungen. Ergänzend erörtert sie scheinbare Randphänomene, wie die Veränderung der bäuerlichen Nahrungsgewohnheiten und der Arbeitsbekleidung, anhand derer sie die Vielschichtigkeit von Tradition und Wandel hinterfragt.

Zwei Bereiche scheinen der Autorin besonders geeignet, den ländlichen Alltag zu charakterisieren: „Arbeiten und Wirtschaften“ sowie „Wohnen“. Für den ersten Bereich betont Schier neben den bereits oben angeführten Folgewirkungen einer (mehr oder weniger freiwilligen) Mitgliedschaft in der LPG vor allem die „entscheidende Rolle“ (S. 224) der individuellen Hauswirtschaft für die Bevölkerung Merxlebens – ein Befund, der für die DDR wohl durchaus verallgemeinert werden kann. Diese Hauswirtschaft, im Prozess der LPG-Gründungen von der SED als zeitlich begrenztes Zugeständnis gedacht, umfasste für jedes LPG-Mitglied das Nutzungsrecht für 0,5 Hektar Land sowie zunächst eine begrenzte Anzahl Nutzvieh. Schier hebt dabei die zwei wichtigsten Aspekte dieser Wirtschaftsform für die Landbevölkerung hervor: Einerseits verbesserte sich dadurch die finanzielle Situation erheblich, andererseits wurde die Hauswirtschaft durchaus als Residualform traditioneller Landwirtschaft verstanden und wirkte so den Entdifferenzierungsbestrebungen der SED wesentlich entgegen.

Damit war sie mehr als eine bloße Freizeitaktivität, denn hier boten sich jene Freiräume, die mit dem Eintritt in die LPG so fundamental beschnitten worden waren, nun aber zunehmend volkswirtschaftliche Bedeutung erlangten (1985 wurden auf diese Art über 10 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche bearbeitet). Die angestrebte Nivellierung war also auch in diesem Bereich gescheitert und rückte durch die zunehmenden Versorgungsengpässe während der achtziger Jahre in immer weitere Ferne.

Gleiches gilt für den Komplex „Wohnen“. Zwar führte hier u.a. die weitreichende Trennung von Arbeits- und Lebensbereich zu partiellen Veränderungen; eine einheitliche ‚sozialistische Wohnkultur’ resultierte daraus jedoch nicht. Vielmehr zwang schon allein die Mangel- sowie die daraus resultierende Schattenwirtschaft zu Improvisationen in Abhängigkeit von der „Gnade des LPG-Vorsitzenden“ (S. 260) und führte so zu recht unterschiedlichen Ergebnissen. Demjenigen, der Näheres über die Willfährigkeiten des Alltagslebens in der DDR erfahren möchte, sei in diesem Zusammenhang das Kapitel „Das Abenteuer Hausumbau“ (S. 259ff.) ans Herz gelegt, das eindringlich die zahllosen Schwierigkeiten schildert, die mit einem solchen Unterfangen verbunden waren.

„Jedem seine kleine hauswirtschaftliche Nische! Keine soziale Homogenisierung im Dorf!“, so resümiert Barbara Schier die Bestrebungen der ländlichen Bevölkerung nach der Vollkollektivierung (S. 292). Durchaus bestehende Handlungsspielräume – deren Umfang die Autorin z.T. wohl etwas überschätzt – wurden dabei geschickt genutzt, um den eigenen Interessen Vorschub zu leisten. Eine ‚sozialistische Menschengemeinschaft’ konnte so nicht entstehen, sie war trotz weitreichender sozialer Umschichtungen auch nie das Ziel der Merxlebener Bauern. Zwischen den Ansprüchen der SED-Agrarpolitik und der Realität im Dorf bestanden somit weitreichende Diskrepanzen. Dies in aller Deutlichkeit gezeigt zu haben, ist der vorrangige Verdienst der Studie. Es bleibt zu hoffen, dass weitere folgen werden und die ländliche Gesellschaft so sehr viel stärker in den Mittelpunkt der historischen DDR-Forschung rückt als dies bisher der Fall ist. Denn noch immer sind hier zahlreiche zentrale Fragen offen – Barbara Schier hat mit ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag geleistet, diese zumindest in Teilen zu beantworten.

1 Vgl. jetzt auch Schier, Barbara: Die Ablieferungsgemeinschaft Merxlebener Bauern als Klassenkampfinstrument? Ein thüringisches Dorf auf dem Weg zur Kollektivierung, in: Kluge, Ulrich/Halder, Winfrid/Schlenker, Katja (Hrsg.): Zwischen Bodenreform und Kollektivierung. Vor- und Frühgeschichte der „sozialistischen Landwirtschaft“ in der SBZ/DDR vom Kriegsende bis in die fünfziger Jahre, Stuttgart 2001, S. 213-228. Hier wird zumindest die unmittelbare Einflussnahme des SED-Bezirkssekretärs Erich Mückenberger vermerkt.

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