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Titel
Max Webers Idealtypus der nichtlegitimen Herrschaft. Von der revolutionär-autonomen mittelalterlichen Stadt zur undemokratischen Stadt der Gegenwart


Autor(en)
Scaglia, Antonio
Reihe
Otto-von-Freising-Vorlesungen der Katholischen Universität Eichstätt 19
Erschienen
Anzahl Seiten
98 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Nippel, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Geschichtswissenschaften

Max Webers Herrschaftssoziologie basiert bekanntlich auf drei reinen Typen (legale, traditionale, charismatische) legitimer Herrschaft. 1 Möglich scheint, daß Weber bei einer weiteren Ausdifferenzierung seiner Konzeption das demokratische Legitimationsprinzip als viertes Element aufgenommen hätte. 2 Umstritten ist, ob es in Webers Konzeption einen systematischen Ort für „nichtlegitime Herrschaft“ geben kann. Wolfgang J. Mommsen hat dies verneint, da Weber von einem „Legitimitätseinverständnis der Beherrschten“ ausgehe 3; Stefan Breuer hat dagegen betont, daß Weber auch dann von Herrschaft spreche, wenn die Beherrschten allein „aus Furcht vor Sanktionen oder aus Interessenkalkül“ Gehorsam gegenüber den Herrschenden leisten, insofern könne es auch nichtlegitime Herrschaft geben. 4

Die Diskussion über diesen Punkt hängt mit einem Problem der Weber-Philologie zusammen. Weber hatte 1914 in einem Gliederungsentwurf für „Wirtschaft und Gesellschaft“ (damals noch als Teil des Gemeinschaftswerks „Grundriß der Sozialökonomik geplant) für das Kapitel „Die Herrschaft“ einen Abschnitt „Die nichtlegitime Herrschaft. Typologie der Städte“ vorgesehen. Im Nachlaß Webers fand sich ein (unvollendeter) Text über „Die Stadt“; Marianne Weber hat ihn, nachdem er zuerst als Zeitschriftenaufsatz veröffentlicht worden war, schließlich in „Wirtschaft und Gesellschaft“ übernommen, allerdings nicht als Teil der Herrschaftssoziologie und mit dem einfachen Titel „Die Stadt“; erst Johannes Winckelmann hat in den späteren Auflagen – unter Berufung auf Webers Plan von 1914 - die Zuordnung zur Herrschaftssoziologie vorgenommen und die Überschrift „Die nichtlegitime Herrschaft (Typologie der Städte)“ gewählt. 5 Eine Folge war, daß Weber der Vorwurf gemacht wurde, er sei unfähig oder unwillig, das legitimitätsstiftende Element zu erkennen, das im Zusammenschluß freier Bürger liegt. 6 Wie immer man den Typus „nichtlegitime Herrschaft“ grundsätzlich einschätzt, Webers „Stadt“ behandelt dieses Thema höchstens partiell, und zwar vor allem im Zusammenhang mit den Kommunegründungen und den Bildungen von Sonderverbänden des popolo in den italienischen Städten des Mittelalters. 7

Antonio Scaglia, Soziologe in Trient, der sich in seinen Eichstätter Gastvorlesungen mit dieser komplexen Weber-Diskussion auseinandersetzt, bestreitet letzteren Befund nicht grundsätzlich (22f. 31), meint aber, daß Weber in diesem Kontext dezidiert einen Typus nichtlegitimer Herrschaft in einem „ausgesprochen schöpferischen Sinne“ im Blick gehabt habe, indem nämlich gerade wegen des nichtlegitimen Charakters der mittelalterlichen Stadtgemeinde dort bürgerliche Freiheit und kapitalistisches Unternehmertum entstanden seien (20), sich „zentrale Elemente der neuen bürgerlichen sozialen Organisation und Kultur [...] in nuce entwickelt“ hätten (23), sich ein System herausgebildet habe, das der alten Ordnung eine neue soziale und verfassungsrechtliche Legitimität entgegenstellte und sich damit schließlich durchsetzte (31). Wenn Weber den popolo als „Staat im Staate“ und „erste[n] ganz bewußt illegitime[n] und revolutionäre[n] politische[n] Verband“ 8 bezeichne, dann gehe es ihm nicht darum, daß die bestehende Rechtsordnung verletzt werde, vielmehr liege sein Nachdruck darauf, daß der durch wechselseitige promissorische Eide konstituierte Verband durch diesen Verbrüderungsakt eine neue Legitimität gewinne. Weber zeige damit sein besonderes Verständnis dafür, daß sich aus dem Nebeneinander von Rechtsordnungen und Legitimitätsstrukturen im Mittelalter eine spezifische Dynamik als Voraussetzung für die Entstehung der Moderne entwickeln konnte (40ff.). 9

Scaglias Interpretation von Webers Sicht auf den popolo blendet weitgehend aus, daß Weber die ökonomische Modernisierung vor allem in der „bürgerlichen gewerblichen Binnenstadt“ nördlich der Alpen feststellt und bezüglich der italienischen Städte eine eher ambivalente Einschätzung zeigt. 10 Das Grundproblem ist, daß Weber zwar vormoderne Gesellschaften unter dem Gesichtspunkt erörtert, welche Potentiale zur Entfaltung der spezifischen Rationalität der modernen okzidentalen Welt in ihnen gegeben gewesen sein könnten, aber keine geschlossene Theorie zur Entstehung dieser Moderne bietet. Angesichts der Tatsache, daß Webers Werk ein (monumentaler) Torso geblieben ist, wird man auch schwerlich definitiv entscheiden können, ob Weber einen Idealtypus „nichtlegitime Herrschaft“ konstruieren wollte und wie dieser sich gegebenenfalls zu dem möglichen vierten, dem demokratischen Legitimitätsprinzip verhielte. 11

In einem zweiten Teil wendet Scaglia sich den Problemen von Städten der Gegenwart zu. Diese seien tendenziell undemokratisch verfaßt, da der rechtlichen Mediatisierung durch den Staat eine faktische Dominanz wirtschaftlicher und kultureller Vereinigungen korrespondiere, die sich aber vor allem im Verborgenen abspiele. „Vorschläge für eine materiale Demokratisierung der okzidentalen Stadt der Gegenwart“ (56) könnten insofern an das mittelalterliche Vorbild anknüpfen, als diese „nichtlegitimen Herrschaftsformen“ an das „Tageslicht“ geholt werden, diesen Verbänden einerseits Spielräume gegeben, sie andererseits auf soziale Ziele festgelegt werden sollten (55, vgl. 69). Da Scaglia davon ausgeht, daß Herrschaft sich immer „eng mit dem Heiligen verbindet“ (27), schlägt er auch vor, solche Pakte durch Eid zu bekräftigen (55).

Was immer man von Diagnose und Therapievorschlag hinsichtlich der Gegenwart hält - Scaglias Schrift zeigt (wie auch aus der Bibliographie ersichtlich wird), wie intensiv sich die italienische Sozialwissenschaft mit dem Werk Max Webers auseinandersetzt.

Anmerkungen:
1 Zu den verschiedenen Textfassungen vgl. jetzt Edith Hanke, Max Webers „Herrschaftssoziologie“. Eine werkgeschichtliche Studie, in: Edith Hanke / Wolfgang J. Mommsen (Hgg.), Max Webers Herrschaftssoziologie, Tübingen 2001, 19-46.
2 Vgl. die Hinweise auf einen Vortrag Webers vom Oktober 1917 bei Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung, Frankfurt 1991, Band 2, 473, und Hanke, Max Webers „Herrschaftssoziologie“, 44.
3 Politik und politische Theorie bei Max Weber, in: Johannes Weiß (Hg.), Max Weber heute, Frankfurt 1989, 515-542, hier 537.
4 Nichtlegitime Herrschaft, in: Hinnerk Bruhns / Wilfried Nippel (Hgg.), Max Weber und die Stadt im Kulturvergleich, Göttingen 2000, 63-76, hier 65.
5 Vgl. Wilfried Nippel, Editorischer Bericht, in: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Teilband 5: Die Stadt, Tübingen 1999 (Max Weber Gesamtausgabe [= MWG] I/22-5), 45ff. (= Studienausgabe, Tübingen 2000, 126ff.)
6 Dolf Sternberger, Max Weber und die Demokratie, in: ders., Ich wünschte ein Bürger zu sein, Frankfurt 1967, 93-113; Klaus Schreiner, Die mittelalterliche Stadt in Webers Analyse und die Deutung des okzidentalen Rationalismus, in: Jürgen Kocka (Hg.), Max Weber, der Historiker, Göttingen 1986, 119-150. – Bei Scaglia ist einmal (64) „Schreiner“ statt „Reiner“ zu lesen.
7 Nippel, in: MWG I/22-5, 24ff. 46f. (= Studienausgabe 114f. 126); ders., Die antike Stadt in Max Webers Herrschaftssoziologie, in: Hanke / Mommsen (Hgg.), Max Webers Herrschaftssoziologie, 189-201.
8 Weber, MWG I/22-5, 200.
9 Scaglia folgt hier Otto Gerhard Oexle, Kulturwissenschaftliche Reflexionen über soziale Gruppen in der mittelalterlichen Gesellschaft: Tönnies, Simmel, Durkheim und Max Weber, in: Christian Meier (Hg.), Die okzidentale Stadt nach Max Weber, München 1994, 115-159; vgl. jetzt auch O. G. Oexle, Priester - Krieger - Bürger. Formen der Herrschaft in Max Webers „Mittelalter“, in: Hanke / Mommsen (Hgg.), Max Webers Herrschaftssoziologie, 203-222.
10 Vgl. Stefan Breuer, Blockierte Rationalisierung. Max Weber und die italienische Stadt des Mittelalters, Archiv für Kulturgeschichte 66, 1984, 47-85.
11 In dem Vortrag von 1917 hat Weber für diesen als Träger in der Vormoderne „das soziologische Gebilde der okzidentalen Stadt“ genannt; zitiert bei Hanke, Max Webers „Herrschaftssoziologie“, 44.

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