Cover
Titel
Matthias Flacius and the survival of Luther's reform.


Autor(en)
Olson, Oliver K.
Reihe
Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 20
Erschienen
Wiesbaden 2002: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
432 S., 72 Abb.
Preis
€ 99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Hartmann, Historisches Seminar der Universität Heidelberg

In der Johanneskirche in Dessau hängt eine Darstellung des Letzten Abendmahles von Lucas Cranach dem Jüngeren aus dem Jahre 1565. Auf ihr sind unschwer zu erkennen: vom Betrachter aus gesehen zur Linken Christi sitzend Bugenhagen und dann (!) Luther und zur Rechten Melanchthon. Von der anderen Seite beugt sich ein gelbgekleideter Judas über den Tisch, der hinter seinem Rücken nicht nur den Geldsack, sondern auch ein Messer hält. Hierbei handelt es sich laut Olson (190 mit Abb.) um eine Darstellung von Matthias Flacius Illyricus (1520-1575), der zum großen Gegner Melanchthons wurde, und von seinem sprichwörtlich gewordenen culter Flacianus, dem Messer, mit dem er mittelalterliche Handschriften, die er in den Bibliotheken fand, verstümmelt haben soll. Das Bild belegt anschaulich, dass Matthias Flacius bereits zu seinen Lebzeiten Gegner in den Reihen der eigenen Konfession hatte, die ihn stark anfeindeten.

Seit seiner theologischen Dissertation von 1966 über die sog. Missa Illyrica, einer äußerst umstrittenen Edition eines mittelalterlichen Messbuches durch den kroatischen Humanisten und Theologen Matthias Flacius 1, hat Olson sich in verschiedenen Aufsätzen immer wieder mit ihm beschäftigt und versucht, ihn von diversen Vorwürfen zu entlasten, so auch von dem des Bücherdiebstahls, auf den der culter Flacianus verweist 2. Olson hält Matthias Flacius, wohl auch mit Berechtigung, für einen zu Unrecht verfolgten bedeutenden protestantischen Theologen und so ist der Titel des Buches das Credo des Autors: nicht Philipp Melanchthon sondern Matthias Flacius Illyricus hat Luthers Erbe, d.h. Luthers Lehre bewahrt, ohne Kompromisse einzugehen und ohne auf die Folgen für sich selbst zu sehen. So ist Olsons Buch eigentlich keine neue Biographie des Illyricus - hier bleibt das zweibändige Werk von Wilhelm Preger 3 nach wie vor maßgebend -, sondern "an account of how he (= M. Flacius) did it (= save Luther's work)" (S. 15). Behandelt wird die Zeit von 1520 (also dem Geburtsjahr des Illyricus) bis 1557; ein zweiter Teil von 1557 bis zu seinem Tod 1575 unter dem Titel : "Matthias Flacius and the Struggle for the Freedom of the Church" wird angekündigt und man kann nur hoffen, dass der Autor sein Vorhaben verwirklichen kann angesichts einer Drucklegungszeit für den vorliegenden Band von 7 Jahren!

Zunächst zum Inhalt: In relativ kurzen Kapiteln, denen zumeist prägnante Zitate von Flacius oder Zeitgenossen in englischer Übersetzung vorangestellt sind, schildert Olson, wie Flacius seit seinem Studienbeginn in Wittenberg in die politischen und religiösen Auseinandersetzungen hineingezogen wurde bzw. auch Stellung beziehen wollte mit einer von Anfang an kompromisslosen Haltung. Die Jugend sowie seine Studienjahre werden kurz aber ganz anschaulich abgehandelt, vor allem Flacius' Zeit in Venedig. Unter denjenigen, die ihn besonders beeinflusst haben, nimmt sein Onkel Baldus Lupetinus, Minoritenprovinzial und nach 20-jähriger venezianischer Kerkerhaft als "Märtyrer der protestantischen Sache" hingerichtet, eine herausragende Stellung ein. Sein Schicksal hat Olson eindrucksvoll nachgezeichnet (auf S. 161 hat sich allerdings ein Fehler eingeschlichen, denn die englischsprachige Schrift des Illyricus über den Tod seines Onkels kann nicht 1549 erschienen sein, da dieser erst 1556 hingerichtet wurde), Flacius Beziehungen zu Luther bleiben allerdings blass. Breiten Raum nehmen außerdem die Bemühungen um die Magdeburger Centurien ein sowie um Texteditionen mittelalterlicher Quellen und seine Kontakte nach England insbesondere zu John Bale und Matthew Parker, dem Erzbischof von Canterbury. Die theologischen Auseinandersetzungen mit Osiander und Schwenckfeld sowie Flacius' immer härter werdende Polemik gegen Melanchthon gelten die letzten Kapitel.

Es ist nach wie vor eine grundsätzliche Frage, ob man die nachgiebige und stets kompromissbereite Haltung Philipp Melanchthons für die damals angemessene zur Bewahrung der Lehre Luthers hält, wie dies etwa Heinz Scheible vertritt, oder aber mit Oliver Olson meint, Matthias Flacius habe das Erbe bewahrt indem er zu keinerlei Kompromiss bereit war. So werden von Olson immer wieder Zeitgenossen wie spätere Forscher zitiert als Kronzeugen für seine These, Flacius sei der wirkliche Bewahrer von Luthers Lehre gewesen, dagegen werden manche biographischen Details übersprungen (z.B. wird Flacius' erste Frau Elisabeth an bestimmten Stellen genannt, ohne dass die Tatsache der Eheschließung überhaupt erwähnt ist).

Olson vertritt weitere interessante Thesen, so etwa die, dass Flacius durch sein Studium bei Aldus Manutius in Venedig seine Begeisterung für die Herausgabe lateinischer Quellen gewonnen habe. Die historischen Arbeiten des Illyricus, die Vorbereitung der Magdeburger Centurien wie auch seine zahlreichen Editionen werden nicht zusammenhängend behandelt sondern in die chronologische Darstellung jeweils eingefügt 4. Was die theologische Bedeutung des Illyricus anbelangt, so wird immer wieder deutlich, wo das Hauptproblem liegt, nämlich in der Tatsache, dass der Briefwechsel des kroatischen Theologen weder zusammenhängend erfasst, geschweige denn ediert ist; im 19. Jahrhundert wurden lediglich einzelne Briefe sowie der Briefwechsel mit dem habsburgischen Rat Caspar von Nidbruck gedruckt. So greift der Autor immer wieder auf die Literatur des 19. oder gar 18. Jahrhundert zurück, was nicht befriedigend ist; dafür ein Beispiel, das auch die Problematik der nicht erfassten Korrespondenz zeigt: Olson zitiert in englischer Übersetzung eine Äußerung, in der sich Flacius gegen den Vorwurf der Philippisten wehrt, er habe Handschriften verstümmelt; als Zitatnachweis wird ein Aufsatz Schönemanns von 1843 genannt (S. 276 mit Anm. 92); dies ist aber die deutsche Übersetzung eines offenbar lateinischen Zitates von Flacius, das Schönemann den Braunschweigischen Anzeigen von 1756 entnommen hatte, selbst aber auch nicht hatte nachweisen können. Diese Stelle wie auch andere zeigen, dass Olson zwar die ältere Literatur erschöpfend bibliographiert hat, oft aber über Preger nicht hinauskommt, da es ihm hauptsächlich darauf ankommt, Äußerungen von Flacius selbst wie von Zeitgenossen oder Gelehrten in den Vordergrund zu rücken, die positiv für seinen "Helden" sind. Hier liegt andererseits aber auch der große Gewinn des Buches, das sich flüssig liest: Es ist nämlich ein Plädoyer für den oft verfolgten und verketzerten Theologen, das der geläufigen großen Verehrung für Melanchthon dezidiert entgegengesetzt wird. In der Ablehnung des Illyricus lässt sich dabei auch recht deutlich "Ausländerfeindlichkeit" im 16. Jahrhundert erkennen.

Als Anhang (S. 334 ff.) hat Olson ein Verzeichnis der Werke des Illyricus bis 1557 beigefügt; hier ist allerdings zu fragen, ob die Art und Weise der Päsentation so glücklich ist, denn es ist nicht wie bei Preger chronologisch sondern alphabetisch geordnet nach Titelanfängen der Schriften. Kennt man also den (oft umständlichen) Titel einer flacianischen Schrift nicht, wird es mühsam, ihn bei Olson zu finden.

Das Buch ist mit zahlreichen Schwarzweiß-Abbildungen versehen, die zeigen, dass Olson sich auch beim "Nachleben" seines Helden in Kunst und Literatur auskennt und mit den zeitgenössischen polemischen Darstellungen wie dem von den Gegnern so bezeichneten "Interims-Drachen", der dann auch das Titelblatt schmückt, da das Leipziger Interim auch von Flacius energisch bekämpft wurde.

Die Hauptkritik an dem Buch ist wohl dem Verlag und nicht dem Autor anzulasten, denn die bereits erwähnte Drucklegungszeit von 7 Jahren bedeutet, dass die aktuellste zitierte Literatur von 1994 stammt; dies ist vor allem deshalb ärgerlich, weil der Autor bis zu diesem Datum die neueste (auch entlegene) Literatur benutzt hat, aber natürlich einschlägige nach diesem Jahr entstandene Werke nicht mehr berücksichtigt sind. Wenn außerdem eine solch hohe Zahl an Druckfehlern dazu kommt, eine Karte mit "Bamburg" statt "Bamberg" (S. 187) sowie ein als ziemlich schlampig zu bezeichnendes Register, in dem z.B. "Albrecht of Wallenstein, Duke of Friedland" neben "Amsdorf, Nikolaus von" steht und im Register "Hayabalius monte", wo im Text (S. 236) von "Hayabalins" für frühe Franziskaner die Rede ist, es drei Einträge für "Rhabanus Maurus" gibt, aber der vierte fehlt, weil er im Text (S. 265) "Hrabanus Maurus" geschrieben wird usw., hat man den Eindruck, dass hier die Drucklegung überhaupt nicht betreut wurde, und man kann dem Autor nur wünschen, dass der zweite Teil wesentlich schneller und sorgfältiger lektoriert erscheinen wird.

Alles in allem aber ist das Buch eine wichtige Neuerscheinung für die Diskussion über die bedeutendsten Vertreter der sog. Spätreformation und behandelt einen der interessantesten und umstrittensten Theologen und Humanisten der Zeit.

1 Oliver K. Olson, The "Missa Illyrica" and the Liturgical Thought of Flacius Illyricus, Diss. theol. Hamburg 1966.
2 Oliver K. Olson, Der Bücherdieb Flacius. Geschichte eines Rufmords, Wolfenbütteler Beiträge zur Renaissanceforschung 4 (1981) S. 111-145; ders., Matthias Flacius Illyricus, Theologische Realenzyklopädie 11 (1983) S. 206-214; ders., Flacius Illyricus als Liturgiker, Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 12 (1967) S. 45-69.
3 Wilhelm Preger, Matthias Flacius Illyricus und seine Zeit 1-2, 1859-1861.
4 Vgl. zu dieser Tätigkeit des Flacius inzwischen die Habilitationsschrift der Rezensentin: Martina Hartmann, Humanismus und Kirchenkritik. Matthias Flacius Illyricus als Erforscher des Mittelalters, Stuttgart 2001.

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