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Titel
Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim


Autor(en)
Götz, Norbert
Reihe
Die kulturelle Konstruktion von Gemeinschaften im Modernisierungsprozeß, Bd. 4
Erschienen
Baden-Baden 2001: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
598 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Thomas Etzemüller, Seminar für Zeitgeschichte, Universität Tübingen

Wer Schweden kennt, wird nicht überrascht sein, daß Norbert Götz in seiner Dissertation die nationalsozialistische Volksgemeinschaft und das schwedische Volksheim (folkhem) vergleicht. Schon in den dreißiger Jahren wurde in Schweden diskutiert, was denn nun diese Gesellschaftsordnungen, die beide gleichermaßen auf die Integration des gesamten Volkes setzten, unterscheide — oder annähere. Götz versucht nun im Rahmen des Berliner Projekts „Die kulturelle Konstruktion von Gemeinschaften im Modernisierungsprozeß“ eine Antwort zu geben. Für ihn sind „Volksgemeinschaft und Volksheim strukturell ähnliche Begriffe […], die in derselben Zeitperiode ihre entscheidende Prägung erfahren haben“ (S. 15), und er will „zeigen, wo durch die Begriffe hindurch Linien verlaufen, die destruktive, aber auch klassische von nachhaltigen Modernisierungsvarianten unterscheiden“ (S. 17). Dazu macht er sich die — deutlich gegen „postmoderne Modeströmungen“ (S. 48) gewendete — Begriffsgeschichte Reinhart Kosellecks zu Eigen und verbindet sie mit dem Gesellschaftsmodell Jürgen Habermas‘, das er erheblich modifiziert.

Die Ergebnisse seiner Studie sind vielschichtig, lassen sich in ihrer Essenz aber knapp zusammenfassen. Im ersten Teil untersucht er die komplexe Genese und Verwendung der Begriffe Gemeinschaft und Volksgemeinschaft in Deutschland, ihren Übertritt aus dem demokratischen in das nationalsozialistische Lager, ihre Instrumentalisierung, Ideologisierung und ihr Einsickern in die Rechtssprache, bis hin zur ambivalenten Nutzung der Begriffe in der Nachkriegszeit. Eine ähnlich materialreiche Untersuchung legt er für die Begriffe Volk, Heim und Volksheim in Schweden vor. Hier arbeitet er, obwohl ihre Verwendung natürlich alles andere als uniform ausfiel, als Kern der Begriffe heraus, daß sie für persönliche Beziehungen und existentielle Geborgenheit standen, sowie für „den Traum einer bürgerlichen und harmonischen Gesellschaft — nicht ohne ein utopisches Potential, diese auf dem Weg sozialer Reformen zu verwirklichen“ (S. 201). Mit dem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat verbanden sich Begriff und Utopie des folkhem dann am nachhaltigsten, doch sie blieben umkämpft. Heute wird gerade das utopische Potential gegen die sozialdemokratische Realpolitik der vergangenen Jahrzehnte gewendet, um seine Nichtverwirklichung zu beklagen.

Die Gemeinsamkeit von „Volksgemeinschaft und folkhem als Worten oder begrifflichen Ausprägungen“ macht Götz darin aus, daß sie „sich auf einen latenten Begriff, einen gemeinsamen Sachverhalt oder eine entsprechende Problemstellung beziehen.“ Es handele sich streng genommen um einen „Begriff, der eine gemeinsame Bedeutungsfülle vereinigt“ (S. 279). Götz spricht hier auf fünf Seiten in immer neuen Zusammensetzungen verwirrend von „Idee“, „Bedeutungsspektrum“, „Begriff“ oder „Wort“, doch es wird deutlich, daß mit beiden Begriffen und ihrem inhärenten Versprechen „einer existentiellen Verankerung des einzelnen im kollektiven Rahmen der Nation“ (S. 277) auf „das soziale Phänomen der Ausweitung der Legitimationsbasis von Politik auf breite Schichten des Volkes“ reagiert wurde, „das im zwanzigsten Jahrhundert über Regimegrenzen hinweg ein allgemeines Problem für fortgeschrittene Gesellschaften bedeutete und sowohl auf demokratischem wie auch populistisch-autoritärem Wege angegangen wurde.“ (S. 275)

Im Zweiten Teil beleuchtet Götz am Beispiel der Jugend- und Sozialpolitik in beiden Ländern die entscheidenden Systemunterschiede. Die Volksgemeinschaft bezeichnet er als „konkrete Ordnung“, und er meint damit „die vorgetäuschte Ableitung aus der konkreten und vertrauten Lebenswelt, […] die Heimsuchung der Lebenswelt durch ideologisch abgeleitete Systemimperative, die Totalität des Übertragungsanspruchs auf sämtliche Bereiche der Gesellschaft und die ganze Person“ (S. 287). Das war, in den Worten Habermas‘, eindeutig eine Kolonialisierung der „Lebenswelt“ durch das „System“; Ideologie und Kollektiv rangierten vor den Bedürfnissen der Individuen. Für Schweden dagegen macht Götz ein Politikverständnis aus, „in dem wirklichkeitsorientierte Theoriebildung und Politik dazu beitragen sollten, die lebensweltliche Wirklichkeit lebenswerter zu machen“ (S. 421). Er bezeichnet diese am Wohle der einzelnen orientierte Realpolitik als den „Versuch nachhaltiger gesellschaftlicher Modernisierung“ bzw. als „provisorische Utopie“ (S. 423). Das Volksheim stellte keine pathetisch beschworene Ideologie dar, mit deren Hilfe Individuen unterjocht wurden, sondern eine regulative Idee, die jederzeit verhandelbar war.

Ich stehe diesen Ergebnissen sehr skeptisch gegenüber. Ich halte sie weniger für falsch denn für einseitig, weil Götz das schwedische Modell zu stark idealisiert. Das liegt an der Theoriewahl, dem Gegenstand und der Methode. Götz geht von einem idealtypischen Gesellschaftsmodell aus, das zwischen „System“ (Wissenschaft, Staat, Wirtschaft) und „Lebenswelt“ (Gemeinschaft, Persönlichkeit, Kultur) trennt. Die Beziehung zwischen beiden Sphären kann auf zwei Weisen erfolgen: Entweder kolonialisiert das „System“ die „Lebenswelt“ oder es findet ein Austausch statt, indem das „System“ den „Systemdiskurs“ von unten nach oben, die Bedürfnisse der „Lebenswelt“, wahrnimmt und in seine „Lebensweltpolitik“ von oben nach unten einbaut. Das ist ein „Kreislaufmodell gesellschaftlicher Rationalität“ (S. 61). Vergleicht man auf diese Weise Nationalsozialismus und Schweden, so ist das Ergebnis geradezu vorgezeichnet. Götz immunisiert sich zusätzlich durch die Methode, denn er baut in erster Linie auf programmatische Texte, nicht auf einer Analyse der gesellschaftlichen Praktiken bzw. der schwedischen Mentalität. Auf diese Weise kann er hinreichend Nachweise anführen, Politikerzitate, Organisationsstatuten usw., mit denen sich mühelos die Distanzierung des schwedischen „Systems“ vom Nationalsozialismus und das Bestreben, Politik flexibel an den Bedürfnissen der Mitbürger zu orientieren, belegen lassen.

Götz arbeitet mit Recht die erstaunliche Dynamik und Flexibilität des schwedischen Systems heraus, diesen Willen, durch immer neue staatliche Untersuchungen Mißstände aufzuspüren und zum Wohle der Gesellschaft zu beheben. Das macht dieses Land in der Tat zu einem faszinierenden Modellfall. Wie aber würde das Ergebnis ausfallen, wenn man das folkhem mit den amerikanischen Levittowns oder Gated Communities vergliche 1, Michel Foucaults Theorie der „Normalisierungsgesellschaft“ zu Grunde legte und die schwedische Mentalität analysierte?
Das schwedische politische System zeichnet sich seit den dreißiger Jahren endgültig durch einen extremen Korporatismus, die Einbindung möglichst aller gesellschaftlichen Gruppen in Gesetzgebung wie die Arbeit der ausführenden Verwaltungen aus. Das verschafft diesem System eine hohe Legitimität, weist aber auch eine Kehrseite auf. So ist die Gewaltenteilung in manchen Bereichen geradezu abschafft: Oft entscheiden die ausführenden Behörden auch letztinstanzlich über Widersprüche der Betroffenen. Zudem haben Staat und Behörden im Namen der Gesellschaft ein weitgehendes, kontrollierendes und disziplinierendes Zugriffsrecht auf die Individuen. Das ist in dem extrem kollektivistischen Gesellschaftsmodell, das der schwedischen Mentalität seit dem 19. Jahrhundert eingeschliffen worden ist, begründet. „Skötsamhet“, „att inte göra bort sig“, „lagom“, „bråka inte“ sind nur einige der stehenden Redewendungen, die diese Mentalität kennzeichnen: Man muß sich richtig benehmen, man darf nicht auffallen, man muß das Maß halten, man darf nicht streiten. Ein enges Netz mitmenschlicher und staatlicher Kontrolle wird über die Individuen geworfen und Abweichungen werden geahndet, nicht durch „Ausmerze“, sondern durch „Normalisierung“. Wer aus dem eng gezogenen Rahmen gesellschaftlicher Konventionen fällt, wird ausgegrenzt oder, in erzieherischer und durchaus humanitärer Absicht, wie ein verlorenes Schaf heimgetrieben und den anderen wieder angeglichen, notfalls mit Zwang. Dazu gibt es Untersuchungen 2, und auch heute noch begegnet man in den Zeitungen tagtäglich den Facetten dieses tief verankerten Selbstverständnisses.
Diese normalisierende Kehrseite des folkhem taucht bei Götz am Rande zwar immer wieder auf, etwa wenn er den doppeldeutigen Begriff „folkhemskhet“ (Volksheimischkeit und Volksgräßlichkeit) zitiert (S. 258). Aber er spürt dieser Zweischneidigkeit der schwedischen Gesellschaftsverfassung nicht genauer nach. So ist es kein Zufall, daß er ein Teilkapitel mit „Das Recht auf soziale Sicherheit“ überschreibt und vergißt, daß dem in den Augen der Sozialdemokratie die unbedingte Pflicht des einzelnen zur „ordentlichen Lebensführung“ korrespondierte. Er übersieht, daß die seit einiger Zeit bekannt gewordenen Zwangssterilisierungen kein bloßer „Härtetest“ waren, den das System ausnahmsweise nicht bestanden hatte, sondern unlösbar zur folkhem-Mentalität gehören. Er schaut auf die Verwendung von Worten, nicht aber darauf, wie sie verstanden wurden. Das Wort „alle“ habe Per Albin Hansson „fast immer ohne einschränkende Zusätze verwendet“ (S. 224). So ist es — doch Hansson meinte ausschließlich alle, die sich ordentlich in die Gesellschaft einpaßten, und das mußte er selten ausdrücklich betonen. Immer wieder segelt Götz auf diese Weise scharf an den eigentlichen Problemen vorbei: Utilitaristisches Denken sei in Schweden problematisch gewesen, rassische Ausgrenzungen hätten jedoch keine Rolle gespielt. Dabei ist es nach wie vor die Kontrolle und Korrektur schwedischer Bürger, die diesem utilitaristischen Denken entspringt, und das gibt auch dem schwedischen Modell einen Hauch von Totalitarismus — nicht auf der ideologischen Ebene, sondern auf der der Lebensführung. Die „Lebenswelt“ wird nicht durch das „System“ kolonialisiert, sondern beide dressierten sich in einem langen Prozeß gemeinsam selbst, das kann man an der Lebensführung selbst der „Götter in Weiß und Nadelstreif“, der anmaßend-machtherrlichen Eliten (S. 536), nachweisen.

Götz ist bei seiner wichtigen Untersuchung auf halben Wege stehen geblieben. Er hat Schweden durch die Kontrastierung mit dem Nationalsozialismus als ideale Gesellschaft beschrieben, aber er hat den Preis nur angedeutet, der für das vorbildhafte schwedische Modell noch heute gezahlt wird. Ihn erfährt man nur, wenn man die „civil society“ Schweden zugleich als „Normalisierungsgesellschaft“ sieht, und aus dieser Sicht ist die Affinität zu disziplinierenden resp. normalisierenden Gesellschaftsentwürfen deutscher oder amerikanischer Prägung größer als Götz das zugestehen will.

Anmerkungen:
1 Auch in Schweden beginnen sich die ersten Stadtteile einzumauern, etwa in Malmö.
2 Vgl. nur Yvonne Hirdman, Att lägga livet till rätta (1989/2000, über die Normalisierungsgesellschaft); Inger Knobblock, Systemets långa arm (1995, über die vor allem Frauen disziplinierende Wirkung der staatlichen Alkoholpolitik); Maija Runcis, Steriliseringar i folkhemmet (1998, über die vor allem Frauen disziplinierende Sterilisierungspolitik); Åke Daun, Svensk mentalitet (1989 u.ö., über die schwedische Mentalität); Eva Palmblad, Den disciplinerade reproduktionen (2000, über die disziplinierende Wirkung der Geburtenkontrolle).

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