Titel
Goethe und Frau von Stein. Geschichte einer Liebe


Autor(en)
Koopmann, Helmut
Erschienen
München 2002: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
282 S.
Preis
€ 19.90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Benedikt Jeßing, Germanistisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

An kaum einer »Liebes«-Beziehung Goethes hat sich spekulative Energie oder gar biographischer Voyeurismus stärker entzündet als an seiner das erste Weimarer Jahrzehnt gewiss dominierenden Freundschaft zu Charlotte von Stein – eine Beziehung, die in einer einzigartigen Sammlung von rund 1800 Briefen aus der Feder Goethes dokumentiert ist. Hier liegt allerdings auch das (mehr als philologische) Problem: Nur die Briefe Goethes sind überliefert, kein einziger Antwortbrief ist erhalten, das Wenigste ist auch an anderen Dokumenten über den (gemeinsamen) Alltag Charlottes von Stein und Goethes überliefert. Außerhalb der Briefe Goethes ist der Biograph tatsächlich auf weitgehende Spekulation angewiesen – und der Literaturwissenschaftler wird auf dasjenige zurückverwiesen, was sein eigentliches Geschäft ist: Die analytische Erarbeitung der überlieferten sprachlichen, eventuell sogar literarischen Dokumente.

Und genau diese literarisch-stilistische Arbeit steht auch im Zentrum von Koopmanns Buch, hier zumindest hat es seine stärksten Seiten! Insgesamt liefert Koopmann jedoch mehr: Der Band ist eine biographische Goethe-Erzählung, die sich den spezifischen Fokus der Beziehung Goethes zu Charlotte von Stein wählt – und die mit diesem Fokus allerdings Goethes Biographie von 1775-1827 umreißt, mithin fast eine vollständige biographische Erzählung von Goethes gesamtem Weimarer Aufenthalts! Dieser aber wird, gerade als Funktion der radikalen Fokussierung auf die Briefe an, die Beziehung zu Charlotte von Stein, mindestens erheblich verkürzt, vereinseitigt. So werden etwa alle Krisenerfahrungen des ersten Weimarer Jahrzehnts der problematischen »Liebe« zu der älteren und verheirateten Hofdame zugerechnet – in dieser scheinbaren Monokausalität gewiss ungenau, wenn nicht gar unrichtig.

Koopmann beginnt seine Erzählung gleichermaßen kultur- wie literaturgeschichtlich: Sehr schön bettet er die Anfänge der gegenseitigen Kenntnisnahme ein in eine Kulturgeschichte des Schattenrisses und deren physiognomischer Auslegung. Als Kontrastfolie zur Briefsprache gegenüber Charlotte von Stein widmet Koopmann breiten Raum dem »Liebes«-Briefschreiber Goethe vor dem Weimar-Aufenthalt: In präziser stilistischer Analyse arbeitet er die spezifische Stillage der Briefe an Auguste zu Stolberg heraus – und auch deren Differenz zu denen an Charlotte von Stein. Er unterschätzt aber die Tatsache, dass hier gar nicht Goethe als historische Person an Auguste als historische Person schreibt, sondern der berühmte Werther-Autor an eine sympathisierende Werther-Leserin – in diesem stilistischen Fahrwasser bewegen sich die Briefe, sie sind eher Teil eines literarischen Diskurses als Teil einer tatsächlich lebendigen Briefkultur. Die literarische Inszenierung der Schreibenden (v.a. des schreibenden Goethe) als auch des Briefwechsel wird zu wenig betont. Auch setzt Koopmann eine historische Empfindsamkeitskultur hinter den Briefen als deren Ergehensbedingung – wobei doch diese spezifische Empfindsamkeit erst durch die Briefe selbst, nämlich diskursiv modelliert wird.

Und diese Tatsache würde die Differenz noch schärfer wahrnehmbar machen, die zwischen den Auguste-Briefen und denen an Frau von Stein sichtbar ist: Hier fehlt (scheinbar?) jede literarische (Selbst-)Inszenierung im Sinne der Auguste-Briefe – zumindest entsteht eine völlig neue Literarizität der Stein-Briefe. Eine neuer Ton tritt ins Wort, an die Stelle der selbstgewissen (fiktiven) Identität des Werther-Autors tritt die Notwendigkeit einer persönlichen Stabilisierung durch die ältere Frau. Koopmann liefert eine sehr genaue und anschauliche sozialgeschichtliche und biographische Erzählung von Goethes ersten Jahren in Weimar, in denen die entstehende Bindung an Frau von Stein eine immer größere, wichtigere, geradezu erzieherische Position bekommt. Die Stilisierungen, die Charlotte von Stein sowohl in Gedichten als auch in »Liebes«-Briefen erfährt, werden klug erarbeitet – wenngleich der Erzähler die eigene Rolle zu häufig hinter bloßer Moderation bzw. Paraphrase der Briefe Goethes versteckt. Die Aufs und Abs, die Beteuerungen und Missverständnisse, Fluchtgefühle, und Vergötterungen, die aus den Briefen Goethes sprechen, werden deutlich herausgearbeitet.

Allerdings bricht die genaue literaturwissenschaftliche Analyse dieser neuen Goetheschen Liebessprache – aus Ermangelung jeden anderen Dokuments – zu häufig wieder in die übliche Spekulation um: Die Vermutungen, daß es »sicherlich auch stumme Zeichen […], Umarmungen und nicht-rhetorische Küsse« (142) gegeben habe, läßt sich leider nicht beweisen – ist leider eine romantisch-inspirierte Lieblingsillusion von Goethe-Biographen, mehr nicht. Richtig ist allerdings wohl, wieder mit genauem Bezug auf das Text-Korpus, das Koopmann untersucht, die zunehmende Isolation, in die Goethe sich in seiner (Brief-)Beziehung hineinschreibt, die bis ins Religiöse stilisierte Ausschließlichkeit, mit der sich diese Brief-Liebe darstellt. Eine krisenhafte Aporie, der schließlich nur die Flucht nach Italien Abhilfe schaffen kann. Falsch liegt Koopmann wohl, wenn er diese Krise monokausal auf Charlotte von Stein bezieht, sie ist gewiss nur ein Bruchstück des Krisenkomplexes, der Goethe nach Italien treibt.

Überzeugend ist wiederum, wie Koopmann mit Blick auf das Brieftagebuch von der Italienischen Reise die radikale Veränderung in der brieflichen Rede Goethes herausarbeitet: Aus der literarisch umgesetzten und stilisierten (»Liebes«-)Zuwendung wird die Adressierung an eine Leserin. Charlotte wird gleichsam Teil des Goetheschen Lesepublikums. Die Folgen dieses notwendigerweise von Charlotte als »Liebesverrat« (vgl. S. 207ff.) zu verstehenden Bruchs verändern das gesamte Weimarer Umfeld Goethes – inklusive seiner erotischen Bindung an Christiane Vulpius: Böse Briefe wechseln ins Haus der Stein hinüber – von Koopmann wohl richtig als Abrechnung identifiziert (vgl. 238) – ebenso wie die Schmähungen des »dicken Geheimraths« durch die ehemalige Freundin (244). Hier wird der Biograph (zu) eindeutig Partei: Für Charlotte von Stein, gegen Goethe – verständlich zunächst, allerdings tatsächlich nur, wenn man das erste Weimarer Jahrzehnt, die Flucht nach Italien und die zwei Jahrzehnte äußerster Distanz (bis zur relativen Wiederannäherung nach 1809) so ausschließlich auf Goethes Beziehung zu Frau von Stein reduziert. Hier wird die biographische Haltung Opfer ihres ausschließlichen Blicks, nirgends ist von der (wohl mehr und mehr bedrückenden) Unproduktivität Goethes als Schriftsteller bis 1786 die Rede, nirgends genügend von der Überbordung durch administrative Pflichten am Hof. Mit seiner Parteinahme gegen Goethe reiht Koopmann Charlotte von Stein ein in die (anscheinend beliebig verlängerbare) Reihe von Goethes »Opfern«, auf die Tilmann Jens 1999 schon seinen polemischen Blick gelenkt hatte.

Insgesamt legt Koopmann hier einerseits ein gut geschriebenes, lesenswertes Buch vor, das eine entscheidende Periode der Biographie Goethes aus einem einzigen (aber zu engen.) Blickwinkel erzählt, diese bis ins letzte Detail auch Nicht-Literaturwissenschaftlern zugänglich und nachvollziehbar macht. Andererseits kann er sich der Spekulationslust nicht erfolgreich erwehren: Zu zahlreich sind die Vermutungen und bloß einfühlend deutenden Passagen dort, wo die Dokumente längst schweigen. Einige Beispiele: »Vermutlich ist das, was Goethe in der Begegnung mit Charlotte von Stein erlebt hat, ein Sturm gewesen, der alles hinwegriß, was zu den alltäglichen Sicherungen gehörte.« (63); »Zu großen seelischen Exaltationen ist die Person, die Goethe gezeichnet hat, wohl nicht fähig ...« (Kommentar zum Charlotte-Portraits S. 100). Wo kein Dokument mehr vorliegt, häuft der Erzähler Fragen über Fragen (136 u.ö.). Problematisch sind zudem die zu eindeutigen Zuordnungen Charlottes von Stein zu literarischen Figuren: Iphigenie (108), Leonore (134), ungenau ist Charlottes Bestimmung als ›literarisch-produktionssteigernd‹ (vgl. etwa 179), hat Goethe doch im ersten Weimarer Jahrzehnt kein großes literarisches Projekt tatsächlich vollenden können. Das gelang erst im Abstand von Weimar, in Italien, und, dort wie später auch in Weimar, erst in der Distanz von Charlotte von Stein.

Das Fazit Koopmanns – im Rückblick auf 1800 Briefe sowohl als auch auf die eigene biographische Erzählung – die Briefe seien zu verstehen als »ein Versuch, sich literarisch neu zu legitimieren, nicht als Dichter oder Schriftsteller [wie in den Briefen an Auguste], sondern als Briefschreiber, […] sich selbst, seiner Gefühlswelt und deren Ausdruckmöglichkeiten gegenüber« (273) klingt paradox. Die Differenz, die hier zwischen einem Schriftsteller Goethe und dem gleichnamigen Alltagsmenschen, der in den Briefen an Frau von Stein spreche, aufgemacht wird, erscheint allerdings nicht plausibel genug – vor allem mit Blick auf die offensichtliche literarische Stilisierung der Briefe. Kein Werther-Autor ist es mehr, der hier schreibt, aber ein Autor Goethe allemal.

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