U. Reuling (Hg.): Landesgeschichtsforschung

Titel
50 Jahre Landesgeschichtsforschung in Hessen.


Herausgeber
Reuling, Ulrich; Winfried Speitkamp
Reihe
Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 50
Anzahl Seiten
421 S.
Preis
€ 37,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Weichlein, Institut für Geschichtswissenschaften, Lehrstuhl für Neueste Geschichte, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Genitiv macht auch in der Landesgeschichte den großen Unterschied. Ist die Landesgeschichte die Geschichte des Landes oder hat ein bestimmtes Land eine Geschichte. Ist die Landesgeschichte die Geschichte der räumlichen und regionalen Dimension von Gesellschaft - oder hat ein bestimmtes Staatsterritorium eine Geschichte? Wird die Region staatlich gedacht, oder wird Gesellschaft in räumlichen Bezügen gefaßt? Beide Modelle fanden sich in der Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts. Bis in die 1970er Jahre herrschte grob gesprochen der identitätsstiftende Bezug auf die staatlich verfaßte Region vor. Erst danach wurde die Kategorie ‚Raum‘ für die Geschichte wiederentdeckt, nachdem sie lange Zeit durch die ‚Blut und Boden‘ Ideologie als infiziert und unbrauchbar galt. Eine breite theoretische und methodische Literatur belegt den Wandel der Territorialgeschichte zur modernen Regionalgeschichte, die sich hin zur Struktur-, Alltags-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte öffnet [1]. Das Explanandum moderner Regionalgeschichte ist nicht die Einzelstaatlichkeit, sondern die sozialen und kulturellen Identifikationsprozesse auf mehreren Ebenen und ihr Wandel. Die Frage an eine jede Landesgeschichte muß daher zugespitzt lauten: Bleibt Landesgeschichte Territorialgeschichte oder ist sie moderne Regionalgeschichte?

Die gesamte Geschichtswissenschaft debattiert diese Fragen. Die gesamte Geschichtswissenschaft? Nein, mitten in Deutschland hört die hessische Landesgeschichtsschreibung nicht auf, der modernen Regionalgeschichte Widerstand zu leisten. An der hessischen Landesgeschichtsschreibung scheint die Diskussion der Methoden und Begriffe von moderner Landesgeschichte fast spurlos vorbei gegangen zu sein. Ihr beklagenswerter Zustand wird jetzt durch den Jubiläumsband des ‚Hessischen Jahrbuches für Landesgeschichte‘ zu 50 Jahren Landesgeschichtsschreibung in Hessen dokumentiert. Mit drei bemerkenswerten Ausnahmen (Holger Th. Gräf, Winfried Speitkamp und Hans-Werner Hahn) stellt sich der Band ganz unverhohlen auf den Standpunkt der regional-staatlichen Identitätssicherung. Trotz der nachhaltigen methodischen Erinnerungen durch Peter Steinbach [2] in ihrem eigenen führenden Organ stieß die hessische Landesgeschichte nach 1970 nicht zum Begriff der ‚Region‘ vor, sondern orientierte sich am Leitbild der staatlich geschlossenen Region. Die historische Staatlichkeit bildete die Analyseebene nicht nur für das Bundesland Hessen, sondern auch für die historische Vielfalt der älteren hessischen Länder. Nach Hellmut Seier fragt etwa die kurhessische Landesgeschichtsschreibung, „warum Kurhessen keine in sich geschlossene Geschichtslandschaft wurde, weshalb sein Staat mehr als die Nachbarländer in Verruf geriet, aus welchem Grunde seine Staatlichkeit gefährdet war, lange bevor die Annexion sie beseitigte“ (319).

Der Jubiläumsband zu fünfzig Jahren hessischer Landesgeschichtsschreibung belegt in doppelter Weise ihre Verweigerung gegenüber der modernen Regionalgeschichte: durch das, was er als Ergebnisse schildert, und durch das, was er übergeht. Am Anfang stehen Beiträge, die der Sache noch nach am ehesten der Raumforschung nahekommen. Naturgemäß konzentrieren sich Archäologie, Siedlungsforschung, Stadtgeschichte, Numismatik, sprachliche Landesforschung und Volkskunde am wenigsten auf staatlich verfaßte Territorien. Ihnen folgen Beiträge zur Frühneuzeitforschung, zu Kurhessen zwischen 1815 und 1866, zu Nassau, zur Industrialisierung, zu den hessischen Juden und zu Hessen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Die vorgestellten Forschungsleistungen richteten sich ganz überwiegend auf die Analyseebenen Staat, Stadt und Dynastie. Ganz am Rande und nurmehr für die frühe Neuzeit (Holger Gräf) werden so maßgebliche Faktoren für die Konstituierung regionaler Identität wie Religion und Konfession vorgestellt. Schule und Bildung, Medien und Arbeitswelt fehlen gänzlich: wohl auch deshalb, weil sie andere Raumbezüge nahegelegt hätten. Epochal weist der Band ebenfalls erhebliche Lücken auf. Der Leser vermißt Erträge zum Kaiserreich genauso wie zur Geschichte des Kunstgebildes Hessen nach 1945.

Holger Gräf, Winfried Speitkamp und Hans-Werner Hahn benennen offen die personellen, inhaltlichen und politischen Ursachen für diese Verkürzung der Landesgeschichte. Da ist erstens das peinliche Beschweigen der eigenen Vergangenheit. Dies fällt besonders deutlich beim hessischen Landeshistoriker Ferdinand Werner auf, der schon im Kaiserreich radikaler Antisemit war. 1933 wurde er NSDAP-Fraktionsvorsitzender im Darmstädter Landtag, bald danach Staats- und Ministerpräsident. Nach 1945 blieb er führendes Mitglied der Darmstädter Historischen Kommission [3]. Der Leiter des Staatsarchivs Darmstadt sah in ihm noch 1961 einen „idealistischen Vorkämpfer des Nationalsozialismus“. Eine Abrechnung oder auch nur eine offene Distanzierung vom Nazitum fand in der hessischen Landesgeschichte nur in den wenigsten Fällen statt. Im Gegenteil: „Manchmal möchte man den Schleier der Vergessenheit darüber werfen“, wie der Darmstädter Archivleiter sich ausdrückte (264).

Wie erfolgreich diese Strategie war, bewies die Personalpolitik an der Spitze der hessischen Staatsarchive in Darmstadt und Marburg. Auch wenn man selbstverständlich nicht die Söhne für die Väter verantwortlich machen kann, so fällt doch die Häufung von personellen und familiären Kontinuitäten auf. Eckhart G. Franz, langjähriger Leiter des Darmstädter Staatsarchivs, war der Sohn des nationalsozialistischen Rasseideologen Günter Franz [4] und Wilhelm Alfred Eckhardt, Leiter des Marburger Staatsarchivs, war der Sohn des nationalsozialistischen Rechtshistorikers Karl August Eckhardt. Mehr noch: man blieb unter sich, sozusagen en famille. Der Rasseideologe Günter Franz war der Schwager des Rechtshistorikers Karl August Eckhardt, der neben seinen zahlreichen Veröffentlichungen in der mittelalterlichen Rechtsgeschichte Schulungsleiters im SS Sturm und Untersturmführer beim Persönlichen Stab des Reichsführers SS war [5]. Eckhardt war 1919 dem berüchtigten Marburger StoKoMa (= Studentenkorps Marburg) beigetreten, das für die Mechterstädter Morde am 25. März 1920 verantwortlich war. Die Marburger Studenten erschossen 15 radikalisierte thüringische Arbeiter „auf der Flucht und in dichtem Nebel.“ [6]

Die Stagnation in der hessischen Landesgeschichte betraf zweitens auch die Wirtschaftsgeschichte. Die politische Erfolgsgeschichte Hessens nach 1945 kontrastierte zur relativ späten und zudem extrem ungleichmäßigen industriellen Entwicklung der hessischen Länder im 19. Jahrhundert, die bisher nur geringes landeshistorisches Interesse fand. Während zum Pauperismus im frühen 19. Jahrhundert eine ganze Reihe von Studien existieren, liegt die Wirtschaftsgeschichte der hessischen Regionen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bisher noch weitgehend im Dunkeln und erreicht bei weitem nicht den Stand der Forschungen zum Rheinland, zu Westfalen, Sachsen, Berlin, Baden oder Württemberg.

Die methodische Abschottung der hessischen Landesgeschichte gegenüber allen neueren Differenzierungsleistungen in der Regionalgeschichte blieb - drittens - mitnichten auf konservative Historiker beschränkt. Sie wurde auch von linken Antifaschisten geteilt. Die „linke“ hessische Widerstandsforschung zum Nationalsozialismus übernahm zwar die Begriffe ‚Widerstand‘ und ‚Widerständigkeit‘ aus dem Bayern-Projekt Martin Broszats, moralisierte sie aber und verkehrte so die Erkenntnisabsicht Broszats in ihr Gegenteil: Nicht mehr die Mischungsverhältnisse aus Konsens und Dissens, von Anpassung und Verweigerung, von partieller Zusammenarbeit und widerständigem Verhalten standen im Mittelpunkt der umfangreichen Literatur zum Widerstand in Hessen. Es überwog statt dessen das Bemühen, eindeutig zwischen dem antifaschistischen Widerstand und dem NS-Regime zu unterscheiden, um so eine feste moralische Basis für die politische Identität in der Region zu gewinnen. Das Nachkriegshessen konnte so an das „gute Hessen“ des Widerstandes anknüpfen. In dieser „heuristischen Moralfalle“ - so Winfried Speitkamp (377) - wurde die wissenschaftliche Arbeit über die Zeitgeschichte vor 1945 zur politischen Arbeit an der Zeitgeschichte nach 1945.

Diese vermeintlich linke hessische Identitätsstiftung reichte über den Antifaschismus als Legitimationsideologie hinaus. Auch die Verfassungsgeschichte der hessischen Staaten im 19. Jahrhundert war vor ihr nicht sicher. Die Verfassungen der hessischen Staaten wurden dort, wo sie liberal waren, kurzerhand zur Vorgeschichte der groß-hessischen Einigung von 1945 umstilisiert. Die Fixierung auf aktuelle Identitätsbedürfnisse schreckte selbst vor Anachronismen nicht zurück. 1999 erinnerte ein landesgeschichtlicher Band an die „Revolution von 1848/49 im Bundesland Hessen“ (sic!) [7]. Und das Leben ist nicht leicht für die regionalgeschichtlichen Legionäre, die als Besatzung in den befestigten Lagern ringsum liegen ...

Anmerkungen
1. Aus der kaum mehr überschaubaren Literatur vgl. u.a. Werner Buchholz (Hg.), Landesgeschichte in Deutschland. Bestandsaufnahme, Analyse, Perspektiven, Paderborn 1998; Heinz-Werner Wollersheim, u.a. (Hg.), Region und Identifikation, Leipzig 1998; Vom Patriotismus zur regionalen Identität. Aspekte einer Neucodierung regionaler Verortung während der Sattelzeit der Moderne am Beispiel des Siegerlandes, in: Edwin Dillmann (Hg.), Regionales Prisma der Vergangenheit. Perspektiven der modernen Regionalgeschichte (19.20. Jahrhundert), St. Ingbert 1996, 275-300; Gerhard Brunn (Hg.), Region und Regionsbildung in Europa. Konzeptionen der Forschung und empirische Befunde, Baden-Baden 1996.
2. Vgl. Peter Steinbach, Regionale Parteigeschichte, historische Wahlforschung und moderne Landesgeschichte. Bemerkungen zu einigen Neuerscheinungen, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 26. 1976, 200-66; ders., Zur Diskussion über den Begriff ‚Region‘ - eine Grundsatzfrage der modernen Landesgeschichte, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 31. 1981, 185-200.
3. Vgl. J.-P. Jatho, Dr. Ferdinand Werner. Eine biographische Skizze zur Verstrickung eines völkischen Antisemiten in den Nationalsozialismus, in: Wetterauer Geschichtsblätter 34. 1985, 181-224.
4. Vgl. Günter Franz, Der dreißigjährige Krieg und das deutsche Volk. Untersuchungen zur Bevölkerungs- und Agrargeschichte, Jena 1. Aufl. 1940.
5. Vgl. Hermann Nehlsen, Nekrolog Karl August Eckhardt, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte der Savigny-Stiftung Germanistische Abteilung 104. 1987, 497-536, 507.
6. Vgl. Siegfried Weichlein, Studenten und Politik in Marburg. Die politische Kultur einer Universitätsstadt 1918 - 1920, in: Peter Krüger u. Anne C. Nagel (Hg.), Mechterstädt - 25.3.1920. Skandal und Krise in der Frühphase der Weimarer Republik, Münster 1997, 27-43, 41.
7. Vgl. K. Böhme u. B. Heidenreich (Hg.), „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Die Revolution von 1848/49 im Bundesland Hessen, Wiesbaden 1999.

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