E. Blauert: Gauner- und Diebslisten

Titel
Gauner- und Diebslisten. Registrieren, Identifizieren und Fahnden im 18. Jahrhundert. Mit einem Repertorium gedruckter südwestdeutscher, schweizerischer und österreichischer Listen sowie einem Faksimile der Schäffer'schen oder Sulzer Liste von 1784


Autor(en)
Blauert, Andreas; Eva Wiebel
Reihe
Studien zur Policey und Policeywissenschaft
Erschienen
Frankfurt/M. 2001: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Hatje, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Seit den Arbeiten von Eric Hobsbawm und Carsten Küther – außerhalb der wissenschaftlichen Welt auch schon früher – umgibt Räuberbanden und Gaunertum der Nimbus des Sozialrebellentums, verbindet sich mit ihnen die Vorstellung einer Gegengesellschaft. Die Faszination scheint mittlerweile etwas nachgelassen zu haben. In der Forschung stehen andere Ansätze im Vordergrund. Die Sozialgeschichte richtet ihr Augenmerk auf Bettler und vagierende Unterschichten einerseits sowie obrigkeitliche Repressionspolitik und ihre Durchsetzungschancen andererseits. Die Kriminalitätsgeschichte schärft den Blick für die soziale Konstruiertheit der Kategorie „Verbrechen“ und zeigt die Potentiale auf, aus dem gerichtsnotorischen Umgang mit deviantem Verhalten etwas über das „Normale“ zu erfahren, und die neueren Forschungen zur „Policey“ betonen die interaktiven, kommunikativen Prozesse zwischen Untertanen und Obrigkeit. Diese Ansätze und Einsichten haben offenbar Andreas Blauert und Eva Wiebel dazu veranlaßt, sich von diesem Forschungsstand her erneut mit dem Gaunertum zu beschäftigen. Von Sozialromantik findet sich bei ihnen denn auch keine Spur. Sie wollen vielmehr zu einer differenzierten Beschäftigung mit dem Quellencorpus der Gauner- und Diebslisten in drei Richtungen anregen: 1. hinsichtlich der Beziehungsnetze im Milieu, 2. im Hinblick auf eine Geschichte der Personenerfassung, ?identifizierung und -fahndung, und 3. im Kontext obrigkeitlicher Randgruppenpolitik. Die einleitende Darstellung bietet dazu nicht nur eine instruktive Einführung in die Quellengattung, sondern auch erste Auswertungen und weiterführende Perspektiven.

Die Mitte ihres Buches bildet ein Repertorium von 122 Gauner- und Diebslisten aus dem Schwäbischen Reichskreis (60), der Deutschschweiz (60) und dem Vorarlberg (2), die zwischen 1692 und 1812 gedruckt wurden und rund 15.000 Personenbeschreibungen enthalten. Blauert und Wiebel äußern die begründete Hoffnung, daß dieses Repertorium Vollständigkeit beanspruchen kann. Dies gelte nicht für ihre Liste ungedruckter Gauner- und Diebslisten. Ein Drittel der Gauner- und Diebslisten entstand zwischen 1770 und 1790 vorwiegend in Klein- und Kleinstterritorien als „Nebenprodukt“ von Inquisitionsprozessen. Abgesehen von der Unterschiedlichkeit der Listen in Form, Umfang, Systematik und Informationsdichte steht, wie Blauert und Wiebel betonen, einer sozialstatistischen Auswertung vor allem der Entstehungszusammenhang entgegen. Denn es handelt sich um Angaben von Angeklagten mit „selektivem“ Erinnerungsvermögen, von einem Beamten protokolliert und später systematisiert, gegen Ende des 18. Jahrhunderts zudem mithilfe anderer Informationsquellen korrigiert und ergänzt. Wie eine solche Liste in der Praxis zustande und bei weiteren Ermittlungen zum Einsatz kam, erläutern Blauert und Wiebel detailliert und anschaulich am Beispiel des Oberamtmanns Georg Jacob Schäffer und seiner berühmten „Sulzer Liste“ von 1784, die im dritten Teil des Bandes als Faksimile wiedergegeben wird.

Hinsichtlich ihrer Funktion dürften, so Blauert und Wiebel, die Gaunerlisten nicht mit Steckbriefen verwechselt werden. Ihrer Genese nach, die in der Einleitung ausführlich behandelt wird, seien sie zwar verwandt. Doch unterstellt man, daß die Gaunerlisten wie die Steckbriefe dazu gedient hätten, nach flüchtigen Verbrechern zu fahnden, ergeben sich Probleme. Warum wurden Sammellisten kompiliert, die abgesehen von ihrer Unhandlichkeit auch noch einen Ballast von veralteten Daten aufwiesen? Warum die z. T. frappante Detailfreudigkeit jenseits des Signalements? Warum kursierten sie nur in Amtsstuben und allenfalls bei Torwachen? Blauert und Wiebel sehen die Lösung darin, daß die Gauner- und Diebslisten nicht primär für die Fahndung bestimmt waren, sondern als Hilfsmittel zur Identifizierung Verdächtiger, die bei ihrer Verhaftung ihre Identität zu verschleiern versuchten, und vor allem als Vernehmungs- und Untersuchungshilfe. Die in den Gaunerlisten enthaltenen Materialsammlungen – neben den Beschreibungen körperlicher Merkmale, unveränderlicher Kennzeichen und Kleidung enthalten sie Details zu bevorzugten Begleitpersonen und Aufenthaltsorten, Verhaltensweisen und Delikten – sollten zeitraubende Auskunftsersuchen entbehrlich gemacht werden. In den Generallisten des späten 18. Jahrhunderts schließlich kam nicht nur der Wille zur Gesamterfassung einer als gefährlich eingestuften Bevölkerungsgruppe, sondern auch schon die Tendenz zur „ethnographischen Erforschung einer kriminellen Lebenswelt“ (S. 56) zum Ausdruck.

Sozialgeschichtlich bieten die Gaunerlisten wichtiges Material zur Rekonstruktion des Milieus der Vagierenden, wie Blauert und Wiebel demonstrieren. Sie zeigen partnerschaftliche und familiäre Beziehungen von hoher Konstanz in kleinen Gruppierungen auf, zwischen denen wiederum lose Verbindungen unterhalten werden. Innerhalb der durchweg kleinen Gruppierungen bestehe eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die auch den mit 40 % hohen Frauenanteil in den Listen erklärt: Die Frauen übernahmen mit Kleindelikten die Überlebenssicherung der Gruppe, während die Männer größere „Unternehmungen“ durchführten. Die Listen bestätigen ferner den hohen Selbstrekrutierungsgrad des Milieus und die regional begrenzte Mobilität der erfaßten Personen.

Von den sozialgeschichtlichen Einsichten her plädieren Andreas Blauert und Eva Wiebel für eine Reihe von Revisionen am immer noch vorherrschenden Bild. Die Vielfalt von Existenzformen, die im 18. Jahrhundert unter dem Begriff „Jauner“ zusammengefaßt würden, und der Umstand, daß „Jauner“ und „Vagant“ im Südwesten des Reichs meist synonym waren, mache deutlich, daß die um 1800 einsetzende Begriffsverengung den Blick darauf verstellt habe, daß es sich um ein Milieu handelte, in dem die Grenzen zwischen Bettler, Kleinkriminellem und Dieb fließend waren. Ebenso bezeichnet der Begriff der „Bande“ zeitgenössisch eher eine kleine Gruppe oder eine regionale Jaunerbevölkerung ohne nachweisbare Gruppenstruktur, die über kurzfristige, lockere Assoziationen hinausging. Die berüchtigten Räuberbanden dagegen seien ein Produkt des kriminalistischen Diskurses. Von daher ist auch die Vorstellung einer Selbstabschließung und einer Gegengesellschaft endgültig zu revidieren. Es ist die Nichtseßhaftigkeit, die das Verhalten bestimmt und zugleich verdächtig macht, die zum Überleben auf die Seßhaften angewiesen und zugleich in vielfacher Weise den Seßhaften dienstbar ist.

Manches an den Ergebnissen und Thesen ist nicht mehr ganz neu, wird aber anhand des Quellencorpus’ bestätigt und bietet so auf sehr bündige Weise den neuesten Forschungsstand. Die weiterführenden Perspektiven hätten freilich pointierter und elaborierter vorgetragen werden können. Gerade die letztgenannten Aspekte laden dazu ein, die Daten der Gaunerlisten mit denen aus Bettlerlisten und ähnlichen Quellen sozialgeschichtlich in Beziehung zu setzen. Beziehungsnetze innerhalb der vagierenden Bevölkerungsgruppe und zwischen Seßhaften und Nichtseßhaften könnten vertiefende Einsichten in die Überlebensstrategien ermöglichen. Da die Kleinterritorien im deutschsprachigen Südwesten an der Erstellung der Gaunerlisten in hohem Maße beteiligt waren, stellt sich die Frage, wie sich die Dinge in anders strukturierten Reichskreisen (etwa dem Nieder- und Obersächsischen) verhielten. Unklar bleibt auch der Zusammenhang zwischen den „Hochkonjunkturen“ der Listenproduktion und der Entwicklung der „Policey“. Daß die Obrigkeiten in ihrer Nichtveröffentlichungspraxis mit dem „Eigensinn“ ihrer Untertanen rechneten, wird deutlich, nicht jedoch, warum sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dann doch dazu übergingen, Listen in Wochen- und Intelligenzblättern dem lesenden Publikum zugänglich zu machen. Während für das 19. Jahrhundert die Kooperation von Polizeibehörden lange schon erforscht wird, böte sich hier die Anregung an, die Vorläufer dieser Entwicklung im Ancien Régime zu untersuchen. Ähnliches gilt für die Methoden der Personenbeschreibung, -erfassung und -identifizierung, deren methodische und technische Innovationen im 19. Jahrhundert seit einiger Zeit Aufmerksamkeit gefunden haben. Die Entwicklung der Signalements wäre dann auch für die Frühe Neuzeit mit den Veränderungen des Menschenbildes im wörtlichen wie übertragenen Sinn in Beziehung zu setzen. Der Hinweis von Blauert und Wiebel auf die Parallelen von Porträtmalerei und Individualisierung von Täterbeschreibungen gibt eine Richtung vor, eine andere bestünde in der Untersuchung des Wissenshorizonts derjenigen Beamten, die sich mit der Herstellung von Gaunerlisten befaßten. Dies muß hier genügen. So nützlich die Erschließung des Corpus’ ist, so lassen sich neue Perspektiven vor allem dann gewinnen, wenn man sich nicht allein auf die Gauner- und Diebslisten beschränkt, sondern sie zum Ausgangspunkt für weitere Recherchen nimmt.

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