R. Pröve: Stadtgemeindlicher Republikanismus

Titel
Stadtgemeindlicher Republikanismus und die "Macht des Volkes". Civile Ordnungsformationen und kommunale Leitbilder politischer Partizipation in den deutschen Staaten vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts


Autor(en)
Pröve, Ralf
Reihe
Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 159
Erschienen
Göttingen 2001: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
580 S.
Preis
DM 116,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Peter Wolf, Haus der bayerischen Geschichte

Zu den wichtigsten revolutionären Forderungen im Jahr 1848 gehörte die "Volksbewaffnung". Wer Waffen trug, war nicht mehr Untertan, sondern nahm als Staatsbürger am politischen Leben teil. Der Sturm auf das Zeughaus wurde ebenso zum Symbol für die revolutionäre Erhebung wie das Bild der zumeist mit schwarz-rot-goldenen Kokarden ausgerüsteten Bürgerwehren. Dem Phänomen jener Bürgerwehren oder Bürgergarden widmet Ralf Pröve eine quellengesättigte Untersuchung, die zugleich als Habilitationsschrift der Berliner Humboldt-Universität angenommen wurde. Doch Pröves Ansatz greift noch wesentlich weiter. Er stellt die revolutionäre Volksbewaffnung von 1848 in einen Traditionszusammenhang der Entwicklung kommunaler Ordnungsformationen seit Ende des 18. Jahrhunderts. Das ist auch der Grund, warum Pröve nicht mit zeitgenössischen Begriffen (wie eben Bürgerwehr) operiert, sondern statt dessen den etwas sperrigen Terminus von der "civilen Organisationsform" wählt. Damit erfasst er nicht nur Bürger- und Kommunalgarden, sondern auch Sicherheitsvereine oder (mit Einschränkungen) Schützengilden. Definitionskriterien sind die strikt nichtmilitärische Vereinigung, die kommunale Grundlage (Stadt- anstelle von Staatsbürger) und als Ziel der Erhalt der öffentlichen Ordnung.

Pröve unterläuft mit seinem Ansatz bewusst die in der deutschen historischen Forschungs- und Lehrtradition anscheinend immer noch weitgehend zementierte Zeitgrenze von 1789/1815. Anknüpfend an Reinhard Kosellecks Konzept der Sattelzeit betont der Autor die Traditionslinien, die sich vom altständischen Stadtbürgertum bis hin zu den revolutionären Ereignissen von 1848 ziehen. Die der Untersuchung zugrundeliegende These lautet: "Civile Organisationsformen" stellten geradezu ein Leitmotiv der "Sattelzeit" zwischen 1750 und 1850 dar. Gerade angesichts des beschleunigten politischen und wirtschaftlichen Wandels sei das Modell einer klassenlosen Bürgergesellschaft, die sich durch ihre eigenen Sicherheitsmaßnahmen gegen Repression von oben und besitzgefährdende Umstürze seitens des "Vierten Standes" schützte, überaus attraktiv erschienen. Ein ganz wesentliches Verdienst von Pröves Arbeit besteht darin, dass er diese Hauptthese nicht allein aus den wortreichen Diskussionen und Stellungnahmen der redenden und schreibenden Zeitgenossen herausdestilliert. So wichtig ihm die Untersuchung des zeitgenössischen Diskurses ist, so deutlich sieht er, dass dieser an die Sozial- und Alltagsgeschichte angebunden werden muss; konkret: dass er seine Arbeit mit ihrem gemeindlichen Ansatz nicht nur in Bibliotheken, sondern gerade auch in Kommunalarchiven zu recherchieren hat. Diese arbeitstechnische Aufteilung spiegelt sich auch in der klaren inhaltlichen Gliederung der Untersuchung wider.

Nach einer instruktiven Diskussion von Themenstellung und Forschungslinien zu Bürgertum und Liberalismus stellt Pröve im ersten Teil des Werks "Rahmenbedingungen und Voraussetzungen" vor. Dabei handelt es sich um eine stringente Skizze der vielfältigen Umbrüche innerhalb des Untersuchungszeitraums, nicht nur in der großen Politik, sondern gerade auch in der Welt der Kleinstädte mit ihren konkreten Problemen der öffentlichen Sicherheit. In diesem Teil bezieht Pröve insbesondere den politischen Diskurs der Zeit ein, wobei er sich auf Gesetze und Verordnungen ebenso stützt wie auf das Tagesschrifttum. Eine zentrale Rolle spielt für ihn dabei Karl von Rotteck mit seiner Schrift "Stehendes Heer und Nationalmiliz" von 1815. Epochemachend für das liberale Denken wurden hier die Gegensatzpaare Volksbewaffnung und Verfassung gegen Despotie und stehendes Heer formuliert. Diese Ideen seien schließlich insbesondere durch die Spaltung der Bürgergarden in einen "Ordnungs"- und einen "Bewegungsflügel" im Zuge der 1848er Revolution desavouiert worden und zwar sowohl in den Augen der liberalen Bürger als auch in den Augen der Regierenden. Die Repression der Staatsmacht, die Auflösung der Organisationen und die Entwaffnung durch das Militär bereitete dann dem Institut der Bürgerwehr ein recht jähes Ende.

Während die öffentliche Diskussion zu kommunalen Ordnungsformationen fast ein Jahrhundert währte, traten diese selbst realhistorisch nur in den Jahren von etwa 1806 bis 1820 (in Preußen), im Umkreis des Jahrs 1830 und dann bei der Revolution von 1847-1850 in Erscheinung. Im besonders originellen zweiten Hauptteil seiner Arbeit untersucht Pröve eben diese Konkretisierung in einem mikrohistorischen Zugriff. Dabei muss er sich schon allein aus arbeitsökonomischen Gründen auf wenige ausgewählte Gebiete beschränken. Es sind die preußische Provinz Brandenburg (ohne Berlin) und Kurhessen. Seitenblicke gelten Mecklenburg-Schwerin und den thüringischen Kleinfürstentümern Schwarzburg. Der Leser wird hier auf eine spannende Reise zu den Wachstuben, den pompösen Paraden und den immer wieder aufflackernden Auseinandersetzungen zwischen Militärs und Zivilgarden geführt. Pröve zeigt, wie das alte Institut der städtischen Bürgerwacht im Zuge der napoleonischen Kriege auf staatliche Initiative wiederbelebt wurde, wie in der Folge diese Bürgerwachten sowohl die kommunale Ordnung gegen allerlei alltägliche Bedrohungen zu sichern hatten (Wirtshausschlägereien, Bewachung der Tore, Begleitung von Gefangenentransporten, Schutz der Feldfrüchte vor Mundraub etc.) und damit zugleich eine Kompetenzerweiterung der städtischen Gemeinde gegenüber dem Landesherren verbunden war. Dies führte nahezu zwangsläufig zu Auseinandersetzungen mit dem Militär, dessen Offiziere scheel auf die oft nur unzureichend uniformierten und bewaffneten Zivilisten blickten. Wenn 1831 die Marburger Bürgerunteroffiziere und Gemeinen ersuchten, von ihren Vorgesetzten mit "Herr" angeredet zu werden (S. 348), zeigt dies klar den genossenschaftlichen Charakter der zivilen Garde, in der alle Mitglieder formell und rechtlich gleichgestellt waren.

Pröve kann anhand vieler Einzelbeispiele überzeugend darlegen, dass das auch in der öffentlichen Repräsentation wichtige Gardenwesen (Waffentragen, Uniformierung in Konkurrenz zum Militär) gerade die "schriftlosen" einfacheren Bürger (Handwerker, Kaufleute) politisierte. Diese Gruppierungen ordnet er ein in die Tradition des vorrevolutionären, altständischen Bürgertums, das keineswegs, wie manche zeitgenössisches Klischee Glauben machen will, zum verknöcherten "Spießbürgertum" geworden sei. Pröve tritt mit dieser Schilderung in deutlichen Gegensatz etwa zu Hans-Ulrich Wehler, der in seiner deutschen Gesellschaftsgeschichte gerade das Absinken des Stadtbürgertums und das Aufkommen des neuen Typs des Bildungs- und Besitzbürgertums sehr stark konturiert hatte. Damit gesellt sich Pröve eher zu einer in den letzten Jahren verbreiteten Forschungsrichtung, für die Namen wie Lothar Gall oder Heinz Schilling stehen. Der einfache Stadtbürger habe auf die Umbrüche der Zeit geschickt durch Ausweitung auch seiner politischen Kompetenzen reagiert. Pröve unterschlägt freilich nicht, dass der staatliche Ansporn hierzu nötig gewesen sei: Kommunalgarden wurden schließlich mit Willen der Landesregierungen gebildet, wie das Kontrastbeispiel Mecklenburg-Schwerin zeigt, wo es bis 1848 nicht zur Aufstellung von Bürgergarden oder ähnlichem gekommen war.

Die Studie Pröves kommt zu dem Ergebnis, dass die untersuchten bürgerlichen Ordnungsformationen für die Entwicklung des Frühliberalismus, für die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft und für die Nachhaltigkeit stadtrepublikanischer Traditionen von erheblicher Bedeutung gewesen seien (vgl. S. 471). Nach der Lektüre des dank seines erzählenden Duktus sehr gut lesbaren Buches kann man sich dieser Interpretation leicht anschließen. Angesichts der genannten Vorzüge ist es bedauerlich, dass Pröve sich doch sehr stark auf Brandenburg (vor allem für die Jahre 1806-1820) und Kurhessen (im Umkreis von 1830) beschränkt. Seine wenigen Vergleichsobjekte bleiben relativ blass, was zwar den Umfang der Untersuchung angenehm überschaubar hält, aber doch die Herausarbeitung mancher erhellenden Parallelen oder Unterschiede verhindert. Gerade der fast völlige Verzicht auf den Vergleich von Einzelphänomenen in Süddeutschland oder Österreich erscheint als Manko, vor allem, da im Untertitel des Buches allgemein von den "deutschen Staaten" die Rede ist. Auch die literarischen Zeugnisse im Umkreis der bewaffneten Bürger (Wachtbücher, Lieder, Erzählungen) werden erwähnt, aber nicht tiefergehend untersucht. Doch diese Monita gehen am wenigsten zu Lasten des Autors. In jedem Staat des Deutschen Bundes entwickelte sich das Verhältnis von staatlicher Obrigkeit, Kommunen und Bürgern jeweils unterschiedlich. Während mancherorts auf Repression gesetzt wurde, übernahm beispielsweise Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha 1848 höchstselbst das Kommando der Coburger Bürger(!)wehr und reihte seine Hofkapelle kurzerhand als Musikkorps in die Garde ein. Diese bunte Vielfalt des Phänomens der kommunalen Ordnungsformationen in Deutschland allein im Jahr 1848 wäre in einer einzigen Untersuchung kaum darstellbar. Daher bleibt es das Verdienst von Pröves sehr empfehlenswerter Studie, einen epochenübergreifenden, sowohl ideen- als auch sozialgeschichtlichen Ansatz geschaffen zu haben, auf dem weitere Arbeiten zu anderen deutschen Staaten aufbauen können. Sie müssten freilich einen hohen sprachlichen, quellenkritischen und reflektierten Stand erreichen, um sich Pröves Studie an die Seite stellen zu können.

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