M. Harbsmeier (Hg.): Stimmen aus dem äußersten Norden

Titel
Stimmen aus dem äußersten Norden. Wie die Grönländer Europa für sich entdeckten


Herausgeber
Harbsmeier, Michael
Reihe
Fremde Kulturen in Alten Berichten 11
Erschienen
Stuttgart 2001: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
€ 24,00
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. phil Antje Stannek, Historisches Seminar, Technische Universität

Dieses gelungene Buch ist auf den ersten Blick in der falschen Reihe erschienen, liefern uns doch die von Folker Reichert und Jürgen Osterhammel herausgegebene Bände der Reihe "Fremde Kulturen in Alten Reiseberichten" bisher Einblicke europäischer Reisender in ferne und fremde Welten. Wir werden informiert über Japan im 17. Jahrhundert, die Mongolei zur Mitte des 13. Jh., Pennsilvania um 1750 u.a.m. Wenn wir hingegen darüber lesen, was die Grönländer über die Dänen erzählten und wie die Dänen von den Grönländern berichteten, bleibt unklar, wer hier der Fremde und wer der Beobachter ist. Dies geschieht mit Absicht. Die gegenseitige Betrachtungsweise eröffnet eine wichtige heuristische Dimension der Reiseberichtsforschung, denn so können die "komplementären Beziehungen zwischen beobachtenden und beschreibenden Dänen und dargestellten und beschriebenen Grönländern" aufgezeigt werden. (20)

Eine 100seitige Leseanleitung führt in die Traditionen der Grönlandberichterstattung vom 17. bis zum 19. Jahrhundert ein. Der Leser lernt zunächst das "Tal der Norweger" im Park von Schloß Fredensborg kennen. Dort sind 70 Skulpturen um eine, die dänische Monarchie symbolisierende Siegessäule versammelt. Jede Skulptur repräsentiert einen Teilverband dänischer Untertanen und macht auch heute noch darauf aufmerksam, daß Dänemark eine imperiale Vergangenheit hat und in Norwegen, Island, den Faröer-Inseln, Grönland und Norddeutschland Spuren hinterlassen hat. (9 -11)

Harbsmeier beginnt die Chronologie der Europaberichterstattung mit den nach Kopenhagen verschleppten "Wilden". Ein einfaches Beispiel aus Claus Christophersen Lyschanders Reimchronik aus dem Jahre 1605 sagt über die Gefangennahme und die Gefühlslagen der Eingefangenen schon genug: "Sie griffen ins Schwert mit bloßen Händen, so daß das Blut ihnen über den Körper rann, und ließen sich doch nicht einschüchtern, sondern taten alles, was ihnen möglich war, so daß man sie schließlich wie die Schweine binden und fesseln mußte." (32)

Je größer der Widerstand der Eingefangenen, desto eindrücklicher konnte königliche Macht demonstriert werden - dies war die Darstellungsabsicht der Berichterstatter. Lyschander und Adam Olearius beschrieben den Protest der Grönländer gegen ihre Verbringung in die Zivilisation. Sie stellten aber auch die Folgsamkeit und Unterwerfung dar, die die "Wilden" dann am königlichen Hof und in der städtischen Öffentlichkeit Kopenhagens an den Tag legten. Das Heimweh [???] führte bei den Verschleppten häufig zu Fluchtversuchen, welche dann ebenso regelmäßig mit dem Tod endeten. Gegen eine zivilisatorische Macht gibt es kein Entrinnen, dies ist die Botschaft der Erzähler.

Harbsmeier vergleicht die dänischen Eroberungsgeschichten mit anderen historischen Fällen. Auch spezifisch dänische Gefühlslagen spielten bei den Grönland-Expeditionen ein Rolle. Man fand schließlich keine altnordischen Vorfahren und leider auch keine Edelmetalle. Zudem waren die extremen klimatischen Umstände der Reisen für die kurze Dauer der Expeditionen verantwortlich. Dies habe - so Harbsmeier - zur dänischen Variante des Inbesitznahmeritus beigetragen, der sich eben nicht im fernen Land, sondern in der Hauptstadt abspielte. (41) Interessante Vergleichsmöglichkeiten mit anderen imperialen Repräsentationsformen in Völkerschauen oder Indianer-Shows bieten sich an. Die im 17. Jahrhundert nach Dänemark verbrachten "Besucher" paddelten also vor dem König im Kajak um die Wette. Sie warfen mit Spießen nach Kabeljau, oder sie demonstrierten vor der dänischen Königin, wie sie ihre Kinder versorgten. Sie waren damit Teil der zeremoniellen Darstellung monarchischer Größe. Die Besucher machten aber auch eigene Beobachtungen: Kleine Affen im Käfig hielten sie auf den ersten Blick für Ihresgleichen, und bei der Ansicht von Skeletten in einer naturhistorischen Sammlung bekamen sie es mit der Angst zu tun da sie fürchteten, die Dänen könnten sie vielleicht verspeisen wollen.

Besonders intensiv sind die dänisch-grönländischen Beziehungen in der Zeit von Hans Egede (1686-1758). Zehn Jahre lang betrieb dieser eine herrnhutische Mission in Grönland. Egede und sein Sohn Paul, der viele Berichte über die Missionszeit verfaßte, verstanden die Sprache der Grönländer und hatten einen qualitativ anderen Zugang zu den Menschen. Vater und Sohn verfaßten Wörterbücher und Grammatiken des Grönländischen. Ihre Berichterstattung war von den lutheranisch-pietistischen Bemühungen geprägt. Sie ist nicht frei von Selbstzweifeln und kritisiert zuweilen auch die schädlichen Auswirkungen der dänischen Kolonialpolitik. Paul Egede hält zum Beispiel die Kommentare der heidnischen Grönländer zur christlichen Religion für so wichtig, daß er sie für die europäischen Philosophen sichern möchte. Im 19. Jahrhundert nehmen die grönländisch-dänischen Austauschbedingungen dann wiederum eine andere Qualität an: Die Grönländer sind nun nicht mehr sprachlos oder unverständlich. Sie haben mittlerweile im Umgang mit Dänen eine gewisse Erfahrung. Der dänische König Friedrich VII. erhält auf seine Bemerkung, er sähe einen Grönländer soeben zum ersten Mal, von diesem die Antwort: "Und es ist das erste Mal, daß ich einen König sehe". (85)

Allerdings trat nun an die Stelle individueller Geschichten von Menschen, deren Leben den Berichterstattern gut bekannt war, eine Darstellungsart, die von den Erfahrungen und Erlebnissen Einzelner abstrahierte. Ein neues Interesse an einer gemeinsamen dänisch-grönländischen Vergangenheit überlagerte in der Epoche der sogenannten grönländischen Renaissance diese Stimmen zugunsten von Erzählungen über eine angeblich allen Grönländern und Dänen gemeinsame mythische Vergangenheit, Tradition und Überlieferung. (92)

Harbsmeier zeigt hier auf, welche Verluste bei der Erfindung von Traditionen anfallen. Es geht ihn um eine historische Erklärungen für den Wandel oder die Präferenz einzelner Erzählmuster. Ob der Begriff der "Interpellation" das Muster der dänisch-grönländischen Austauschbeziehungen treffend beschreibt, vermag die Rezensentin nicht zu entscheiden, zumal unklar bleibt, was damit gemeint ist. Braucht es Louis Althussers Begriff zur Erhellung der gegenseitigen Wahrnehmungs- und Darstellungsweisen? Falls dies der Fall sein sollte, müsste dies näher ausgeführt werden. Und wenn die Berichterstattung der Grönlandentdecker, Grönlanderobeer und Grönlandbeschreiber eine systematisch ausgearbeitet Alternative zum anglo-amerikanischen Modell der arktischen Ethnographie ist (17), so wünscht sich die Leserin eine über den Einzelfall hinausgehende Reflexion über die ethnographische Berichterstattung.

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