Titel
Ich entschuldige mich. Das neue politische Bußritual


Autor(en)
Lübbe, Hermann
Erschienen
Berlin 2001: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
139 S.
Preis
DM 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Hacke

Dem neuen Buch von Hermann Lübbe liegt eine interessante Beobachtung zugrunde: Die diplomatischen Umgangsformen verändern sich und bezeugen einen Wertewandel innerhalb der internationalen Beziehungen. Eine “vergangenheitspolitische Entschuldigungspraxis” ist auf dem Vormarsch, sichtbar gemacht durch neue “Bußrituale”. Staatsmänner entschuldigen sich für politische Verbrechen ihres Volkes, mögen diese auch weit zurückliegen. Ob Präsident Clinton die Opfer der Sklaverei auf Staatsbesuchen in Afrika bedauert, die Kanadier sich bei wenigen überlebenden Ureinwohnern entschuldigen oder sogar der Papst um die Vergebung für die Verfehlungen der katholischen Kirche bittet – es ist offensichtlich, daß die deutsche Bußeleistung für die NS-Verbrechen in diesem Zusammenhang nicht als singuläres Problem dasteht, wenngleich es sich um eine verhältnismäßig gegenwärtige Vergangenheit handelt und die Bundesrepublik mit Willy Brandt den Pionier des “Bußrituals” stellt. Aber auch andere Nationen tun Buße für ihre Verbrechen im totalitären Jahrhundert: Japan entschuldigt sich bei China für die Opfer des Zweiten Weltkrieges, Rußland leistet Abbitte für die Verbrechen des Stalinismus, der tschechische Staatspräsident bedauert die Vertreibung der deutschen Bevölkerung nach 1945. Wie kommt es, daß hier eine neue Form des diplomatischen Umgangs entsteht, die sich von jahrhundertegewohnten machtpolitischen Demonstrationen der Stärke verabschiedet, ja im klaren Gegensatz zu diesen steht? Der ostfriesische Philosoph hat damit eine Frage aufgeworfen, die noch weitgehend unreflektiert geblieben ist.

Nun ist Lübbe bekannt für seine scharfe essayistische Feder und enorme Produktivität. Seine Stärke ist der pointierte Gedanke und die Streitlust gegenüber den politischen Gegnern, die meistens links sitzen. Von streng akademischen Gefilden hat sich der Emeritus seit Jahren verabschiedet und seinen Wirkungskreis auf tages- und kulturpolitsche Publizistik im weitesten Sinne verlegt. Es dürfte wenige Themen geben, zu denen sich Lübbe in den letzten Jahren nicht geäußert hat, aber herausgefordert haben den sozialdemokratischen Sezessionisten immer wieder die verschiedenen Spielarten des politischen Moralismus, ganz besonders die Formen sozialutopischen Denkens seit 1968. Politik und Moral – dieses Verhältnis hat Lübbe stets aus der Warte des skeptischen Aufklärers beleuchtet, dessen Ernüchterungspragmatismus in den 70ern so weit ging, daß er ins Lager der “Neokonservativen” schwenkte bzw. zu den Wortführern einer “Tendenzwende” wurde. Daß die Moralisierung von Politik auch in seinem neuen Buch zum Thema wird, offenbart bereits der Titel und läßt neue Abrechnungen mit der Linken erahnen. Doch es ist überraschend: Lübbes Wertungen bleiben zurückhaltend, in der Sache begrüßt er die “Bußrituale” als Trend zur Historisierung der Vergangenheit, denn in der Überwindung alter Feindschaft durch Vergebung werden neue Kommunikationsräume erschlossen. Das gefällt dem pragmatischen und gegenwartsbezogenen Liberalen, der den Common sense schätzt. Seine Gegner werden nicht lange zögern, ihm eine neue Schlußstrich-Semantik zu unterstellen. Doch so einfach ist es nicht, denn Lübbe legt wert auf die Tatsache, daß moralische Schuld vergangener Generationen nicht abgegolten werden kann: “Es gibt die Kontinuität der Kollektivsubjekte nicht, die über große Geschichtsräume hinweg miteinander in moralischer und juridischer Absicht kommunizieren könnten.” (89) In diesem Sinne bleiben Schuldbekundungen (verbunden mit Wiedergutmachungszahlungen) immer rituelle Ersatzhandlungen. Aber warum wird diese Art der symbolischen Politik praktikabel? Ist es eine ausgemachte Sache, daß der Selbsterniedrigung immer die Erhöhung folgt? Wir haben zwar aus Wolfgang Schivelbuschs “Kultur der Niederlage” gelernt, daß die Kriegsverlierer auf lange Sicht nur gewinnen können, aber warum sich Staatsmänner und Diplomatien auf derart subtile Logiken einlassen sollten, bleibt erklärungsbedürftig. Daß Bußeleistung auf höchster politischer Ebene kalkuliert ist und ihre Grenzen vermeidungsstrategisch als Chancen begreift, deutet Lübbe vorsichtig an. Was vordergründig als demütige Bereitschaft zum Schuldeingeständnis wirkt, ist in Wirklichkeit Interessenpolitik, mit der eine bedingungslose Unterwerfungsgeste vermieden wird. Leider gibt Lübbe sich nicht wirklich Mühe, diesen Problemen auf den Grund zu gehen und die Entwicklungen historisch und kontextabhängig zu beschreiben. Daß er es könnte, steht außer Frage, aber er bleibt bei der Diagnose und verzichtet auf die Erklärung.

Kluge Beobachtungen zeichnen diesen kurzen, aber anregenden Essay dennoch aus. Es ist richtig, daß nationale Leidensgeschichten mythische Heldengeschichten abgelöst haben und zumindest in Europa eher die staatsbürgerliche Identifikation prägen. Zusehends wird der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gedacht, der “Heldentod” ist nicht mehr en vogue. Richtig ist auch, daß moralisches Kapital zu einer festen Rechengröße der internationalen Beziehungen geworden ist. Das Ende des Kalten Krieges hat dabei einen neuen moralischen Universalisierungsschub ausgelöst, eine “Refundamentalisierung öffentlicher Moral” (103), und mit der Gegenwart ist laut Lübbe auch die Vergangenheit transparenter geworden. Die Aufklärung habe sich damit in der liberalen Weltgesellschaft durchgesetzt. Das klingt alles sehr optimistisch, und es wäre schön, wenn die Wirklichkeit so aussähe. Doch gerade der Westen zeigt dieser Tage, daß mit dem moralisierenden vergangenheitspolitischen Argument neue Nebelkerzen geworfen werden. Wie weit trägt die Begründung, einen Militäreinsatz im Kosovo zu führen, damit sich Auschwitz nie wieder ereigne? Welche Kriege werden geführt aufgrund von Verfehlungen westlicher Politik, die im Rahmen einer “Vergangenheitspolitik” nie eingestanden werden dürfen, weil sie das gegenwärtige moralische Engagement unterminieren würden? Lübbe weiß das natürlich, aber er verliert sich lieber auf Nebenkriegsschauplätzen und schlägt alte Schlachten wie den “Historikerstreit” noch einmal, der mit internationaler Politik nur sehr entfernt etwas zu tun hat. Mittlerweile sieht Lübbe statt Anklagen oder Verteidigungen “selbstanklagebereite Aufklärung” im Kommen, die sich durch “neue, nämlich entideologisierte und sich konsequent historisierende Formen moralisch und politisch interessierter Vergangenheitsvergegenwärtigung” auszeichnet. “Sachlichkeit hat den Charakter einer moralischen Norm, und die Erfüllung historiographischer Objektivitätspostulate ist eine praktische Leistung”, verkündet Lübbe verblüffend idealistisch (107). Ob man so weit ist, gar je soweit kommen kann, mag der Historiker als erster bezweifeln.

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