Titel
Ankommen in Deutschland. Einwanderungspolitik als biografische Erfahrung im Migrationsprozeß russischer Juden


Autor(en)
Becker, Franziska
Erschienen
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Sabine Hess, Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Identitäre Fallen einer Aufnahmepolitik. Eine Ethnographie russisch-jüdischer Einwanderer in Deutschland

„Ankommen in Deutschland“ – ein klassischer Fokus der sozial- und kulturwissenschaftlichen Migrationsforschung in Deutschland, die über Jahre vor allem an den Integrationsbemühungen der Migrierenden interessiert schien. Nachdem der Rückkehrmythos des „Gastarbeitersystems“ an der Realität der sich verstetigenden Einwanderung zerbrach, wurde die Migrationsforschung hierzulande zur Integrationsforschung. Das Ethnizitätsparadigma tat das ihre dazu, um den konfliktreichen Prozess der Integration gänzlich von migrationspolitischen Voraussetzungen abzukoppeln und ihn als Konflikt der Kulturen im Inneren der Migrierenden zu verankern. Derart mit der Integration der ehemaligen GastarbeiterInnen beschäftigt, blieben auch neuere Migrationsprozesse nach dem Fall des Eisernen Vorhangs lange Zeit von der Forschung unbemerkt.

Franziska Beckers „Ankommen in Deutschland. Einwanderungspolitik als biografische Erfahrung im Migrationsprozess russischer Juden“, 2001 in Berlin erschienen, wendet in wegweisender Art und Weise gleich in mehrfacher Hinsicht die Perspektive auf den Gegenstand. Mit der Gruppe der russisch-jüdischen Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion nimmt sie sich eines neuen Migrationsmusters an, wodurch ein Licht auf die sich pluralisierende Migrationsbewegungen geworfen wird. Zugleich kommen die staatlichen Versuche nach 1989 ins Blickfeld, die Einwandernden zu regulieren und administrativ zu kategorisieren. Und drittens weist Franziska Beckers ethnographische Forschung über die russisch-jüdische Einwanderung weit über den engeren Zusammenhang von Migration und Einwanderungspolitik hinaus auf die Komplexität jüdisch-deutschen Lebens in der Gegenwart.

Zunächst hatte der Beschluss der letzten Volkskammer Regierung der DDR 1990, Juden aus der Sowjetunion, die von antisemitischen Verfolgungen betroffen waren, ein dauerhaftes Bleiberecht zu gewähren, ein Tor in den Westen geöffnet. Die Chance wurde von vielen russischen Juden alsbald ergriffen. Nach der Wiedervereinigung wurde diese Aufnahmezusage als Zeichen der Wiedergutmachung aufrecht erhalten. 1991 einigten sich die Parteien des vereinigten Deutschlands darauf, die Einreise in Form des „Kontingentflüchtlingsstatus“ zu organisieren.

Franzika Becker nimmt dieses spezifische Migrationsregime zum Ausgangspunkt ihrer biografischen Analyse von Identitätsverläufen russisch-jüdischer Einwanderer. Sie zeigt, wie der zugewiesene Status des jüdischen Kontingentflüchtlings als institutionelle, kulturelle und symbolische Ordnung zu verstehen ist, welche die Einwanderungsverläufe und die Integration in die deutsche Gesellschaft wesentlich strukturiert.
In einer kenntnisreichen Diskursanalyse demonstriert sie zunächst, wie der administrative Status des Kontingentflüchtlings Diskurse und Bilder von „echter jüdischer Identität“ und von „authentischen Flüchtlingsschicksalen“ re-produziert, die mit den Migrationspraxen und biografischen Hintergründen der russisch-jüdischen Einwanderer wenig gemein haben. Vielmehr bringt das staatliche Prüfungsverfahren der „jüdischen Herkunft“ im gleichen Atemzug Diskurse um Fälschung und illegitime Einwanderung hervor, die die MigrantInnen wiederum zu besondern Beweisen ihrer Authentizität verpflichten. Vor allem der zugeschriebene „Flüchtlingsstatus“ imaginiert „verfolgte Opfer“ und legt die Einwanderer auf die Position des „hilfsbedürftigen Bittstellers“ fest. Alle diejenigen, deren Praxen mit diesem Bild nicht in Einklang zu bringen waren, wurden bald mit dem Negativ-Label des „russischen Wirtschaftsflüchtlings“ belegt. Franziska Becker macht deutlich, dass das Aufnahmeverfahren – als symbolische Wiedergutmachung gedacht – mit so heißer Nadel gestrickt war, dass es im Endeffekt antisemitische Klischees vom „schlauen“, „raffenden“ Juden bediente.

Die normativen Erwartungshaltungen, die die staatlichen Institutionen mit den mit der Integration beauftragten jüdischen Gemeinden teilen, stellen für Franziska Becker die wesentliche Folie dar, vor der sie im zweiten Teil der Arbeit die komplexen Prozesse beschreibt, mit denen die russisch-jüdischen Einwanderer ihre biografischen Erzählungen und Selbstbilder zu re-konstruieren suchen. Am Beispiel von drei sehr unterschiedlichen Einwanderungserzählungen skizziert sie die Motivationen, Enttäuschungen und Anstrengungen der Migrierenden, als russisch-jüdische Kontingentflüchtlinge in Deutschland Fuß zu fassen. Einfühlsam beschreibt Franziska Becker, welche Authentisierungsstrategien die deutsche Öffentlichkeit und jüdische Institutionen den MigrantInnen abverlangen, die hier als Jüdinnen einen Platz finden wollen. Alle drei GesprächspartnerInnen versuchen ihr Selbstbild in Bezug auf die Identitätskategorie des Juden neu zu entwerfen – auch selbst dann, wenn diese in Russland bedeutungslos war. Zum anderen wird in den biografischen Interviews deutlich, wie sich die Migrierenden gezwungenermaßen mit der Verkennung als „Wirtschaftsflüchtling“ und der drohenden Abwertung als „typisch russisch“ auseinander setzen müssen. In der Konsequenz führt dies zu einer doppelten Isolation: zum einen von den jüdischen Gemeinden, deren identitäres Misstrauen als Zumutung erlebt wird; zum anderen von anderen russisch-jüdischen EinwandererInnen, von denen sich die Befragten – das hegemoniale Ressentiment reproduzierend – als „unechte“ Flüchtlinge und als „Russen“ distanzieren wollen. Vor allem während ihrer zweimonatigen Feldforschung in einem Aufnahmeheim bekommt Franziska Becker einen tiefen Einblick in den wechselseitigen Prozess von Ablehnung und Verkennung vor dem Hintergrund antisemitischer und antislawischer Bilder durch das Heimpersonals und dem Ringen eines älteren jüdisch-russischen Heimbewohners um Anerkennung und die Rekonstruktion der eigenen biografischen Erzählung.

Allerdings verarbeitet Franziska Becker ihre einmalige ethnographische Erfahrungen dieses Interaktionsprozesses in einem Aufnahmeheim nur in einen Exkurs, während ihre Analyse sonst an den biografischen Narrativen orientiert ist. Diese vermag detailliert zu zeigen, wie sich die Identitätsentwürfe der drei russisch-jüdischen MigrantInnen in der Konfrontation mit dem spezifischen Migrationsregime verändern, das ihnen den Status des „Kontingentflüchtlings“ zuweist. Jedoch bietet die Lektüre hier wenig Überraschungen, da der identitäre Rahmen, an dem sich die drei MigrantInnen orientieren (müssen), in der vorausgegangenen Diskursanalyse bereits abgesteckt ist.

Dennoch ist Franziska Beckers Arbeit ein gelungenes Beispiel für eine kulturwissenschaftliche Biografieforschung, der es um ein prozesshaftes Verständnis von Identität als veränderlicher, reflexiver Größe geht. Insofern ist „Ankommen in Deutschland“ ein wichtiger Beitrag zur Integrationsforschung, der „Integration“ gegen den Strich liest, nämlich als Resultat eines mühevollen Prozesses der Auseinandersetzung mit den Paradoxien der deutschen Einwanderungspolitik.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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