Cover
Titel
Unter Männern. Frauen im ukrainischen nationalistischen Untergrund 1944–1954


Autor(en)
Petrenko, Olena
Erschienen
Paderborn 2018: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Grzegorz Rossoliński-Liebe, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die Rolle von Frauen im „ukrainischen nationalistischen Untergrund“ wurde bis heute nur unsystematisch untersucht, obwohl sie in der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) wie in jeder anderen durch Männer und Männlichkeit dominierten Bewegung eine wichtige Rolle spielten. Neben Jeffrey Burds haben sich bis heute nur Oksana Kis‘, Marta Havryško und Yoshi Mitsuyoshi explizit mit dem Thema beschäftigt und dazu veröffentlicht. Olena Petrenko hat den Gegenstand nun tiefgehend untersucht und ihn umfassend beleuchtet. Dadurch hat sie die Diskurse über die Rolle von Frauen in OUN und UPA maßgeblich vorangebracht und zum Wissen über diese Bewegung viel Neues beigetragen. Gleichzeitig beinhaltet Petrenkos Buch leider viele problematische und politische Behauptungen, die die Holocaust- und Faschismusforschung längst widerlegt hat und die für die Opfer der Massengewalt der OUN und UPA grundsätzlich beleidigend sind.

Petrenko geht der Geschichte der Frauen in der OUN und UPA in neun Kapiteln nach. Sie untersucht sowohl die praktische als auch die symbolische Rolle von Frauen in der Bewegung und zeigt, welche Aufgaben Frauen in der OUN und UPA übernahmen und wie sie in internen und externen Diskursen verstanden und dargestellt wurden. Neben Dokumenten aus ukrainischen, russischen und kanadischen Archiven analysiert sie Memoirenliteratur und zieht selbst durchgeführte Interviews sowie sowjetische und post-sowjetische Filme und Romane heran. Obwohl im Untertitel der Zeitrahmen mit 1944 bis 1954 angegeben ist, beginnt Petrenko die Analyse in den frühen 1920er-Jahren, was konzeptionell sinnvoll ist.

Petrenko zeigt, dass Nationalistinnen in der 1920 in Prag gegründeten Ukrainischen Militärischen Organisation, aus der 1929 die OUN hervorging, eine durchaus wichtige Rolle spielten. Ihre Aktivitäten waren sogar von zentraler Bedeutung für das Funktionieren der Bewegung. Ol’ha Besarab, die die Kommunikation zwischen dem Kern der Organisation in Polen und der Führung im Ausland übernahm, stieg nach ihrer Ermordung zu einer der wichtigen Nationalheldinnen auf. Grundsätzlich wurde jedoch den Frauen die Rolle zugeschrieben, neue Kämpfer und Helden zu gebären, sie in der nationalen Tradition zu erziehen und die Familie zu versorgen. Da sich Frauen relativ unbeachtet in der Öffentlichkeit bewegen konnten, wurden sie durch die OUN aber auch gerne bei der Durchführung von Terrorakten eingesetzt, nach denen in der Regel Gerichtsprozesse gegen die Organisation stattfanden (S. 102). Bei den Massenprozessen gegen die OUN 1935–1936 in Warschau und Lemberg verbreiteten Frauen ebenso wie Männer die Sichtweisen der Bewegung in der Öffentlichkeit. Nationalistische Frauen organisierten sich aber auch in anderen Organisationen und Parteien wie dem Bund der Ukrainerinnen, der in den 1930er-Jahren 45.000 Mitgliederinnen zählte, zwei Abgeordnete im polnischen Sejm hatte und dank der OUN Beziehungen zu Mussolini unterhielt (S. 85–89).

Frauen waren ebenso für das Funktionieren der Anfang 1943 durch die OUN aufgestellten und bis Anfang der 1950er-Jahre wirkenden UPA unentbehrlich. Viele arbeiteten dort als Krankenschwestern, „Propagandistinnen“, Kurierinnen oder Lebensmittellieferantinnen. Sie bekochten die Partisanen, wuschen für sie und kümmerten sich um ihre Kinder. Sie wurden nach der Verhaftung durch den NKVD gefoltert, erschossen oder jahrelang eingesperrt. Nicht selten wechselten sie die Seite und halfen den sowjetischen Streitkräften, die UPA zu bekämpfen oder spionierten für die UPA die lokalen Strukturen des NKVD aus. Wegen des Verdachts des „Verrats“ wurden einige Nationalistinnen von aufständischen Einheiten exekutiert. Seit 1944 deportierte der NKVD mehrere Tausend Frauen mit ihren Kindern aus der Westukraine in das Innere der Sowjetunion, weil sie mit UPA-Männern verheiratet waren. Frauen wurden in der Ukraine aber auch aus dem Osten in den Westen umgesiedelt. Einige Hundert Lehrerinnen kamen in die Westukraine aus Charkiw und anderen ostukrainischen Städten, um dort das sowjetische Weltbild zu verbreiten, weshalb ein Teil von ihnen durch die UPA ermordet wurde. Frauen wurden auch durch die Propaganda eingenommen, um das gute Nationalistische gegen das schlechte Sowjetische oder umgekehrt auszuspielen. Sie waren für das Funktionieren und das Selbstverständnis der Bewegung schlichtweg unentbehrlich, selbst wenn sie von den Männern marginalisiert und keineswegs als gleichberechtigte Kämpferinnen betrachtet wurden.

Alle diese wichtigen Aspekte der Geschichte der OUN und UPA werden in der Monographie klar, deutlich und sauber erklärt und dargestellt. Das Unbehagen, das bei der Lektüre entsteht, liegt woanders: Die Autorin ist mit der Geschichte des Holocaust und des Faschismus nicht ausreichend vertraut, obwohl beide für das Verständnis des Themas von zentraler Bedeutung sind. Das ist bereits im Untertitel erkennbar. Petrenko gibt den Zeitrahmen 1944 bis 1954 an, um der Problematik des Judenmordes auszuweichen, obwohl sie ihre Analyse in den frühen 1920er-Jahren beginnen lässt, was anders auch kaum machbar gewesen wäre. Beim Lesen entsteht immer wieder der Eindruck, dass Petrenko den Holocaust weitestgehend auslässt. Ebenso wird die Geschichte der Faschisierung der Bewegung nicht behandelt. Die Marginalisierung des Judenmordes, anderer Formen nationalistischer Gewalt sowie der Erfindung des ukrainischen Faschismus durch die OUN zieht sich durch das gesamte Buch und wird unter anderem dann deutlich, wenn Petrenko auf die Gerichtsprozesse gegen die OUN in Warschau und Lemberg eingeht aber das demonstrative Vorführen faschistischer Grüße durch die Angeklagten im Gerichtssaal verschweigt (z.B. S. 64, 133–134) oder wenn sie sich immer wieder auf jüdische Ärzte in der UPA bezieht aber die Leser nicht informiert, wie sie dort hingerieten und was mit ihnen geschah (S. 117).

Weil der Holocaust ausgelassen bzw. marginalisiert wird, wird der Leser nicht informiert, wie sich die Nationalistinnen während des Judenmordes verhielten, obwohl das Schicksal derselben Nationalistinnen von den frühen 1920er-Jahren bis 1939 und dann ab 1944 bis in die späten 1950er-Jahre ausführlich behandelt wird. Des Weiteren äußert sich Petrenko pejorativ über Historiker, die die Schoah untersuchen: John-Paul Himka, der vor acht Jahren grundlegende Forschungsarbeiten zum Lemberger Pogrom vorgelegt hat, wird von der Autorin als „Politiker“ bezeichnet (S. 68). Himkas Publikationen werden ebenso wie jene Omer Bartovs oder die des Rezensenten in der Bibliographie zwar angegeben, aber im Buch nicht rezipiert. Stattdessen verlässt sich Petrenko an mehreren Stellen auf Arbeiten von Historiker/innen, die die Geschichte der Bewegung national und selektiv studieren, Aspekte des Judenmordes leugnen und das Verhalten der OUN und UPA im Holocaust entsprechend bewerten und darstellen.

Stepan Bandera und seine Anhänger werden im Buch mehrmals erwähnt, der Leser wird aber nirgendwo informiert, wer er war; an einigen Stellen werden über ihn falsche Informationen angegeben und an anderen wird seine Verantwortung für Massenmorde verschwiegen (z.B. S. 130–131). In Bezug auf Bandera wie auch auf andere mit ihm zusammenhängende Themen beruft sich Petrenko auf nationalistische Arbeiten und ignoriert wissenschaftliche Publikationen. Der Führer der OUN funktioniert im Buch weitestgehend als ein Symbol ohne Geschichte. Das apologetische Narrativ taucht im Buch anscheinend immer dort auf, wo es um die Massengewalt, Faschisierung und den Holocaust geht. Selbst wenn Petrenko Oksana Zabuzhkos antisemitischen Roman „Das Museum der vergessenen Geheimnisse“ überwiegend kritisch bespricht, gibt sie ihr folgend an, dass UPA-Soldaten einen Deportationszug mit Juden befreit hätten. Die UPA führte eine solche Aktion jedoch nie durch. Das müsste jedem, der die Geschichte der Bewegung kritisch studierte, klar sein. Dafür entstand die UPA ein Jahr zu spät und wirkte überdies zuerst in Wolhynien, wo keine Deportationen stattfanden. Nicht ohne Bedeutung ist auch, dass einige Hundert ihrer Mitglieder die Besatzer 1942 bei den Deportationen nach Bełżec und Massenerschießungen als ukrainische Polizisten unterstützten, bevor sie sich der UPA anschlossen (S. 268).

Die Lektüre dieser Publikation hinterlässt somit sehr gemischte Gefühle. Auf der einen Seite präsentiert Petrenko die erste Monographie über Frauen in der OUN und UPA, in der sie deutlich macht, wie wichtig die Gender- und Frauengeschichte für das gesamte Thema ist. Auf der anderen Seite ist das Narrativ in Bezug auf die Massengewalt, das Verhalten der OUN und UPA im Judenmord und die Faschisierung der Bewegung durchgehend politisch, problematisch und für die Opfer der Gewalt ukrainischer Nationalisten beleidigend. Leider ist diese Herangehensweise an den Judenmord in der Westukraine und die Geschichte der OUN und UPA sowohl in der Ukraine als auch in Deutschland verbreitet. Die Grundlagen dafür wurden in der Ukraine in den 1940er- und 1950er-Jahren und in Deutschland in den späten 1980er- und 1990er-Jahren gesetzt.

Kommentare

Von Petrenko, Olena04.09.2019

Es ist nicht das erste Mal, dass AutorInnen, die sich mit der Geschichte der OUN und UPA befassen, auf eine Rezension von Grzegorz Rossolinski-Liebe reagieren müssen.1 Die Kritik an meinem Buch bezieht sich auf eine vermeintliche Marginalisierung des Holocausts und eine apologetische Darstellung des ukrainischen nationalistischen Untergrunds. Der Rezensent wirft mir eine tendenziöse Geschichtsschreibung vor, was ich nicht unwidersprochen hinnehmen kann.

Im Zentrum meiner Studie steht die Frage nach der Rolle von Frauen beim ukrainischen Untergrund nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee in die Westukraine im Jahr 1944. Sie enthält eine umfangreiche Einleitung, in der die Geschichte der OUN und UPA vor 1944 skizziert wird. Dabei gehe ich auf Grundlage neuerer Forschungen auch auf Verbrechen dieser Organisationen an Juden sowie die antisemitischen Einstellungen führender Akteure ein (S. 31f, 67–69).

Bei der Schilderung exemplarischer Lebensläufe von Frauen des nationalistischen Untergrunds befasse ich mich auch mit ihren Biographien vor 1944 und ebenso der Frage, in welchem Verhältnis sie zur deutschen Besatzungsmacht und zum Holocaust standen, soweit die Quellen hierzu Aufschluss geben (S. 49f, 105f, 149f). Überhaupt ging es mir darum, auch die Mittäterschaft der Frauen, ihre Verstrickung in den Nachkriegsterror, lebensgeschichtlich zu rekonstruieren. Aussagen Rossolinski-Liebes wie „das apologetische Narrativ taucht im Buch anscheinend immer dort auf, wo es um die Massengewalt, Faschisierung und den Holocaust geht“, hinterlassen den Eindruck, dass der Rezensent über die betreffenden Stellen hinweggelesen hat oder sie ignorieren wollte.

Die Kritik des Rezensenten suggeriert, dass über die OUN und die UPA nur mit einem zentralen Bezug zum Holocaust geschrieben werden kann und als ob den beiden Organisationen eine zentrale Rolle beim Holocaust in der Ukraine zukomme. Beides trifft nicht zu. Nach Untersuchungen von Kai Struve dürften nicht wesentlich mehr als ein Prozent der in der Zeit der deutschen Okkupation in der Westukraine ermordeten Juden durch Einheiten von OUN und UPA getötet worden sein, davon ungefähr die Hälfte im Juli 1941 und die andere Hälfte 1943/44.2 Darüber hinaus desertierten 1943/44 mehrere tausend (männliche) Angehörige ukrainischer Polizeieinheiten aus deutschen Diensten, von denen viele im Jahr zuvor an Deportationen und Massenerschießungen von Juden durch die deutsche Sicherheitspolizei beteiligt gewesen waren. Ein Teil von ihnen schloss sich der UPA an. (siehe u. a. in meinem Buch S. 69, auch Hinweise auf Memoiren von Danylo Schumuk S. 106 oder auf Stepan Janyschewskyj als Leiter der ukrainischen Polizei in Winnyzja, S. 164).

Eine derartige Feststellung soll weder die jüdischen Opfer der OUN und UPA marginalisieren, noch die Involvierung ukrainischer NationalistInnen kleinreden. Gerade hier gibt es noch viele ungeklärte Details für zukünftige Forschungsprojekte, das Thema war jedoch kein zentraler Gegenstand meiner Untersuchung. Es ist absurd, mir vorzuwerfen, meine Studie sei für die jüdischen Opfer des Holocausts „beleidigend“. Wenn man der Logik des Rezensenten folgen würde, würde auch jede kritische Studie über die deutsche Wehrmacht, die nicht den Holocaust zu ihrem zentralen Thema macht, die Holocaust-Opfer „beleidigen“.

Weiter stört den Rezensenten offensichtlich, dass ich die OUN und UPA nicht durchgehend als „faschistisch“ charakterisiere. Ohne Zweifel gehörte die OUN in den Kreis der radikalen nationalistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit. Die ideologischen Prinzipien dieser Bewegung werden in meinem Buch im Kontext der Rolle von Frauen behandelt (S. 77–83). Ob sie tatsächlich als „faschistisch“ beschrieben werden sollten, ist jedoch eine unabgeschlossene Debatte. „Faschismus“ zu einem Leitbegriff der Untersuchung zu machen, hätte aus meiner Sicht keinen analytischen Mehrwert erbracht. Dies betrifft auch die Rolle von Stepan Bandera, der für mein Buch in erster Linie als symbolische Führerfigur von Bedeutung war. Generell habe ich auch apologetische biografische Studien herangezogen, nicht, weil ich deren Position teile, sondern um die Verherrlichung von Bandera oder auch anderer führender Personen der OUN und UPA zu belegen. Es entsteht der Eindruck, dass der Rezensent systematisch einzelne Passagen aus dem Kontext nimmt und uminterpretiert, um seine These meiner politischen Voreingenommenheit zu begründen.

Aus Platzgründen kann ich leider nur noch auf zwei weitere Vorwürfe des Rezensenten eingehen. John-Paul Himkas Arbeiten schätze ich sehr und ziehe sie auch umfangreich heran. Ich habe ihn nicht als „Politiker“ bezeichnet, sondern – in der Formulierung vielleicht unglücklich – mit einer Äußerung zitiert, in der er auf das Problem der hohen Politisierung der Debatten über OUN und UPA hinweist (S. 68 Fußnote 41). Vor diesem Hintergrund erscheint der Passus über meine angeblich „pejorativen“ Aussagen über Historiker, die die Schoah untersuchen, als ein Versuch, mein Buch zu diskreditieren.

Die Probleme des Romans von Oksana Zabužko werden in meiner Darstellung ausführlich benannt (S. 267-271), auch wenn ich ihn nicht für durchgängig „antisemitisch“ halte. In meinem Buch wird der Roman nicht als historische Quelle für das Verhältnis der UPA zu den Juden, wie der Rezensent unterstellt, sondern als Beispiel für fiktionale Darstellungen von Frauenrollen im Untergrund herangezogen.

Meine Studie ist kein Beitrag zum nationalen Heldenmythos von OUN und UPA, sondern zu seiner kritischen Dekonstruktion. Nicht zuletzt bezieht sie dazu, vor allem in Gestalt von Frauen aus dem Osten der Ukraine, auch die Perspektive von Opfern ihrer Gewalttaten ein.
Einen kritischen Umgang mit der Geschichte der OUN und UPA hat es lange Zeit nicht gegeben. Doch wird offenbar auch heute noch, wie in den sowjetischen Zeiten, dieses Kapitel der ukrainischen Geschichte weiterhin politisch ausgeschlachtet. Es ist bedauerlich, dass dies nicht nur in der politischen Arena im heutigen postsowjetischen Raum, sondern auch auf den Seiten eines wissenschaftlichen Portals stattfindet.

Anmerkungen:
1 Siehe Kai Struve zur Kritik des Rezensenten an seiner Studie „Deutsche Herrschaft, ukrainischer Nationalismus, antijüdische Gewalt. Der Sommer 1941 in der Westukraine“, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-24974 (26.08.2019.)
2 Persönliche Mitteilung von Kai Struve, 30. Juli 2019.


Von Rossoliński-Liebe, Grzegorz04.09.2019

Selbst wenn ich mir vorstellen kann, dass Olena Petrenko mit meiner Rezension nicht vollkommen zufrieden ist, sollte sie die dort formulierte Kritik ernst nehmen. Petrenko hat die erste Monographie über die Rolle von Frauen in der OUN und UPA geschrieben, die ohne Frage ein wichtiger Beitrag zu der existierenden Literatur ist. Leider enthält ihre Studie neben einer Reihe von kleinen Problemen drei große Schwächen: die Marginalisierung des Holocaust in der Geschichte der OUN und UPA, einen unkritischen Umgang mit dem Antisemitismus und der Gewalt in der OUN und UPA und die Nichtrezeption bzw. die Nichtanwendung der Faschismusforschung. In diesem kurzen Text gehe ich nur auf zwei weitere Probleme, die sie in der Replik formuliert hat, ein.

Wie im Buch versucht Petrenko auch in ihrer Replik die Rolle, die ukrainische Nationalisten im Holocaust in der Westukraine spielten, klein zu stellen. Sie schreibt „nach Untersuchungen von Kai Struve dürften nicht wesentlich mehr als ein Prozent der in der Zeit der deutschen Okkupation in der Westukraine ermordeten Juden durch Einheiten von OUN und UPA getötet worden sein, davon ungefähr die Hälfte im Juli 1941 und die andere Hälfte 1943/44“. Die Information, die Kai Struve ihr am Telefon übermittelt hat, ist leider falsch, was sie im weiteren Abschnitt ihrer Replik sogar selbst andeutet. Mitglieder der OUN waren als ukrainische Polizisten an der Ermordung von mehr als 700.000 Juden in Wolhynien und Ostgalizien 1942/43 beteiligt. Diese Morde begingen sie in Kollaboration mit den deutschen Besatzern. Als Einheiten, die mit den deutschen Besatzern nicht „offiziell“ zusammenarbeiteten, ermordeten sie vielleicht ein Prozent. Genau werden wir es nie erfahren. Jedoch auch bei den Pogromen im Sommer 1941 und bei der Ermordung der Juden durch die UPA 1943 und 1944 arbeiteten ukrainische Nationalisten mit den deutschen Besatzern direkt und indirekt zusammen, indem sie ihnen halfen, den Holocaust umzusetzen oder bei verschiedenen Aktionen unterstützten. Eine scharfe Trennlinie zwischen Juden, die nur durch die deutschen Besatzer und jenen, die nur durch ukrainische Nationalsten ermordet wurden, lässt sich aus verschiedenen Gründen nicht ziehen. Forschungen zu diesem Aspekt des Holocaust in der Westukraine liegen vor und es ist bedauerlich, dass Petrenko und Struve sich zu diesem Thema nicht informiert haben.1

Ein weiteres Problem in Petrenkos Replik ist ihr Verständnis des Faschismus und der Faschismusforschung. Petrenko schreibt in der Replik, dass Faschismus bei der Untersuchung der OUN und UPA keinen analytischen Mehrwert erbringt und behauptet, dass Faschismus ein „Leitbegriff“ sei. In ihrem Buch beruft sie sich auf das Konzept des „integralen Nationalismus“ (S. 30–31). Beides ist leider falsch. Die OUN verstand sich vor allem in den 1930er- und frühen 1940er-Jahren als eine faschistische Bewegung, arbeitete mit anderen faschistischen Bewegungen zusammen, erfand ihre eigene Form des ukrainischen Faschismus und versuchte, 1941 einen ukrainisch-faschistischen Staat mit dem Führer Stepan Bandera aufzubauen. Faschismus bestimmte auch teilweise die Handlungen der UPA. Ohne die Anwendung der Faschismusforschung können diese für die Geschichte der OUN wichtige Aspekte nicht ausreichend beleuchtet und erklärt werden. Darin besteht auch der analytische Mehrwert des Faschismus.2

Das Konzept des „integralen Nationalismus“ passt nicht nur ideengeschichtlich zur OUN, sondern ist ein zentraler Aspekt des apologetischen Diskurses über den ukrainischen Nationalismus. Der Terminus „integraler Nationalismus“ wurde zum ersten Mal durch John Armstrong 1955 auf die OUN bezogen.3 Danach verbreitete sich der Begriff rasant unter den Veteranen der OUN, die während des Kalten Krieges außerhalb der Ukraine lebten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion tauchte er in politischen und wissenschaftlichen Diskursen in der Ukraine auf, wo ihn unter anderem Olkesandr Zajcev aufgriff. Armstrong verkehrte in den 1950er- und 1960er-Jahren in Kreisen ukrainischer Nationalisten und war unter ihnen beliebt, weil er ihre Sichtweisen auf den Holocaust und Faschismus übernahm. Er leugnete die Gewalt der OUN und UPA und ersetzte den Begriff des „Faschismus“ mit „integralem Nationalismus“, den er entsprechend revisionistisch auflud. Ideengeschichtlich ist das Konzept auch falsch, weil die OUN Nationalismus nicht mit Monarchismus verband, wie der Vater dieses Begriffs Charles Maurras voraussetzte. Die Geschichte des Begriffes und seiner Instrumentalisierung in der Ukraineforschung ist bereits seit einigen Jahren bekannt.4

Anmerkungen:
1 Siehe dazu: Grzegorz Rossoliński-Liebe, Stepan Bandera. The Life and Afterlife of a Ukrainian Nationalist. Fascism, Genocide, and Cult, Stuttgart 2014, S. 256–260, 272–280, 290; John-Paul Himka, Former Ukrainian Policemen in the Ukrainian National Insurgency. Continuing the Holocaust outside German Service, in: Lessons and Legacies XII. New Directions in the Holocaust Research and Education 2017, S. 141–163; Grzegorz Rossoliński-Liebe, Ukraińska policja, nacjonalizm i zagłada Żydów w Galicji Wschodniej i na Wołyniu, in: Zagłada Żydów. Studia i Materiały 13 (2017), S. 57–79.
2 Zur transnationalen Faschismusforschung und Faschismus in der OUN, siehe Arnd Bauerkämper / Grzegorz Rossoliński-Liebe (Hrsg.), Fascism without Borders. Transnational Connections and Cooperation between Movements and Regimes in Europe from 1918 to 1945, New York/Oxford 2017; Zum Faschismus in der OUN und UPA, siehe: Grzegorz Rossoliński-Liebe, The Fascist Kernel of Ukrainian Genocidal. Nationalism, in: The Carl Beck Papers in Russian & East European Studies, Nr. 2402, 2015.
3 John Armstrong, Ukrainian Nationalism 1939–1945, New York 1955.
4 Grzegorz Rossoliński-Liebe, Die antijüdische Massengewalt ukrainischer Nationalisten in der antikommunistischen, deutschen, jüdischen, polnischen, ukrainischen und sowjetischen Historiografie, in: Gädechtnis und Gewalt. Nationale und transnationale Erinnerungsräume im östlichen Europa, hg. v. Kerstin Schoor / Stefanie Schüler-Springorum, Göttingen 2016, S. 216–218, 220–22; ders., Der europäische Faschismus und der ukrainische Nationalismus. Verflechtungen, Annährungen und Wechselbeziehungen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 65 (2017) 2, S. 153–169; Per Anders Rudling, The OUN, the UPA and the Holocaust. A Study in the Manufacturing of Historical Myths, The Carl Beck Papers in Russian & East European Studies no. 2107, 2011.


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