D. Schmiedel: Selbstzeugnisse christlicher Wehrmachtssoldaten

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Titel
"Du sollst nicht morden". Selbstzeugnisse christlicher Wehrmachtssoldaten aus dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion


Autor(en)
Schmiedel, David
Erschienen
Frankfurt am Main 2017: Campus Verlag
Anzahl Seiten
512 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Ristau, Universität Göttingen

„Gott mit uns“ prangte als Spruch auf den Koppelschlössern von über drei Millionen deutschen Soldaten, die im Juni 1941 in die Sowjetunion einmarschierten. Wie christlich sozialisierte Menschen sich an den zahlreichen (Kriegs-)Verbrechen überhaupt beteiligten, wie sie ihre Handlungen vor Gott rechtfertigten und ihre eigenen Gewalterfahrungen religiös einordneten (S. 15), sind die zentralen Fragen der nunmehr gekürzt vorliegenden, aber mit rund 500 eng bedruckten Seiten in kleiner Schrift immer noch umfangreichen Dissertation von David Schmiedel. Der Verfasser weitet darin die Grundfragen seiner Magisterarbeit auf die Gesamtdimension des Vernichtungskriegs im Osten aus.1 Thematisch steht er damit im Kontext aktueller Forschungsarbeiten wie etwa Dagmar Pöppings ebenfalls 2017 erschienener Studie zu den Kriegspfarrern an der Ostfront.2

Im ersten Teil des Buchs präsentiert Schmiedel seine theoretischen Grundlagen. Er stellt zunächst die verwendeten Quellen vor – Feldpostbriefe, Tagebücher, Erinnerungsberichte, außerdem Tätigkeits- und Seelsorgeberichte als auch Interviews von evangelischen und katholischen Feldgeistlichen. Daran schließen sich theoretische Überlegungen zur Genese der Gottesvorstellung, zur Deutung der Beziehung zwischen Mensch und Gott sowie zur vor allem auf Kirchen und (Feld-)Gottesdienste in der Sowjetunion bezogenen Raumtheorie an. Hier hätte etwas mehr Kürze gut getan, denn manche Ausführungen – etwa zur Genese des „homo homini deus/lupus“-Ausspruchs (S. 71–74) – haben eher Exkurscharakter.

Den historischen Rahmenbedingungen widmet Schmiedel den zweiten Teil seiner Arbeit. Hier stehen einerseits die Erziehung und Sozialisation der Wehrmachtssoldaten im Mittelpunkt, die zum übergroßen Teil Christen gewesen seien (S. 92). Andererseits wird das Verhältnis von Kirche und Nationalsozialismus analysiert – auch in seinen jeweiligen Ausdeutungen nach 1945. Ausführlicher geht der Verfasser auf die Sowjetunion als christliches und nationalsozialistisches Feindbild ein. Zudem gibt er einen Überblick zur Geschichte der Feldgeistlichkeit, die als Institution ab Ende 1942 zunehmend geschwächt wurde, etwa durch die Einführung Nationalsozialistischer Führungsoffiziere (NSFO).

Im umfangreichsten dritten Abschnitt der Arbeit versucht Schmiedel, seine Hauptfragen mittels des empirischen Befunds zu beantworten. Vor allem anhand unzähliger Auszüge aus Briefen, Berichten und weiteren Selbstzeugnissen von Soldaten, besonders auch der evangelischen und katholischen Feldgeistlichen, sollen einerseits das jeweilige Gottesbild und die Rollenzuschreibungen an Gott angesichts der Kriegsereignisse extrahiert werden. Andererseits geht es um die Frage, wie das eigene Erleben von Gewalt und Verbrechen durch die Soldaten religiös gedeutet und eingeordnet wurde. Deutlich wird dabei ganz allgemein, dass das Verhältnis von christlichem Weltbild und nationalsozialistischer Weltanschauung immer wieder (neu) verhandelt sowie je nach Person, Kriegsgeschehen und Situation unterschiedlich bewertet wurde. Beispiele hierfür führt Schmiedel zahlreich an, etwa Berichte über Feldgottesdienste, Seelsorge, Soldatenbegräbnisse aber auch Reflektionen über Feste im christlichen Jahreslauf, wie zum Beispiel Weihnachten. Obwohl er generell ein Verschwimmen von evangelischer und katholischer Konfession konstatiert (S. 21f.), versucht er zumindest in Einzelfällen Unterschiede zwischen Protestanten und Katholiken aufzuzeigen. So hätten letztere etwa den - allerdings lediglich in drei Quellen thematisierten (S. 354) – Segnungen von Waffen weit kritischer gegenübergestanden.

Am Schluss dieses Abschnitts und in seinem Resümee sieht Schmiedel vor allem zwei grundsätzliche Muster, wie christliche Wehrmachtssoldaten ihren Glauben und den Vernichtungskrieg in Einklang gebracht hätten: Die Verschmelzung oder Vermischung christlicher und nationalsozialistischer Motive als „kreative[n] Akt“ (S. 384) und die Abgrenzung, die sich sowohl gegen die Verbrechen an der Ostfront als auch den Glauben an sich richten konnte.

Mit alledem hofft Schmiedel, „zumindest eine Teilantwort [auf eine wichtige Frage der Forschung] formulieren zu können“ (S. 451). Das allerdings gelingt nur sehr bedingt – allein schon die schiere Größe und Vielschichtigkeit des Forschungsgegenstands, der mehrere Millionen Wehrmachtsangehörige über einen Zeitraum von vier Jahren in den Blick nimmt, setzt hier deutliche Grenzen. Die exzessiv zitierten Quellen der christlichen Wehrmachtssoldaten zeichnen vielmehr ein extrem facettenreiches Bild, das von der Rechtfertigung bis zur Kritik an verübten Verbrechen, von der Hinwendung zu oder Ablehnung von Gott, von der ideologischen Überformung des Gottesbildes bis hin zur Kritik des nationalsozialistischen Regimes und Krieges reichen konnte. Zudem waren es oft Soldaten und Feldgeistliche mit besonders engem Bezug zur christlichen Religion, die sich in ihren Selbstzeugnissen überhaupt ausführlicher zu diesen Themen äußerten, die hier entsprechend überrepräsentiert zitiert werden. Leider kommen bei der Lektüre angesichts der Vielzahl der Einzelbeispiele die biografischen Hintergründe zu kurz. Dass sich im Anhang des Buches ein alphabetisches Verzeichnis der Schreiber der Quellen mit Kurzviten findet, schafft hier kaum Abhilfe. Dort, wo einzelne Personen und die Entwicklungen ihrer Gottesvorstellungen ausführlicher dargestellt werden – das ist für den zur Wehrmacht eingezogenen protestantischen Theologen Heinz Reisig und den katholischen Divisionspfarrer Steppich (S. 400–450) der Fall –, gewinnt die Analyse stärker an Tiefe. Zudem sind die militärischen Entwicklungen und der Alltag der Soldaten insgesamt bei der Untersuchung zu wenig mit den Quellen und daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen rückgebunden.

Neben kleineren Fehlern und Ungenauigkeiten bei Begrifflichkeiten mag man der Interpretation der Quellen nicht an allen Stellen folgen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein vermuteter Gottesbezug zu weit hergeholt scheint, weil die Freundin eines Soldaten zum Gottesersatz umgedeutet wird (S. 189). In manchen Fällen ist die Deutung auch falsch: Wenn in einem Feldpostbrief vom 9. November 1941 von dem „Gedenken der Gefallenen des 9. Nov.“ (S. 407) die Rede ist, so handelt es sich nicht, wie von Schmiedel vermutet, um einen Datierungsfehler in Bezug auf gefallene Wehrmachtsoldaten. Gemeint sind hier vielmehr die zu ‚Gefallenen‘ stilisierten getöteten Nationalsozialisten während des Hitler-Ludendorff-Putsches von 1923, derer seit 1939 sogar mit einem offiziellen Feiertag gedacht wurde. Politisches und militärisches ‚Gefallenengedenken‘ waren hier also verknüpft – auch für Interpretationen eine wichtige Grundlage.

Schwer wiegt außerdem, dass der Verfasser die am Überfall auf die Sowjetunion beteiligten christlichen Soldaten neben „andere Gruppen von Tätern im ‚Dritten Reich‘“ (u.a. S. 463) stellt. Obwohl kein Zweifel an der verbrecherischen Dimension des Vernichtungskriegs und der Beteiligung von Wehrmachtsangehörigen bestehen kann, so ist das Urteil zu pauschal und wird den Dimensionen nationalsozialistischer Täterschaft nicht gerecht. Man kann gar ein moralisches Urteil des Verfassers an der Diskrepanz von christlichen Werten und Verbrechen herauslesen, wenn er etwa den Divisionspfarrern die „Notwendigkeit“ unterstellt, sie hätten derartige Vorfälle zu hinterfragen gehabt (S. 243).

Insgesamt betritt die nicht immer ganz einfach zu lesende Arbeit also ein schwieriges Forschungsfeld. Sie liefert Impulse für weitere Forschungsfragen, die zu einem zukünftigen Gesamtbild beitragen können: Wie etwa gestalteten sich die Bezugnahmen auf Gott in den Briefen der daheimgebliebenen Angehörigen der Frontsoldaten? Welche Rolle spielte Gott für die Rotarmisten? Wie wurden die christlichen Soldaten von diesen und der Bevölkerung wahrgenommen? Schließlich bliebe auch nach dem Gegenbild Gottes gerade im Vernichtungskrieg zu fragen, wenn etwa Wehrmachtssoldaten zu ‚Teufelskerlen‘ stilisiert und glorifiziert wurden.

Anmerkungen:
1 Vgl. David Schmiedel, „Habe dem lieben Gott gedankt, daß er wieder einmal so wunderbar bei mir war“. Soldaten der Wehrmacht im Kessel von Stalingrad und ihr Schreiben über Gott dargestellt anhand von Feldpostbriefen von November 1942 bis Januar 1943, Jena 2012.
2 Vgl. Dagmar Pöpping, Kriegspfarrer an der Ostfront. Evangelische und katholische Wehrmachtseelsorge im Vernichtungskrieg 1941–1945, Göttingen 2017.

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