J. Hildt: Der russische Adel im Exil

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Titel
Der russische Adel im Exil. Selbstverständnis und Erinnerungsbilder nach der Revolution von 1917


Autor(en)
Hildt, Julia
Reihe
Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas 9
Erschienen
Göttingen 2018: V&R unipress
Anzahl Seiten
258 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexa von Winning, Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübingen

Zahlreiche russische Adlige schrieben in der Emigration ihre Lebenserinnerungen nieder und publizierten sie bei westlichen Verlagen, zuweilen auflagenstark und lukrativ. In ihrer Dissertation untersucht Julia Hildt eine Auswahl dieser autobiografischen Texte und interpretiert sie als Ausdruck adliger Kommunikation im Exil, die innerhalb der adligen Gemeinschaft wirkte und sich zugleich an eine breitere Öffentlichkeit richtete. Die Memoiren seien zentral für die Selbstvergewisserung und die Selbstdarstellung eines Standes gewesen, den die Revolution von 1917 seiner Heimat, seines Besitzes und seines sozialen Status beraubt habe. Dank der vielen Lebenserinnerungen habe der Adel als gesellschaftliche Gruppe in der Emigration sichtbar bleiben und nach 1991 eine neue Popularität erfahren können, so die Autorin.

Hildt untersucht die Narrative und Topoi, die die adligen Autorinnen und Autoren zu diesem doppelten Zweck der Selbstvergewisserung und Selbstdarstellung einsetzten. Sie fragt, welche Elemente der Vergangenheit den Lesern als wertvoll präsentiert und wie Kontinuitäten zwischen dem vorrevolutionären Russland und dem Adel im Exil hergestellt wurden. Ihr gelingt eine durchweg sehr gut lesbare Darstellung dieser erzählerischen Strategien. Allerdings bleibt die Autorin sehr nah an den autobiografischen Texten und versäumt die Chance, durch thesengeleitete Analysen und eine größere Distanz zu den Memoiren neue Erkenntnisse zu erarbeiten.

Grundlage der Monografie sind adlige Autobiografien, die anhand von drei Kriterien ausgewählt wurden: Die Autoren und Autorinnen waren im zarischen Russland aufgewachsen (Geburtsjahr zwischen 1860 und 1890); sie hatten die Revolutionsjahre, den Bürgerkrieg und die Emigration erlebt; und sie beschrieben die persönlichen wie historischen Ereignisse in ihren Memoiren. In einem Anhang bietet Hildt knappe biografische Informationen zu 14 Autorinnen und Autoren, deren Memoiren wohl entscheidend für ihre Arbeit waren. Im Quellenverzeichnis nennt sie über diese Texte hinaus eine Reihe weiterer, ähnlicher Schriften.

Nach einer kurzen Einführung in die Begrifflichkeiten der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung – Hildt versteht Erinnerung als einen sozialen und kommunikativ gebundenen Prozess – wendet sich die Autorin in drei Großkapiteln den Inhalten der adligen Memoiren zu. Mit dieser Gliederung übernimmt Hildt die Struktur, die die meisten Autobiografien aufweisen. Im ersten Teil geht es um Ideen von „Adligkeit,“ das heißt welche Elemente in den Texten als „typisch adlig“ und daher erhaltenswert präsentiert werden. Die Identität und Selbstwahrnehmung der adligen Autorinnen und Autoren habe sich auf drei Hauptbestandteile gestützt, so Hildt. An erster Stelle stand das adlige Dienstideal, das mühelos aus dem zarischen Russland ins Exil übertragen und in eine Verpflichtung zum Dienst an den emigrierten Landsleuten umgedeutet wurde. Das zweite identitätsstiftende Element war die Verbundenheit mit der adligen Familie und dem adligen Namen, die stets in eine Verbindung mit den Errungenschaften des zarischen Russland gestellt wurden. Schließlich bezogen sich die Autoren und Autorinnen auf Entwürfe einer spezifischen „adligen Persönlichkeit.“ Sie habe Werte wie Ehre, Würde, Patriotismus und Unabhängigkeit vereint und sei von Vorstellungen einer verantwortungslosen Intelligenzija und hartherzigen Bürokraten abgegrenzt worden.

Der zweite Teil wendet sich den Lebenserzählungen der Adligen zu. Hier stehen idyllische Erzählungen aus der vorrevolutionären Zeit den dunklen Jahren von Revolution, Bürgerkrieg und Emigration gegenüber. Die positiven wie die negativen Narrative bestehen aus gut bekannten Elementen. In fast allen Memoiren finden sich Schilderungen einer glücklichen Kindheit mit liebevoller Njanja, strenger elterlicher Erziehung und sommerlicher Gutsidylle. Glück und Harmonie bestimmen auch die idealisierten Erinnerungen an das „Adelsnest,“ dessen Verlust die Adligen als ein Gefühl „existentieller Unbehaustheit“ beschrieben (S. 106). Diese Erzählungen versteht Hildt als soziales Distinktionsmittel des Adels und als narrativen „Fluchtweg“ aus den späteren schwierigen Erfahrungen (S. 93 und 110). Zu den Erzählungen aus dem frühen 20. Jahrhundert gehören Reflexionen über die Bauern, die bereits in den Revolutionsjahren von gutmütigen Nachbarn zu einem unkontrollierbaren, feindlichen Mob umgedeutet worden seien. In den Schilderungen von politischen Ereignissen und Figuren erkennt Hildt das Bemühen der Autoren und Autorinnen, gegen die bolschewistische Geschichtsdeutung anzuschreiben. Trotz der harschen Kritik, die viele Adlige vor 1917 am letzten Zaren übten, sei Nikolaj II. unter dem Eindruck seiner Ermordung durch die Bolschewiki zum „Märtyrerzaren“ stilisiert worden.

Im dritten Großkapitel klopft Hildt die Autobiografien schließlich auf Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Selbstentwürfen im Exil und auf „geschlechtsspezifische Erinnerungsbestandteile“ ab (S. 158). Dies ist ein sehr lohnenswertes Unterfangen, weil Geschlechterrollen die Deutung des eigenen Lebenslaufs entscheidend prägen und wir insbesondere über männliche Rollenentwürfe der zarischen Eliten noch viel zu wenig wissen. Die männlichen Autoren hätten sich gegen den sowjetischen Vorwurf, dass die Emigrierten Vaterlandsverräter seien, gewehrt und Selbstbilder des Vaterlandsverteidigers, des Bewahrers der russischen Kultur und Spiritualität und des wahren Patrioten entworfen. Frauen hingegen hätten die Veränderungen der Revolutions- und Exiljahre zumeist als Erweiterung ihrer Möglichkeiten präsentiert und sich selbst als „Überlebenskünstlerinnen“ und Emanzipationsgewinnerinnen stilisiert (S. 180).

Die Monografie bietet einen hilfreichen Zugang zu der wichtigen Textgruppe adliger Memoiren, die über die Jahrzehnte hinweg wirkmächtig waren, historische Konjunkturen überdauerten und bis heute einflussreich bleiben. Julia Hildt weiß gut um die Fallstricke ihrer autobiografischen Texte. Die Selbststilisierungen der adligen Autorinnen und Autoren werden als solche erkannt und benannt. Trotzdem gibt sie sich zu oft mit einer Nacherzählung der Narrative zufrieden. Die Memoiren sind zugleich der Gegenstand und die einzigen Quellen ihrer Arbeit. Ein möglicher Ausweg aus dieser engen Bindung wäre zum Beispiel eine gründlichere Auseinandersetzung mit den deutschen Forschungen zur Adligkeit als Kulturmodell oder zum Adel als Erinnerungsgruppe gewesen.1 Eine größere Distanz hätte auch die tiefergehende Beschäftigung mit der bestehenden Forschung zu Geschlechterrollen im russischen Reich ermöglicht. Adlige Frauen übernahmen beileibe nicht im Exil „erstmals Verantwortung für ihr Einkommen“ (S. 212). Tatsächlich hatten russische Adelsfrauen seit Mitte des 18. Jahrhunderts über außergewöhnliche Besitzrechte verfügt.2 Woher stammt also das Bedürfnis der Autorinnen, berufliche und finanzielle Unabhängigkeit erst den Emanzipationsschüben von Weltkrieg, Revolution und Exil zuzuschreiben? Zahlreiche Erklärungen sind denkbar: Vielleicht war es ein Versuch, sich mit den tragischen Ereignissen zu versöhnen; vielleicht eine Form der Annäherung an die Aufnahmegesellschaft; möglicherweise spielt auch die im 19. Jahrhundert wachsende Bedeutung von Ideen der Häuslichkeit (domesticity) eine Rolle, die das Familienheim zumindest normativ zum zentralen Ort von weiblicher Aktivität erhob. Überlegungen in diese und andere Richtungen hätten der Monografie gutgetan und sie besser für die breitere Kulturgeschichte des europäischen Adels anschlussfähig gemacht.

Anmerkungen:
1 Daniel Menning, Adlige Lebenswelten und Kulturmodelle zwischen Altem Reich und „industrieller Massengesellschaft“ – ein Forschungsbericht, in: H-Soz-Kult, 23.09.2010, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2010-09-001 (07.06.2019).
2 Michelle Lamarche Marrese, A Woman's Kingdom. Noblewomen and the Control of Property in Russia, 1700-1861, Ithaca 2002.

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