A. Langenbruch (Hrsg.): Klang als Geschichtsmedium

Cover
Titel
Klang als Geschichtsmedium. Perspektiven für eine auditive Geschichtsschreibung


Herausgeber
Langenbruch, Anna
Reihe
Musikgeschichte auf der Bühne 1
Anzahl Seiten
279 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Emily Dreyfus, Germanic Studies, University of Chicago / Berlin Program for Advanced German and European Studies, Freie Universität Berlin

Seit dem Aufkommen des medienwissenschaftlich geprägten Forschungsfelds „Sound Studies“ in den letzten rund 20 Jahren entwickelt sich bis heute ein zunehmend reger Austausch mit den benachbarten Disziplinen der historischen bzw. populären Musikwissenschaft. Mit einem Blick auf die vielen Schnittstellen, die sich hier ergeben, sowie auf das wachsende zeithistorische Interesse für die Geschichte der Sinne betont der Sammelband „Klang als Geschichtsmedium“ den heuristischen Wert musikalischer Bühnenereignisse für das historische Verständnis. Als Korrektiv zur primär textuellen, inzwischen vielfach auch visuellen Orientierung der Geschichtswissenschaft rückt der von der Musikwissenschaftlerin Anna Langenbruch herausgegebene Band das Gehörte in den Vordergrund und differenziert den geläufigen Begriff des Erfahrungshorizonts dadurch nachdrücklich. In vielseitigen Beiträgen wird ein breites Spektrum geisteswissenschaftlicher Disziplinen und Methoden einbezogen. Die Autorinnen und Autoren stellen geschichtstheoretische Überlegungen an, kombiniert mit methodologisch informierten Fallstudien einzelner Episoden der Musik- und Bühnengeschichte. Der Band eröffnet die neue Reihe „Musikgeschichte auf der Bühne“.

Das Buch gliedert sich in vier Abschnitte mit insgesamt neun Beiträgen: „Klang und Geschichtstheorie“, „Geschichten des Hörens“, „Klangliche Repräsentationen von Geschichte“ sowie „Auditive Wissensformen und Geschichte“. Den Anfang machen Daniel Fulda und Angela Grünberg mit Überlegungen zum ontologischen Status des Klangs und zu den Möglichkeiten seiner Historisierung. Den dritten Beitrag liefert die Herausgeberin Anna Langenbruch mit einer Diskussion der „klingenden Geschichte“ anhand der wenig bekannten Oper „Chopin“ von Giacomo Orefice (Uraufführung 1901). Diese dient als paradigmatisches Beispiel für intermediale Formen der Musikgeschichtsschreibung und für die Verflechtung künstlerischer und historiographischer Tendenzen. Im zweiten Abschnitt befasst sich Michael Werner mit aktuellen erfahrungsgeschichtlichen Modellen der Klangwahrnehmung, während Martin Kaltenecker ein differenziertes Bild der historischen Figur des „Ohrenzeugen“ im Krieg zeichnet. Der dritte Teil orientiert sich wieder stärker an Langenbruchs Ansatz zur Metaebene von hybriden Theaterstücken, die selbst musikalische Figuren thematisieren, wie beispielsweise die Bühnenwerke über den Barock-Komponisten Giovanni Battista Pergolesi (1710–1736), die im Mittelpunkt der Untersuchung Arnold Jacobshagens steht. Anschließend analysiert Susanne Binas-Preisendörfer die Rolle der Popmusik in der massenmedialen dokumentarischen und fiktionalen Vergegenwärtigung des „Mauerfalls“ von 1989. Im letzten Abschnitt des Bands gehen Medienhistoriker des Fachgebiets Audiokommunikation der Frage nach, wie sich historische Klangereignisse mithilfe neuester generativer Technologien sinnvoll rekonstruieren lassen, um musikhistorisches Wissen zu gewinnen.

In seiner methodologischen Reflexion kommt als erster der Literaturwissenschaftler Daniel Fulda zu dem Schluss, dass Klangphänomene nur dann als Quellen für die Geschichtsschreibung dienen können, wenn sie schriftsprachlich gerahmt sind (S. 37). Für die Praxis von „Sound History“ als Forschungsmethode bedeutet dies, dass stets eine Textualisierung vorgenommen werden muss, die historische Klangdokumente narrativ einordnet. Angela Grünberg geht im Folgenden der Frage nach, wie Klänge im extramusikalischen Sinne beschaffen sein müssen, um Träger für außerklangliche Inhalte zu werden. Dabei verfolgt sie den reizvollen Gedanken, dass die für die Geschichtsschreibung relevanten Sound-Daten zunächst eine epiphanische Funktion innehaben sollten, indem sie auditive Spuren eines geschichtlichen Gegenstands aufdecken. Für Grünberg gelten „absichtslose“ Klänge des Alltags als solche Fossile der Vergangenheit. Werden sie von geschulten Hörern dechiffriert, eröffnen diese Klänge einen Mehrwert an historischem Wissen über ehemalige Lebensformen. Außerdem weist Grünberg auf das neuere Forschungsfeld der Klangökologie hin: Hier schlagen Wissenschaftler/innen eine Brücke zwischen den Klangveränderungen in der Natur und dem Massensterben gesamter Ökosysteme im Anthropozän.

Zu einer tiefergehenden Analyse eines historischen Klanggegenstands kommt es im darauffolgenden Beitrag, in dem Anna Langenbruch sich mit dem populären Genre des „Musikgeschichtstheaters“ auseinandersetzt. Der intermediale Terminus stammt von der Autorin selbst und beschreibt eine musikalische Gestaltung historischer Stoffe, etwa der Biographien von Komponisten. Auch para-theatralische Quellen, die von der Rezeption des jeweiligen Stückes zeugen, sind für Langenbruch von Interesse. Durch das konzeptuelle Stichwortpaar „process“ und „product“ bzw. Aufführung und Ausführung weist die Autorin auf Gemeinsamkeiten der Geschichtsschreibung und des Musiktheaters hin. Dabei plädiert sie für eine Ausweitung des Begriffs „Textualität“ im Denken über Geschichte und deren Niederschrift – gerade da, wo intertextuelles Komponieren als kreatives Modell zur Geltung kommt und die porösen Grenzen zwischen Kunst- und Populärmusik aufzeigt. Über Langenbruchs Beitrag hinaus mag man fragen, wie sich solche historischen Gegebenheiten im Theatermilieu in eine Frühgeschichte des Kitschs einordnen lassen; unweit ihrer Diskussion eines Popularisierungsprozesses der Hochkultur schwebt Adornos Theorie der Regression des Hörens.

Einen historischen Überblick zum Hörverhalten im Rahmen einer angestrebten europäischen Erfahrungsgeschichte liefert im darauffolgenden Teil des Bandes Michael Werner. Sein Beitrag bietet eine akustische Beschreibung des „denkenden Ohrs“ im 2017 eröffneten Pierre Boulez Saal in Berlin1 sowie prägnante Kommentare zur vermeintlich historisch „informierten“ Aufführungspraxis in der heutigen Musikwelt. Werner skizziert die hermeneutischen Schwierigkeiten bei der medialen Überlieferung des Klangs anhand historischer Tonquellen. Es folgt Michael Kalteneckers plastische Darstellung akustischer Räume während der deutschen Belagerung von Paris 1870/71 und im Ersten Weltkrieg. Nach den theoretischen Exkursen der vorhergehenden Autorinnen und Autoren bringt Kalteneckers Zusammenstellung von zeitgenössischen Dokumenten eine willkommene narrative Unmittelbarkeit und Farbe in die Aufsatzsammlung. Seine Quellenauswahl lässt die wüstenhafte Landschaft der Schützengräben lebendig werden und veranschaulicht auf prägnante Weise die zum Überleben notwendige Erweiterung visueller um auditive Wahrnehmung – wie Soldaten mit den Ohren sehen lernten. Die historischen Texte weisen auf die gewaltigen Veränderungen des menschlichen Sensoriums hin, die mit der Anpassung an die Akustik der Kriegsmaschinerie einhergingen.

Arnold Jacobshagens Behandlung des Mythos des in jungen Jahren an Tuberkulose gestorbenen Giovanni Battista Pergolesi verbindet Operngeschichte mit Theatersemiotik. In seiner präzisen Analyse der Dramaturgie mehrerer Stücke über Pergolesi verliert man das Thema „Klang“ ein wenig aus den Augen. Jacobshagen gelingt es jedoch eindrucksvoll, die inhärent hybriden Merkmale der spezifischen Theaterform herauszuarbeiten. Zum Teil anhand persönlicher Erfahrungen erzählt Susanne Binas-Preisendörfer von den collageartigen Klangpraktiken Ost-Berliner Bands in der Umbruchphase 1989/90. Anregend ist, dass sie ihren Rückblick auf die Popmusikgeschichte und die damaligen kollektiven Klangexperimente mit dem Ansatz der Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann verbindet. Dabei analysiert die Autorin Mechanismen hegemonialer Erinnerungspolitiken in medialen Darstellungen wie Fernsehdokumentationen, in denen klangliche Materialien aus der Wendezeit formelhaft eingesetzt werden. Gut nachvollziehbar demonstriert Binas-Preisendörfer den Fetisch-Charakter bestimmter Klang-Artefakte, wie Ausschnitte von Politikerreden, die in der Geschichtskonstruktion zu „sound bites“ wurden.

Technisch oder gar fachmännisch geht es dann im kollaborativ verfassten Artikel der Medienwissenschaftler Stefan Weinzierl, Steffen Lepa und Omid Kokabi zu. Unter den Stichworten „Digital Humanities“ und „Cyberphänomenologie“ produziert das Team virtuelle Rekonstruktionen von akustischen Umgebungen der Vergangenheit. Vorgestellt werden die Umrisse eines digitalen Computermodells des „Theaters an der Wien“, in dem zahlreiche Uraufführungen von Orchesterwerken Ludwig van Beethovens stattfanden. Wie die Autoren offen zugeben, wirft die Methode möglicherweise mehr Fragen auf, als sie Antworten liefert. Offen bleibt etwa, wie wir uns Anwendungen mit solchen gewonnenen Daten in den Geisteswissenschaften vorzustellen haben. Zu Recht räumen die Autoren die stark relativierende Wirkung des eigenständigen Wahrnehmungshorizonts des historischen Subjekts ein; hier bringen quantitative Messungen die Geschichtsschreibung nur bedingt weiter. Auf luzide, logisch strukturierte und zugleich intellektuell anspruchsvolle Weise entfaltet der Musikwissenschaftler Alexander Rehding schließlich eine Kritik der klanglosen und herrschenden Musiktheorie, genannt „common practice“. Anhand der Kittler’schen Denkfigur des Aufschreibesystems untersucht Rehding vergleichend die erkenntnistheoretische Systematik früherer Theorie-Modelle aus der Antike und dem 19. Jahrhundert, was einen Blick auf das jeweilige gängige Instrument (z. B. das moderne Klavier) als verdinglichtes Theorem eines bestimmten Zeitalters erlaubt.

Der Sammelband „Klang als Geschichtsmedium“ geht auf eine Tagung des Hanse-Wissenschaftskollegs Delmenhorst von 2016 zurück und fällt mit dem Beginn der zweiten Förderphase der DFG-geförderten Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe „Musikgeschichte auf der Bühne“ 2019 zusammen.2 Wie bei einer Konferenz zu erwarten, stellen die einzelnen Autorinnen und Autoren die Kernfragen der gemeinsamen Untersuchung recht unterschiedlich vor; demzufolge fällt es schwer, dem breit angelegten Band eine übergreifende Aussage zu entnehmen. Dennoch mögen viele Leser/innen von dieser Lektüre profitieren: als eine „Problemskizze“ im Sinne Michael Werners zu interdisziplinären Herangehensweisen im aktuellen Umgang mit „Sound Studies“, Theater-, Musik- und Geschichtswissenschaft. Auf die weitere Arbeit der Gruppe darf man gespannt sein.

Anmerkungen:
1 Vgl. https://boulezsaal.de/de/der-saal/vision (19.05.2019).
2 Zu dieser Forschungsgruppe siehe https://uol.de/musikgeschichte-auf-der-buehne/ (19.05.2019).