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Titel
Geschlecht und Heimerziehung. Eine erziehungswissenschaftliche und feministische Dekonstruktion (1900–heute)


Autor(en)
Windheuser, Jeannette
Reihe
Historische Geschlechterforschung 1
Anzahl Seiten
342 S.
Preis
€ 44,99
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Azziza B. Malanda, Hamburg

Jeannette Windheuser untersucht in ihrer Studie die Kategorie Geschlecht im Kontext von Heimerziehung in der BRD im Zeitraum von 1900 bis heute. Bisherige Forschungsarbeiten zu diesem Themenkomplex konzentrieren sich vorrangig auf die Erziehung und Lebenssituation von Mädchen und/oder Jungen sowie auf Geschlechterverhältnisse im Rahmen stationärer Jugendhilfe.1 Von einer zweigeschlechtlichen Unterscheidung rückt Windheuser jedoch ab und verfolgt stattdessen zwei grundlegende feministische Fragestellungen: diejenige nach den Bedingungen der Unterdrückung qua Geschlecht sowie diejenige nach der allgemeinen Bedeutung dieser sozialen Kategorie. Damit leistet die Studie einen Beitrag zur erziehungswissenschaftlichen und historischen Frauen- und Geschlechterforschung sowie zur Sozialpädagogik.

Die Arbeit beginnt mit zwei einleitenden Abschnitten. In einer „wissenschaftlich-(auto)biographischen“ Revision (S. 295) legt die Autorin zunächst ihren Forschungs- und Erkenntnisweg offen. So beabsichtigte sie zunächst, ihre Ergebnisse aus der Analyse von damals bereits erhobenen, fotografiegestützten Interviews zu gewinnen. Dabei wurde sie von der Frage geleitet, inwiefern Geschlecht aus gendertheoretischer und queerer Perspektive in der Heimerziehung untersucht werden könnte. Während des Schreibprozesses und in Anbetracht des Forschungsdesiderats zu Geschlecht in der Heimerziehung erfuhr ihre Fokussierung jedoch eine Verschiebung, sodass fortan Empirie und feministische Theorie selbst zu Objekten der Erforschung wurden. Auf die Revision folgt dann die eigentliche Einleitung, die knapp in die Untersuchung einführt. Windheuser verzichtet an dieser Stelle auf den Forschungsstand und widmet diesem stattdessen im ersten Kapitel einen eigenen Abschnitt.

Die Untersuchung gliedert sich in drei Hauptkapitel. Das erste, sehr umfangreiche Kapitel widmet sich der historischen Kontextualisierung des Gegenstandes. Trotz des breiten Untersuchungszeitraums, 1900 bis ca. 2017, gelingt es der Autorin, die Geschichte der Heimerziehung in ihrer Verwobenheit mit und den jeweiligen Bedingungen der Kategorie Geschlecht pointiert zu rekonstruieren. Für ihren feministisch-genealogischen Rückblick legt Windheuser drei Zäsuren fest, anhand derer sie Transformationen und Stagnationen in der Heimerziehung in Bezug auf die Kategorie Geschlecht festmacht: Als erste Zäsur benennt sie die erste Frauenbewegung und verweist auf die sozialpädagogische Institutionalisierung und Professionalisierung Sozialer Arbeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie deren Transformation im Nationalsozialismus. Die zweite Zäsur behandelt, ausgehend von der westdeutschen Nachkriegszeit, die Heimkampagne Ende der 1960er-Jahre, die zweite Frauenbewegung sowie die Mädchenhausbewegung der 1980er-Jahre. Den Abschluss bildet die dritte Zäsur mit einem Zeitrahmen von 1990 bis in die Gegenwart. Während in den ersten beiden Zeitabschnitten „die Integration feministischer Forderungen in Regelangebote und Staatspolitik“ (S. 79) im Mittelpunkt stand, wird erst im Verlauf der dritten Phase, unter den bundesdeutschen ökonomischen und politischen Bedingungen des Neoliberalismus, eine Übernahme feministischer Forderungen erkennbar. In der Gegenwart finden diese Änderungen Ausdruck im Kinder- und Jugendhilfegesetz, im Gender Mainstreaming des Kinder- und Jugendhilfeplans, in der sich etablierenden Jungenpädagogik sowie in einer neu gedachten Frauen- und Familienpolitik. Innerhalb der dritten Zäsur platziert Windheuser zudem den Forschungsstand, wodurch das Wissen über Geschlecht und Heimerziehung selbst Teil eines historischen Prozesses wird. Darüber hinaus bindet sie in alle Zäsuren unter anderem das Verhältnis der Kategorien Klasse, „Rasse“/Nation und Geschlecht ein (S. 31). Diesbezüglich findet sich in einer Fußnote der Vermerk, dass die Kategorien Geschlecht, „Rasse“ und Klasse unter anderem als Produkte des Kolonialismus und als konstituierend für die Moderne zu betrachten sind (ebd.). Es wäre wünschenswert gewesen, nicht nur allgemein auf Kolonialismus zu verweisen, sondern explizit das Beispiel des deutschen Kolonialismus heranzuziehen. Denn gerade in dessen Kontext lassen sich die Konstruktionen und Verwobenheit von „Rasse“ und Geschlecht – die auch von der deutschen Frauenbewegung getragen wurden – sowie ihr genealogisches Verhältnis zur Gegenwart deutlich nachzeichnen.2

Im zweiten Kapitel wird die Kategorie Geschlecht dann einer erkenntnistheoretischen Dekonstruktion unterzogen. Unter Bezugnahme auf Jacques Derrida betreibt Windheuser hier eine dekonstruierende Wissenschaftskritik, die mit den feministischen Theorien Luce Irigarays und Heide Schlüpmanns ergänzt und vertieft wird. Das Kapitel setzt ein gewisses Vorwissen dekonstruktivistischer und/oder feministischer Theorien voraus, ohne die es den Leser/innen schwer fallen dürfte, den philosophischen und theoretischen Ausführungen der Autorin zu folgen und zu einer kritischen Einschätzung zu gelangen. Die „mittige“ Platzierung des methodologischen Kapitels begründet Windheuser damit, dass die Erkenntnistheorie nicht den Ausgangspunkt der Studie bildet, sondern die Arbeit in einen historischen, theoretischen sowie empirischen Teil spaltet.

Es folgt das dritte Kapitel, die empirische Erhebung, bei der die dritte Zäsur des ersten Kapitels, 1990 bis heute, den historischen Rahmen bildet. Als Datenmaterial dienen fünf fotografiegestützte Leitfadeninterviews mit Jugendlichen aus stationären Erziehungseinrichtungen, die von der Autorin selbst erhoben wurden. Die bereits zu Beginn des Forschungsprojekts durchgeführte Fotobefragung verfolgte das Ziel, herauszufinden, ob Geschlecht beziehungsweise der geschlechtliche Körper für die Jugendlichen im Selbstportrait eine Rolle spielt und falls ja, auf welche Weise. Bei der Analyse des Materials folgt Windheuser keinem gängigen Auswertungsverfahren, sondern generiert ihre Erkenntnisse durch die in Kapitel zwei eingeführte feministisch-erziehungswissenschaftliche Dekonstruktion. In Bezug auf die Auswahl der Interviews räumt Windheuser ein, in der Anlage der Studie blind gegenüber der Kategorie „Rasse“/Nation gewesen zu sein (S. 207). Dieser Umstand ist bedauerlich, da so die Positionen derjenigen unsichtbar bleiben, deren selbstgewählte oder zugeschriebene Identitäten aufgrund ihrer Herkunft, Religion und/oder äußerer Merkmale intersektional mit „Rasse“/Nation verbunden sind bzw. von Anderen verbunden werden. Darüber hinaus suggeriert die Auslassung von „Rasse“/Nation eine vermeintliche weiße Normativität der Kategorie Geschlecht.3 Die Arbeit endet mit einer Zusammenschau des Forschungswegs, den wesentlichen Erkenntnissen, zwei Anhängen zur qualitativen Erhebung sowie der Literaturliste.

Für Windheuser teilen die historische Frauen- und Geschlechterforschung und Sozialpädagogik, sprich Frauen und Heimzöglinge, die Erfahrung von Angewiesenheit und Ohnmacht. Die Ohnmachtserfahrung findet dabei „unter der Bedingung einer Unterdrückung qua Geschlecht und Generation statt“ (S. 282), während die mit einer geschlechtlichen wie generationalen Differenz einhergehenden Angewiesenheit „durch das männlich-bürgerliche Subjekt in den Erfahrungsraum des (vermeintlich) ihm Anderen ‚ausgelagert’ wird“ (ebd.). Innerhalb dieser phallozentrischen Ordnung werden sowohl Frauen als auch Heimzöglinge von einem unmarkierten, körperlos-autonomen und dennoch geschlechtlichen Subjekt betrachtet und markiert (ebd.). Diese geschlechtliche und sexuelle Ordnung verweist auf ein zentrales Ergebnis der empirischen Untersuchung. Denn ungeachtet gegenwärtiger staatspolitischer Integration feministischer Forderungen nach Gleichberechtigung wird anhand der Äußerungen und bildlichen Selbstdarstellungen der interviewten Jugendlichen beispielhaft deutlich, dass in ihrer jeweiligen Lebenswelt eine phallozentrische Ordnung und stereotype Geschlechterrollen weiterbestehen. Windheuser greift in diesem Zusammenhang die verallgemeinernde Formel „Mädchen prostituieren sich, Jungen probieren sich“ (S. 245) auf, welche stellvertretend für eine seit dem 1900 Jahrhundert im Fürsorgekontext virulenten geschlechtsspezifischen Verwahrlosungsannahme steht.

Windheuser legt eine anregende Studie vor, die nicht nur dazu auffordert, Geschlecht in Bezug auf Heimerziehung, sondern auch in gesamtgesellschaftlichen und politischen Kontexten kontinuierlich weiterzudenken. Denn erst durch die Anerkennung und Benennung geschlechtlicher und sexueller Differenz sowie durch Erkenntnisse über deren Bedingungen und Bedeutungen können auf lange Sicht sich hartnäckig haltende Herrschaftsverhältnisse aufgebrochen werden.

Anmerkungen:
1 Michael Behnisch, Jungen in den Erziehungshilfen, in: Michael Matzner / Wolfgang Tischner (Hrsg.), Handbuch Jungenpädagogik, Weinheim 2010, S. 170–182; Julia Fontana, „Fürsorge für ein ganzes Leben“ – Spuren der Heimerziehung in den Biographien von Frauen, Opladen 2007.
2 Die Forschung zur Heimerziehung im kolonialen Kontext steht noch in den Anfängen. Vgl. dazu u.a.: Frank Becker, Die „Bastardheime“ der Mission. Zum Status der Mischlinge in der kolonialen Gesellschaft Deutsch-Südwestafrikas, in: ders. (Hrsg.), Rassenmischehen – Mischlinge – Rassentrennung. Zur Politik der Rasse im deutschen Kolonialreich, Stuttgart 2004, S. 184–219. (An dieser Stelle muss jedoch auch auf die unkritische Verwendung kolonial-rassistischer Terminologien des Autors hingewiesen werden.) Einen Überblick über die Verflechtung von „Rasse“, Klasse, Geschlecht bieten u.a. folgende Schriften: Marianne Bechhaus-Gerst / Mechthild Leutner (Hrsg.), Frauen in den deutschen Kolonien, Berlin 2009; Annette Dietrich, Weiße Weiblichkeiten. Konstruktionen von „Rasse“ und Geschlecht im deutschen Kolonialismus, Bielefeld 2007; Elke Kleinau, Das Eigene und das Fremde. Frauen und ihre Beteiligung am kolonialen Diskurs, in: Ingrid Lohmann / Ingrid Gogolin (Hrsg.), Die Kultivierung der Medien. Erziehungs- und sozialwissenschaftliche Beiträge, Opladen 2000; Katharina Walgenbach, “Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur“. Koloniale Diskurse über Geschlecht, „Rasse“ und Klasse im Kaiserreich, Frankfurt am Main 2005.
3 Vgl. dazu u.a.: Audre Lorde, Alter, Race, Klasse und Gender. Frauen* definieren ihre Unterschiede neu, in: Natasha A. Kelly (Hrsg.), Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte, Münster 2019, S. 110–121.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/