G. J. Albert: Das Charisma der Weltrevolution

Cover
Titel
Das Charisma der Weltrevolution. Revolutionärer Internationalismus in der frühen Sowjetgesellschaft 1917–1927


Autor(en)
Albert, Gleb J.
Reihe
Industrielle Welt 95
Erschienen
Köln 2017: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
631 S.
Preis
€ 85,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wladislaw Hedeler, Berlin

Das vorliegende Buch basiert auf einer Dissertation an der Universität Bielefeld aus dem Jahre 2014 und bietet eine acht Kapitel umfassende, quellengesättigte und materialreiche Studie zum revolutionären Internationalismus in der frühen Sowjetgesellschaft.

Worum geht es in dem Buch? „Die Studie strebt eine kulturhistorisch und praxeologisch informierte Gesellschaftsgeschichte des Internationalismus an, und will Antworten darauf geben, warum der Bezug auf das revolutionäre Globale für bestimmte gesellschaftliche Gruppen attraktiv und identitätsstiftend sein konnte, in welchen Formen sich diese Bezüge in politischen und gesellschaftlichen Diskursen manifestierten und durch welche Praktiken Internationalismus für die sowjetische Gesellschaft konstituierend sein konnte.“ (S.18) Leider beschränkt sich der Autor in der vorgelegten Gesellschaftsgeschichte auf eine Untersuchung des bolschewistischen Flügels der russischen Sozialdemokratie. Weder die „Menschewiki-Internationalisten“ noch die „linken Sozialrevolutionäre“, mit denen die Bolschewiki zunächst die Regierung bildeten, werden von ihm berücksichtigt. Im Untersuchungszeitraum traten sie als wichtige Akteure und relevante politische Kräfte hervor. Eine Begründung für die selektive Konzentration auf die Bolschewiki fehlt im Buch.

Die Arbeit setzt mit der Februarrevolution 1917 an. Im 2. Kapitel werden „Drei ‚Zeitfenster‘ der Weltrevolution im sowjetischen Spiegel“ untersucht (es handelt sich um die Revolutionen 1918/19, den deutschen Oktober 1923 und den britischen Generalstreik 1926). Im 3. Kapitel stellt Albert die bis 1927 agierenden politischen Akteure vor, die er in „Aktivisten“, „Opportunisten“ und deren Mischform, die „Funktionäre“, unterteilt. Die darauffolgenden Kapitel haben die Untersuchung der von diesen Akteuren praktizierten und verhinderten Praktiken zum Inhalt. Ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 565–624) sowie ein Personen- und Ortsregister (S. 625–631) schließen den Band ab.

In der Einleitung (S. 17–73) grenzt sich der Autor von der für die Stalinzeit und den Poststalinismus typischen Begriffsverengung (proletarischer Internationalismus) ab. Hierbei stützt er sich u. a. auf Vorarbeiten von Fred Halliday, der eine Internationalismustypologie in Abgrenzung zu liberalen und imperial-hegemonialen Internationalismen entwickelt hat (S. 27) sowie auf Robert Service (S. 152). Zudem folgt Gleb Albert den Vertretern einer neuen Kommunismusforschung, die die Fixierung auf den nationalen Analyserahmen zu überwinden sucht (S. 30) oder, wie Sheila Fitzpatrick, Akteurshandeln in den Vordergrund rückt. (S. 49) Ferner lehnt er eine Reduzierung und Verengung des Stalinismus auf eine stark personenzentrierte Gewaltgeschichte ab. (S. 33)

Im Fokus der Folgekapitel steht die Frage nach Wirkung und Wirksamkeit des Internationalismus in der vorstalinschen Sowjetunion, sowie die Frage nach dem Wie und Warum seines Scheiterns. (S. 37) Mit der Arbeit soll im Unterschied zu den wenigen russischen Autoren (etwa Wladimir Buldakow, Oleg Chlewnjuk oder Alexander Vatlin), die sich nach Auffassung des Autors dem Thema unter dem Aspekt der Gewaltgeschichte oder der praktizierten Machtpolitik der Partei- und Kominterneliten zugewandt hatten, Neuland betreten werden. (S. 40)

Nicht alles, so der Autor, musste in Sowjetrussland von Oben nach Unten oder von Moskau in die Provinz durchgestellt werden. Die Veralltäglichung der Vorgaben erfolgte schnell. Doch gerade deshalb wurde ein erforderlicher Kurswechsel im Rahmen der Internationalismus-Kampagnen für die Vertreter der Staatspartei zum Problem. Der Autor führt einige Beispiele für die „Nichtübereinstimmung von Agitation und Information“ an. Veranstaltungen, auf denen etwa die Erfolge der deutschen Revolution im Mittelpunkt standen, wurden auch dann noch durchgeführt, als deren Scheitern längst Tatsache und Gegenstand der Berichterstattung in der Tagespresse war. Die Beschreibungen derartiger Wendungen gehören zu den gelungensten Passagen des Buches. Eine Analyse solcher Ereignisse erfolgt aufgrund der desolaten Quellenlagen in der Regel nicht; es bleibt bei Arbeitshypothesen (S. 263, 321). Nach der immer wieder enttäuschten Hoffnung der russischen Klassenbrüder auf die Revolution im Westen „war der westliche Proletarier vor allem der bemitleidenswerte, verfolgte Revolutionär im kapitalistischen Verlies, der die Hilfe der sowjetischen Massen benötigte.“ (S. 126)

Beim Sichten der in den überbordenden Sammelfußnoten zitierten Quellen fällt auf, dass die Auswertung der im Untersuchungszeitraum stattgefundenen Kominternkongresse im Vergleich mit der Untersuchung der drei „Zeitfenster“ (hier dominiert der deutsche Oktober) viel zu kurz kommt. Jewgeni Preobrashenski und Leo Trotzki sind u. a. als Kritiker der den II. Kominternkongress begleitenden Spektakel hervorgetreten. Ihre Einwände sind publiziert und von Vatlin in seinen Publikationen über den Kongress ausgewertet worden.

Auf eine Analyse der Stalin vorgelegten Berichte über die Stimmung in der Bevölkerung wird unter Hinweis auf die „Überrepräsentation ‚negativer‘ Stimmungen“ (S. 65) verzichtet. Als „zentrale Quellengattung“ dienen autobiografische Texte (S. 67) und Feldforschungsergebnisse (S. 323), deren „pessimistisches Fazit“ der Autor in der von ihm skizzierten „Geschichte des Scheiterns des Internationalismus“ (S. 549) immer wieder beklagt und zu relativieren sucht.

Das dritte Kapitel leitet der Autor mit der Feststellung ein, dass man „nicht einfach von dem Bolschewiken ausgehen“ kann. (S. 146) Warum Vertreter der in Russland agierenden nichtbolschewistischen linken Parteien, die den Internationalismus im Programm hatten und diesen gegenüber den Bolschewiki verteidigten, überhaupt keine Erwähnung finden, wird nicht erklärt. Den öffentlichen Raum, so hebt er zu Recht hervor, hatten ja nicht nur die Bolschewiki erobert. (S. 312) Das gegen die Bolschewiki gerichtete, den Internationalismus einfordernde Protestpotential wird nicht thematisiert. Dabei hätten unter Rückgriff auf vorliegende Quelleneditionen die Positionen anderer Parteien sowie deren Scheitern im Untersuchungszeitraum analysiert werden können. Das jenseits der Bolschewiki vorhandene politische Spektrum bleibt leider außen vor.

Auch im Hinblick auf die über das Buch verstreuten literarischen Beispiele (Michail Bulgakow und Warlam Schalamow seien an dieser Stelle stellvertretend genannt) fällt eine einseitige Auswahl auf. 1 Autoren wie Andrej Platonow 2, Michail Sostschenko3 oder Boris Sawinkow 4, die viel zum Thema geschrieben haben, werden nicht zitiert. Oleg Tabakow in der Rolle des Iskremas 5, um im Bild zu bleiben, bringt seinen Stern nicht zum Leuchten.

„Um den Bauern verständlich zu sein, sollte man mit ihnen erst über die dritte Kuh und dann über die Dritte Internationale reden“, ist einer zeitgenössischen Handreichung für Agitatoren zu entnehmen. Der Bauer muss verstehen, „dass ihm ohne die Internationale auch die Kuh verlorengeht“. (S. 294) Was Agitatoren anrichten können, wenn sie diese Reihenfolge nicht einhalten, hat Michail Sostschenko in der Erzählung „Der Agitator“ (Deutsch: „Die Kuh im Propeller“) auf den Punkt gebracht.

Anmerkungen:
1 Berliner Debatte Initial. 28 Jhg., Heft 1/2017, Rußland in Blut gewaschen. Ein Revolutionsjahr und seine Folgen in der Literatur. Zusammengestellt von Wladislaw Hedeler und Thomas Möbius.
2 Andrej Platonow, Die Baugrube. Neuübersetzung von Gabriele Leupold, Frankfurt am Main 2016.
3 Michail Sostschenko, Die Kuh im Propeller, URL: https://www.youtube.com/watch?v=z8WCR8KN3A0 (23.04.2019).
4 Boris Sawinkow, Das schwarze Pferd. Neuübersetzung von Alexander Nitzberg, Berlin 2017.
5 Leuchte, mein Stern, leuchte. Ein Film von Alexander Mitta nach einem Drehbuch von Juli Dunski, Waleri Frid und Alexander Mitta. Nacherzählt von Wolfgang Woizick, Berlin 1973.