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Titel
Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland


Autor(en)
Wedemeyer-Kolwe, Bernd
Erschienen
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva Locher, Departement für Zeitgeschichte, Universität Fribourg

Die Geschichte der Lebensreformbewegung stösst in den Geschichtswissenschaften auf reges Interesse. In den 1970er-Jahren entdeckten Autoren den Gegenstand, um die historische Dimension der Gegenkultur aufzuzeigen. Seit den 1990er-Jahren erschienen immer zahlreichere Studien, die allerdings unterschiedliche Schwerpunkte setzten, nur einzelne Aspekte vertieften und verschiedene sozialreformerische Strömungen unter der Lebensreformbewegung subsummierten.1 Der Sporthistoriker und Volkskundler Bernd Wedemeyer-Kolwe ordnet nun in seinem Übersichtswerk das disparate Wissen. Er legt eine flüssig geschriebene, konzise und höchst lesenswerte Darstellung über die deutsche Lebensreformbewegung vom ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg vor. Der Autor nimmt den sinkenden Erkenntnisgewinn der „definitorische Beliebigkeit“ (S. 17), welche die Forschungen zur Lebensreformbewegung auszeichne, als Ausgangspunkt und plädiert für eine Engführung.

In der Einleitung grenzt der Autor unter Rückgriff auf die erste grundlegende historische Studie von Wolfgang Krabbe von 19742 ein, was unter Lebensreform zu verstehen sei. Er definiert sie als eine „sozialreformerische Bewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts“, die mit einem ausgeprägten Naturbezug eine „Veränderung der als negativ gedeuteten Industriegesellschaft anstrebte und mittels einer ‚Selbstreform‘ zu einer Gesellschaftsreform gelangen wollte“ (S. 20). Ihr eigentliches Ziel, so Wedemeyer-Kolwe, war ein selbstversorgendes Leben in kleinen Gemeinschaften auf dem Land. Die Grundpositionen der Selbstreform, Sozialutopie und Erlösungsphantasien unterschieden die Lebensreformbewegung von anderen Reformbewegungen. Zu den wichtigsten reformerischen Praktiken zählten der Vegetarismus, die Naturheilkunde, die Körperkultur und Siedlungstätigkeiten. Bernd Wedemeyer-Kolwe nimmt diese vier als Ausgangspunkt seiner Analyse und widmet ihnen nach einem Teil zu Motiven und Ideengebern je ein Kapitel, bevor er in Fazit und Ausblick darauf zu sprechen kommt, wie die historische Forschung die Lebensreformbewegung interpretierte. Er thematisiert Forschungsdesiderate wie den Mangel an Synthesen von kultur- und sozialgeschichtlichen Ansätzen oder die fehlende überzeugende Deutung des Phänomens Lebensreform (S. 164). Das mit repräsentativen illustrierenden Bildern, einem ausführlichen Endnotenapparat auf neuestem Forschungsstand und einem Personenregister versehene Buch will ein „Fazit ziehen“ und ein „Kompendium zur Lebensreformbewegung“ erstellen (S. 20).

Das erste Kapitel „Begriffe, Motive und Stichwortgeber“ analysiert die Leitmotive der reformerischen Protagonisten und Gruppen. Schlüssig präsentiert Bernd Wedemeyer-Kolwe nicht nur die Selbstdefinitionen der historischen Akteure, sondern auch die externen Zuschreibungen von Zeitgenossen. Er behandelt die wichtigsten Schlüsselbegriffe wie beispielsweise die omnipräsente Referenzmarke „Natur“ ebenso wie die negativ konnotierten Gegenbegriffe wie „Kultur“, „Degeneration“ oder „Zivilisation“, welche die Reformer als negative Charakteristika dessen ausmachten, was sie ablehnten – beispielsweise die moderne Technik und die städtische Kultur, den Kapitalismus und die Industrialisierung oder die damit einhergehenden individuellen Entfremdungsängste. Besonderes Augenmerk richtet der Autor auf die Legitimierung dieser Vorstellungen und legt dar, wie die Reformer sich auf Stichwortgeber aus Politik, Gesellschaft und Philosophie stützten, sich deren Konzepte selektiv aneigneten und an die reformerische Idee anpassten. Auch wenn diese Rezeptionsgeschichten noch wenig erforscht sind, ist es ein wichtiges Verdienst, die Lebensreformbewegung nicht isoliert, sondern im Wechselspiel mit anderen zeitgenössischen Diskursen und Akteuren darzustellen – zumal Wedemeyer-Kolwe noch einen Schritt weitergeht und ebenfalls nachzeichnet, wie die Geschichtsforschung diese Begrifflichkeiten aufnahm und entwickelte.

Zwar zementiert Bernd Wedemeyer-Kolwe mit der narrativ durchaus sinnvollen Gliederung in die vier anschließenden Kapitel „Ernährung“, „Naturheilkunde“, „Körperkultur“ und „Siedlungen“ die Spaltung der Lebensreformbewegung in unterschiedliche Teilbereiche, doch ist er darum bemüht, jeweils auf die wechselseitigen Verbindungen und thematischen Überlappungen hinzuweisen. Ausserdem gibt er den Wirkungsgeschichten Platz und weist auf parallele Entwicklungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen hin, wenn er Debatten, Argumentationsmuster oder Popularisierungsstrategien der Reformer nachzeichnet.

Im Kapitel „Ernährung“ stellt der Autor die zentralen reformerischen Ernährungsstile und die mit Ernährungsfragen befassten Personen und Vereine vor. Dabei räumt er den Lebensläufen der „Gründungsgestalten des Vegetarismus“ (S. 46) viel Platz ein. Er zeichnet die wichtigsten Merkmale dieser Ernährungsweise nach und präsentiert, wiederum in Anlehnung an Wolfang Krabbe, die diätetischen Aspekte, den weltanschaulichen, politischen oder moralischen Nutzen und die ethische Komponente des Vegetarismus. Weil es zur Umsetzung der ernährungsreformerischen Prinzipien im Alltag einer entsprechenden Infrastruktur bedurfte, beinhaltet das Kapitel auch einen kurzen Überblick über die Entwicklungen der für eine vegetarische Lebensweise unverzichtbaren Reformhäuser in Deutschland.

Das folgende Kapitel behandelt die zentralen naturheilkundlichen Konzepte, die wichtigsten Protagonisten, die Entwicklung von Luftbädern und Sanatorien sowie das Verhältnis der Naturheilkunde zur Schulmedizin. Ähnlich wie die Vegetarier übten auch Naturheilkundler Kritik an der Industriegesellschaft, verfolgten die Idee des naturnahen Lebens, glaubten an die Utopie einer zukünftigen besseren Welt und teilten eine Lehre, die Aspekte einer religiösen Heilslehre aufwies. Die Naturheilkunde verfolgte die Ziele einer Gesellschaftsreform und insbesondere einer „Hebung der Volksgesundheit“ (S. 75).

Das Kapitel „Körperkultur“ nimmt zum Ausgangspunkt, dass die Bedeutung des Körpers in der Lebensreform den gemeinsamen Nenner zwischen verschiedenen Strömungen und Gruppierungen ausmachte. So schenkte die Lebensreform dem Körper auch in der Praxis erhöhte Aufmerksamkeit: Er wurde aufgewertet und mit Werten wie Befreiung, Gesundheit, Natürlichkeit, Authentizität und Individualität verknüpft. In der Lebensreformbewegung waren dementsprechend verschiedene Arten von Sport, Spiel, Gymnastik und Turnen verbreitet, sofern sie erstens an ernährungsreformerische Abstinenzregeln und naturheilkundliche Gesundheitsvorstellungen gekoppelt waren, zweitens statt an Leistungs- an Optimierungslogiken des Körpers appellierten und drittens, statt zu fixen Übungszeiten praktiziert, in den Alltag integriert wurden. Als bevorzugte reformerische Körperpraktiken präsentiert der Autor die Freikörperkultur, die Rhythmische Gymnastik, den Ausdruckstanz und asiatische Körperübungen beziehungsweise deren westliche Surrogate.

Im letzten Praxis-Kapitel thematisiert Bernd Wedemeyer-Kolwe den Bau von Siedlungen, die er als „Zentralprojekt“, als „eigentliche Utopie“ und als „grundlegende Sehnsucht“ in der Lebensreformbewegung präsentiert (S. 124). Ohne die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis auszuklammern und mit dem Hinweis, dass die Mehrheit der Reformer ihr städtisches Leben nicht aufgab, liefert der Autor einen Überblick über verschiedene reformerische Siedlungsprojekte in Deutschland wie beispielsweise die genossenschaftliche Obstbausiedlung Eden, auf Körperkultur ausgerichtete Projekte wie die Frauengymnastiksiedlungen Schwarzerden oder Loheland, linksromantische Künstlerkommunen oder völkische Siedlungen.

Besonders hervorzuheben ist, dass der Autor in jedem Kapitel die unterschiedlichsten politischen Ausprägungen der Lebensreform herausarbeitet. Immer wieder weist er auf das breite Spektrum lebensreformerischer Protagonisten, Organisationen oder Siedlungen hin, das sich von sozialistisch motivierten bis zu rassistisch-völkischen Bestrebungen erstreckte. Sein Fokus liegt überwiegend auf deutschen Beispielen, obschon er beispielsweise die bekannte vegetarische und naturheilkundliche Kolonie Monte Verità bei Ascona in der Schweiz wiederholt heranzieht. Der Autor verkennt jedoch nicht die internationale Dimension der Lebensreformbewegung und spricht im Fazit dieses zentrale Forschungsdesiderat an. So weist er darauf hin, dass gewisse Elemente der Lebensreform in anderen Ländern wie den USA, Belgien, den Niederlanden, Österreich oder der Schweiz vorkamen. Als erfolgreichstes „Ausfuhrprodukt“ (S. 158) identifiziert er die Freikörperkultur, deren sozialreformerische Aspekte sich aber nur in der Schweiz fortsetzten. Ein weiteres wichtiges Forschungsdesiderat thematisiert Wedemeyer-Kolwe allerdings nicht: Anders als die gleichzeitig erschienene ernährungsgeschichtliche Studie von Corinna Treitel3 bezieht er die lange Kontinuität der Lebensreformbewegung bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mit ein, obwohl er im Vorwort die Relevanz der Lebensreform im Kontext der Alternativbewegung der 1970er-Jahre hervorhebt und seinen Überblick gar als „historische Reflektion über die Aktualität heutiger Daseinskonzepte“ (S. 9) versteht. Trotz des Einwands, dass das „Kompendium“ nicht alle Aspekte der Lebensreformbewegung anspricht, handelt es sich bei Bernd Wedemeyer-Kolwes Buch um eine lesenswerte, von profunder Kenntnis zeugende und konzise Überblicksdarstellung, die sich für die zukünftige Forschung und Lehre ebenso wie für das historisch interessierte breite Publikum wohl als unverzichtbar erweisen wird.

Anmerkungen:
1 Vgl. bspw. Diethart Kerbs / Jürgen Reulecke (Hrsg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen (1880–1933), Wuppertal 1998; Kai Buchholz / Rita Latocha / Hilde Peckmann et al. (Hrsg.), Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bände, Darmstadt 2001.
2 Wolfgang Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen 1974.
3 Corinna Treitel, Eating Nature in Germany. Food, Agriculture, and Environment, c. 1870 to 2000, Cambridge 2017, rezensiert von Laura-Elena Keck, in: H-Soz-Kult, 10.10.2017, https://www.hsozkult.de/searching/id/rezbuecher-27755 (01.03.2019).

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