D. G. Sieber: Der konfessionelle Gottesacker

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Titel
Der konfessionelle Gottesacker. Katholische und protestantische Sepulkralkultur in den oberschwäbischen Reichsstädten in der Frühen Neuzeit


Autor(en)
Sieber, Dominik Gerd
Reihe
Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg Reihe B, Forschungen 214
Erschienen
Stuttgart 2018: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
LXXV, 474 S.
Preis
€ 47,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Romedio Schmitz-Esser, Allgemeine Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften, Karl-Franzens-Universität Graz

Dieser umfangreiche Band, der auf einer Tübinger Dissertation basiert, geht der Frage nach der Konfessionalisierung und ihren Auswirkungen im oberschwäbischen Raum anhand des Umgangs mit den Toten nach. Insbesondere der Diskurs rund um die Verlegung von Friedhöfen von den Kirchen in den Städten hinaus vor die Stadttore, der eine der zentralen Veränderungen gegenüber dem mittelalterlichen Bestattungswesen darstellt, lässt sich hier näher untersuchen, denn neben religiösen, nach Konfessionen unterschiedlich gelagerten Argumenten sind auch medizinische Überlegungen für die Zeitgenossen relevant gewesen. In aufmerksamer und umfänglicher Weise hebt Dominik Sieber die relevanten Archivbestände, bildlichen Quellen und die Sekundärliteratur zum Thema aus. Es gelingt ihm dabei, eine eingehende, überzeugende Studie für die gewählte historische Region vorzulegen, die auch der weiteren Forschung als Referenzpunkt dienen kann. Vor allem bricht er dabei mit bisherigen Deutungsmustern, die er als zu abstrakt und generalisierend entlarvt.

Untersucht wird hier der oberschwäbische Raum, der sich aufgrund seiner politischen Pluralität in der Vormoderne nicht klar historisch definieren lässt. Grob gesprochen sind damit die Landschaften und Städte des heutigen Bayerisch-Schwaben bzw. des Allgäus im Bundesland Bayern und Oberschwaben in Baden-Württemberg gemeint. Sieber nimmt sich damit einen schon aufgrund seiner zahlreichen, in der Frühen Neuzeit bedeutsamen Städte wichtigen Raum für seine Studie vor, der vom Lech bis zum Bodensee reicht und zwischen Konstanz und Augsburg liegt. Entsprechend stellt der Band auch konkret die unterschiedlichen Ausgangssituationen der Friedhöfe für Biberach, Isny, Kaufbeuren, Kempten, Leutkirch, Lindau, Memmingen, Ravensburg, Überlingen, Ulm und Wangen vor (S. 39–83). Die Verlegung der Friedhöfe vor die Stadtmauern lässt sich nach Sieber in zwei größere Diskurse einordnen, die die Forschung bisher betonte: Die Veränderungen durch die Reformation, die das Verhältnis zwischen Lebenden und Toten durch die grundsätzliche Hinterfragung des Fegefeuerglaubens und der Sinnhaftigkeit der Fürbitte für die Verstorbenen direkt betrafen, und die Überlegungen zur Pestprävention, die eine Verlegung etwa im Rahmen der Miasmentheorie für die Friedhöfe nahelegte. Er mahnt dabei eine genauere Lesung der Quellen an und weist auf andere, quellenmäßig gut belegbare Gründe der Entwicklung hin, unter denen Siebers Beobachtungen über den Einfluss der von Maximilian I. für Tirol und die Vorlande eingebrachten Campo-Santo-Privilegien von besonderem Interesse sind (S. 96–100).

Zudem kann diese Studie zeigen, dass die Verlegung von Friedhöfen im 15. und 16. Jahrhundert nicht nur ein Phänomen in den näher untersuchten Reichsstädten Oberschwabens gewesen ist, sondern auch in Landstädten wie etwa in Füssen. Als Faktoren für die Verlegung benennt diese Arbeit ein Bündel an Ursachen, insbesondere die bauliche Verdichtung in den Städten um 1500 und die Sorge um die öffentliche Gesundheit. Eine Voraussetzung für die Verlegungen stellte dabei der generell beobachtbare, steigende Zugriff der städtischen Obrigkeit auf alle Lebensbereiche in ihrem Ordnungsbereich dar, der eben auch das Bestattungswesen umfasste. Die Reformation aber kann nach der sorgfältigen Auswertung der Einzelbefunde zumindest in Oberschwaben keine zentrale Rolle bei der Friedhofsverlegung gespielt haben: Diese Maßnahmen sind durch Praktiken aus dem 15. Jahrhundert im habsburgischen Einflussbereich beeinflusst, die Projekte liegen in ihrer Umsetzung, zumindest aber in ihrer oft langen Planungsphase zumeist vor oder ganz am Anfang der Auseinandersetzung um die Thesen Luthers, so dass der von der Forschung immer wieder postulierte Einfluss der Konfessionalisierung bei genauerem Blick auf die regionale Situation in diesem Bereich wenig überzeugen kann.

Diesen Gedanken führt Dominik Sieber noch weiter aus, indem er in einem eigenen, ausführlichen Kapitel (S. 164–231) das bereits angesprochene Campo-Santo-Modell als einen ursprünglich katholischen Typus identifiziert, der eine Verlegung der Kirchhöfe vor die Stadt befördert habe. Über die päpstlichen Privilegien maximilianischer Zeit hinausgehend, die mit einer Verlagerung heiligen Bodens vom Campo Santo in Rom verbunden waren, werden auch einzelne architektonische Elemente wie insbesondere die Anlage von Bogennischen an der Friedhofsmauer als Charakteristika dieses römischen Modells vorgestellt. Nicht hilfreich ist es, dass die Forschung bisher den Begriff „Camposanto“-Friedhof wenig konsequent und reflektiert verwendet hat (vgl. hierzu die Ausführungen auf S. 227–231), denn hier wird letztlich wiederum konfessionelle Eindeutigkeit suggeriert, die in der Praxis mit der neuen Friedhofsarchitektur gar nicht verbunden gewesen sein muss. Zwar wird die Annahme eines Zusammenhangs der Verlegung mit reformatorischen Ideen durch diese Einsichten weiter unwahrscheinlich gemacht, doch eindeutig katholisch konnotiert war das Campo-Santo-Modell Sieber zufolge ebenfalls nicht; vielmehr lässt sich ein bereits im 15. Jahrhundert einsetzender Wandel in der Gestaltung von Friedhöfen als konfessionsübergreifendes Phänomen verstehen, das auch mit Luthers Vorgaben für die richtige Bestattung übereinging.

Das heißt umgekehrt nicht, dass konfessioneller Wandel nicht andere Auswirkungen auf die Friedhöfe des 16. Jahrhunderts hatte; insbesondere der Einfluss der Reformierten sei hier zu nennen, der in vielen oberdeutschen Städten – analog zum Bildersturm – zur radikaleren Entfernung von Grabmälern führte, durch die Ablehnung von Grabkreuzen gekennzeichnet war und die Neunutzung von Friedhofskapellen zur Folge hatte. Der vorliegende Band stellt dazu die Situation in den untersuchten Städten in den Kontext der besser erforschten Schweizerischen Entwicklung; dabei treten auch die symbolischen Unterscheidungen auf von mehreren Konfessionen genutzten Friedhöfen in den Fokus der Studie. Ein eigenes Kapitel (S. 317–363) widmet Sieber dem Niederschlag der Bestattungskultur in den schriftlichen Quellen der Region, in dem er Kirchenordnungen und Leichenpredigten in den Blick nimmt und auf die konfessionellen Unterschiede beim Begräbnis eingeht. Die zwei abschließenden Abschnitte behandeln das Schicksal der innerstädtischen Friedhöfe nach der Verlegung der Bestattungsplätze vor die Stadtmauern und die interkonfessionelle Situation in den untersuchten Städten. Dabei wird deutlich, dass die Lösung der Bestattung Toter verschiedener Konfessionen jeweils unterschiedlich gehandhabt wurde – und das sowohl was den Wunsch zur Abgrenzung der Minderheit gegenüber der Mehrheit wie der Mehrheit gegenüber der Minderheit anbelangt. Natürlich spiegelt sich hier auch die unterschiedliche Verfasstheit der einzelnen mono-, bi- und multikonfessionellen Reichsstädte wieder.

Besonders erfreulich ist die genaue Arbeit mit den Quellen und den regionalen Befunden, die den einfachen Großthesen erfolgreichen Widerstand bieten kann und zugleich zu deren Neuausrichtung und weiteren Differenzierung beitragen wird. Sehr wichtig ist auch die immer wieder hervortretende Beobachtung, dass der Tiroler und der oberschwäbische Raum nur gemeinsam betrachtet werden können, dem sich der Rezensent mit der Erfahrung aus seinen eigenen Forschungen zur Tiroler Landesgeschichte insbesondere für das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit nur anschließen kann. Etwas unklar bleibt, warum nicht alle zehn Hauptkapitel (so wie Kapitel V, VII und X) eine hilfreiche Zusammenfassung erhalten haben, die durch die umfang- und detailreichen Teile dieses Werkes führt; die Indices und die Darstellung der Ergebnisse am Ende des Bandes mildern dieses kleine Manko allerdings ab. Etwas umfangreicher könnten epigraphische Aspekte des konfessionellen Wandels diskutiert werden, aber dies ist bereits ein Wunsch vor dem Hintergrund einer insgesamt umfassenden und umfänglichen Studie, die nicht vorrangig auf das einzelne Grabmonument fokussiert. Die Hinterfragung einfacher Annahmen über das Verhältnis von Friedhofsgestaltung und konfessioneller Ausrichtung ist ein wichtiges Ergebnis dieses Bandes, der auch für künftige Forschungen in anderen Regionen einen bleibenden Referenzpunkt geliefert hat.