P. Dinzelbacher: Structures and Origins of the 12th-cent. "Renaissance"

Titel
Structures and Origins of the Twelfth-Century "Renaissance".


Autor(en)
Dinzelbacher, Peter
Reihe
Monographien zur Geschichte des Mittelalters 63
Erschienen
Stuttgart 2017: Anton Hiersemann
Anzahl Seiten
VII, 343 S.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eugenio Riversi, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

„This epoch should be called one of Europe’s axis-times, nearly of equal importance to that of antiquity, and of equal impact for the way we live, feel, and think today“ (S. 267). Eine epochale Veränderung der Mentalitäten, die in einem langen 12. Jahrhundert stattgefunden habe, ist die Grundthese dieser Monographie, die aber nur eine provisorische Reflexion („tentative reflection“, S. 284) über die komplexen hochmittelalterlichen Prozesse darstelle. Diese Reflexion bildet gleichzeitig eine Art Bilanz der langen und vielseitigen mediävistischen Forschungstätigkeit des Autors.1

Dinzelbacher fasst diese Änderungsprozesse unter einer klassischen historiographischen Bezeichnung zusammen: die „Renaissance des 12. Jahrhunderts“. Damit zielt er darauf ab, dass seine Darstellung einer europäischen „Achsenzeit“ zwischen der zweiten Hälfte des 11. und der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts von einem internationalen Publikum besser rezipiert wird. Der Autor, der alternierend auch die Bezeichnungen „langes 12. Jahrhundert“ oder „Hochmittelalter“ verwendet, entscheidet sich also bewusst für ein besonderes, europäisches Deutungsparadigma des Mittelalters (S. 5–10 und 279–282), aber er verzichtet auf die Problematisierung des wertgeladenen Begriffs „Renaissance“. Dinzelbacher trifft auch andere relevante Entscheidungen: Er konzentriert sich fast nur auf nachkarolingische Kernregionen im heutigen Frankreich, Deutschland sowie England (und schließt den Mittelmeerraum aus), und beschäftigt sich nur mit sozialen und kulturellen Phänomenen, die die Änderungen der Mentalitäten aufzeigen. Die politische Dynamik und die institutionelle Dimension werden kaum berücksichtigt, abgesehen vom Investiturstreit und von einer kurzen Betrachtung der Machtentwicklung des Papsttums (S. 20–22). Trotz dieser Entscheidungen bleiben die betrachteten Themen, die er in zwei Hauptteile gliedert, sehr umfangreich und vielfältig. Dem Titel der Monographie entsprechend handelt der erste Block von den structures der neuen Mentalitäten und der zweite von den origins (oder originating causes) ihrer Änderungen.

Der erste und wichtigere Teil wird in sechs Kapitel gegliedert. Am relevantesten für den gesamten Ansatz Dinzelbachers ist die Strukturierung der ersten fünf Kapitel, die in einigen disziplinübergreifenden Grundkategorien die Änderungen und Innovationen des 12. Jahrhunderts umfassen: Expansion/Erweiterung, Differenzierung, Rationalisierung, Entsakralisierung/Säkularisierung und Psychologisierung. Leider verzichtet Dinzelbacher absichtlich auf eine Definition dieser Kategorien, die deshalb mehr als eine Art allgemeine Etiketten verwendet werden, unter die er sehr unterschiedliche historische Phänomene einordnet, und weniger als heuristische Begriffe. Innerhalb der Kategorien werden weitere große Themenbereiche unterschieden, zum Beispiel wird expansion (Expansion/Erweiterung) in „räumlich“, „zeitlich“ oder „religiös“ gegliedert, um unter anderem verschiedene Phänomene wie Mobilität, Eroberungen, Wachstum der Bevölkerung, neue Siedlungen, Zentralisierung, Aufstieg der Städte, Erweiterung des Zeitbewusstseins sowie die für Dinzelbacher sehr bedeutende religiöse Aggressivität einzuordnen, der er einen Exkurs widmet (S. 39–46). Diese sich überstürzende Nebeneinanderstellung von Änderungs- und Innovationprozessen beansprucht, als eine Art unbestreitbarer Befund zu gelten, aber gestaltet sich gleichzeitig als eine kumulative Argumentationskette, die nicht selten knapp ausfällt und wegen der Unschärfe der gewählten Kategorien keine starken induktive Rückschlüsse zulässt.

Es gibt aber auch Exkurse, die anregende Überblicke bieten: zum Beispiel über die neue Sichtbarkeit der Frauen (S. 54–61) oder über die Mystik (S. 172–177). Die interessantesten Überlegungen befinden sich im Kapitel über die Psychologisierung, das die Wende in der Entwicklung einer reflektierten Subjektivität und einer pro-sozialen Emotionalität umfasst (S. 130–184).

Man könnte sich fragen, ob eine andere Gesamtstrategie und Darstellungsweise möglich gewesen wären, die zu dichteren Beschreibungen einiger Schwerpunkte geführt hätten, ohne die umfassende Perspektive einzuschränken. Vielleicht hätte Dinzelbacher teilweise auch „mikrogeschichtlich“ arbeiten können – eine bewusst beiseitegelassene Option (S. 202).2 Damit hätte man die zeitgenössischen Wahrnehmungen von Änderungen und Innovationen stärker in die Darstellung der Phänomene selbst einbinden können: Wahrnehmungen, die er in einer Art Anhang zum ersten Teil (S. 187–196) nur stichprobenartig betrachtet.

Der zweite Teil handelt von den epistemologischen und methodischen Problemen einer Gesamtdeutung des gesammelten umfangreichen Befunds. Einzelne nachvollziehbare problematisierende Überlegungen (zum Beispiel über die Einheitlichkeit einer Epoche oder über Vielfalt und Interdependenz der Ursachen) werden nochmals absichtlich nicht in einem theoretischen Gerüst zusammengefasst, das besser erklären würde, was „structures“, „origins“ und „mentalities“ genau bedeuten und wie sie sich zueinander verhalten: eigentlich seit langem keine unumstrittenen Kategorien der Geisteswissenschaften. Eher versucht Dinzelbacher anhand eines Beispiels eine Teilerklärung der Entwicklung der Mentalitäten vorzustellen, indem er die Bedeutung des Investiturstreits betont (S. 208–216): einerseits ist das noch ein interessanter Exkurs, der den Befund dynamischer auffasst (wie ferner der Exkurs über den Hof, S. 269–277), aber andererseits führt das zu eher pauschalen Schlussfolgerungen über die Führungsrolle „Frankreichs“ und seiner „intelligentsia“ (S. 215), wo im Vergleich zu „Deutschland“ und “Italien“ „much more energy was preserved which could be invested in cultural projects: energy which was swallowed by the civil war in the Empire“ (S. 216).

Statt seine Begriffe und Kategorien theoretisch zusammenzufügen, zieht der Autor vor, eine Auswahl an Theorien des sozialen Wandels vorzustellen, um ihr Erklärungspotential bezüglich der Änderungsprozesse des 12. Jahrhunderts zu prüfen. In der kurzen Betrachtung dieser Theorien, die er nach drei Gesichtspunkten einordnet (materialistisch, soziologisch und psychohistorisch) befinden sich interessante Anregungen: zum Beispiel über die Entwicklung der emotionalen Dimension in den Sozialisationsformen der Eltern-Kinder-Beziehungen (S. 233–242). In der Auseinandersetzung mit den theoretischen Modellen bleibt eine starke Fokussierung auf die Unterscheidung des 12. Jahrhunderts vom Frühmittelalter, während die Grenzen eines laut Autor „sich verengenden“ 13. Jahrhunderts unbestimmter bleiben.

Zusammenfassend stellt das Buch positiv einen Versuch dar, eine Gesamtdeutung des Hochmittelalters vorzustellen. Leider gelingt dies wegen des Verzichts auf eine Bearbeitung der theoretischen Voraussetzungen (nur teilweise und separat in vorherigen Arbeiten entwickelt3) und wegen der Entscheidung, eine überwiegend kumulative Strategie der Argumentation zu verwenden, nicht immer überzeugend. Das Wissen über das Hochmittelalter und über die einschlägige internationale Literatur ist breit, aber es fehlen auch im Hinblick auf die spezifische Perspektive des Buches Auseinandersetzungen mit Historikern wie zum Beispiel Brian Stock (nur kurz erwähnt), Dominique Iogna-Prat, Ronald Witt, Gert Melville oder David d’Avray.4 Um der epistemologischen und historiographischen Komplexität der Änderungsprozesse des 12. Jahrhunderts gerecht zu werden, wäre eine umfangreichere Behandlung der Phänomene und der theoretischen Voraussetzungen wahrscheinlich angemessener gewesen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Peter Dinzelbacher, Die »Bernhardinische Epoche« als Achsenzeit der europäischen Geschichte, in: Dieter R. Bauer/Gotthard Fuchs (Hrsg.), Bernard von Clairvaux und der Beginn der Moderne, Innsbruck u.a. 1996, S. 9–53.
2 Wie zum Beispiel in einem berühmten, aber nicht zitierten Buch: Dominique Iogna-Prat, Ordonner et exclure. Cluny et la société chrétienne face à l’hérésie, au judaïsme et à l’Islam (1000–1150), 2. Aufl., Paris 2000.
3 Vgl. zum Beispiel Peter Dinzelbacher / Friedrich Harrer (Hrsg.), Wandlungsprozesse der Mentalitätsgeschichte, Baden-Baden 2015.
4 Zum Beispiel wäre ein Vergleich mit d’Avrays Buch sehr interessant gewesen: David d’Avray, Medieval Religious Rationalities: A Weberian Analysis, Cambridge 2010.

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