Cover
Titel
The Proletarian Dream. Socialism, Culture, and Emotion in Germany, 1863–1933


Autor(en)
Hake, Sabine
Reihe
Interdisciplinary German Cultural Studies 23
Erschienen
Berlin 2017: de Gruyter
Anzahl Seiten
XIII, 370 S., 60 Abb.
Preis
€ 89,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rebecca Menzel, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

„The proletariat never existed – but it had a profound effect on modern German culture and society.“ Der Klappentext von Sabine Hakes Buch lässt sich als durchaus provokante These in einer brandaktuellen Debatte lesen. Dieser eher unauffällig daherkommende historische Band über den „proletarischen Traum“ ist 200 Jahre nach Marx’ Geburt und 50 Jahre nach „1968“ ein hoch politisches Buch – mit der interessanten Frage, wie sich der Sozialismus als soziale Bewegung über seine kulturellen Diskurse und Praktiken in die deutsche Geschichte eingeschrieben hat. Natürlich lohnt ein Blick auf die Anfänge der Arbeiterbewegung und ihre emotionalen Anziehungskräfte aber nicht nur angesichts der aktuellen Diskussionen über Rechtspopulismus und das vermeintliche politische „Versagen“ der Linken.

Hake, Kulturwissenschaftlerin am Department of Germanic Studies der University of Texas at Austin und ausgewiesene Kennerin deutscher Kulturgeschichte der Weimarer Zeit und des Nationalsozialismus, scheut sich mit ihrem Hinweis auf die bis heute andauernde Wirkmächtigkeit emotionalisierter Politiken nicht, die politische Aktualität ihres Themas zu benennen. Sie formuliert jedoch keine übersteigerten teleologischen Thesen, sondern bettet ihre Erkenntnisse stets in die sozialkulturellen und vor allem diskursiven Hintergründe des Untersuchungszeitraumes ein.

Die Autorin nähert sich der Entstehung von „proletarischen“ Selbst- und Fremdbildern der Jahre 1863–1933 über die Analyse gesellschaftlicher Diskurse, biographischer Hinterlassenschaften und Reden politischer Führer der Arbeiterbewegung. Am Anfang steht die Frage, ob die im 19. Jahrhundert sich bildenden Arbeitermilieus in Deutschland tatsächlich eindeutig durch einen von links geführten Kampf gegen das Besitzbürgertum und den Adel verbunden waren. Mit welcher Zielgruppe hatten es die Vorkämpfer sozialistischer Ideen überhaupt zu tun in einer Zeit, in der proletarisches (Selbst-)Bewusstsein erst entstand? Welche Emotions- und Gemeinschaftsdiskurse waren neben dem „proletarischen Traum“ sonst noch attraktiv und einflussreich?

Im ersten Teil („Imperial Germany“) wird die nachhaltige Verbindung zwischen der Arbeiterkultur und den durch die sozialistische Klassenrhetorik emotional aufgeladenen Arbeiterorganisationen von verschiedenen Seiten beleuchtet. Durch die Analyse von Vereinszeitschriften, Liederbüchern, Romanen, Theaterstücken, Filmen und Werken bildender Kunst öffnet sich der Blick auf die kulturelle Praxis der Arbeiterbewegung und die Ausstrahlungskraft der sozialistischen Idee. Den neuen kulturellen Praktiken und künstlerischen Ausdrucksformen kam eine entscheidende Rolle als sinnstiftenden und emotionalen Elementen zu. Denn erst durch den Entwurf einer „emotionalen Gemeinschaft“ des „Proletariats“ gelang es dem politischen Sozialismus in einer Zeit extremer gesellschaftlicher Umbrüche und sozialer Krisen, eigene Identitätskonzepte und neue Leitbilder anzubieten. Durch den Rückgriff auf Interaktionsrituale, wie die Menschen sie aus religiösen, volkskulturellen oder auch zunftspezifischen Zusammenhängen kannten, vermochten es sozialistische Arbeiterkulturbünde und Bildungsvereine, Arbeiterchöre und Laientheatergruppen, einer imaginierten Gemeinschaft des Proletariats Gestalt zu geben.

Im zweiten Teil („Weimar Republic“) zeigt Hake anhand zahlreicher Fallbeispiele, dass die Arbeiterbewegung gerade durch ihre ideologische Flexibilität und Integrationskraft auf kultureller Ebene erfolgreich war und so die gesellschaftliche Modernisierung mitgestaltete. Der „proletarische Traum“ schrieb sich tief in die deutsche Kultur- und Mentalitätsgeschichte ein, wenn auch nicht immer im Sinne seiner sozialistischen Meinungsführer. Die Macht der Gefühle, so Hake, jagte der Arbeiterbewegung wie ein selbst erschaffenes, schwer einzuhegendes Gespenst von Beginn an hinterher. Plausibel legt die Autorin dar, wie ambivalent sich „proletarische“ Selbstbilder auch jenseits der Intentionen der politischen Arbeiterbewegung entwickelten und sich in einer dynamisierenden Moderne verselbstständigten.

Hake zufolge stand der revolutionäre Klassenkampf von Anbeginn in Konkurrenz zum bürgerlichen Projekt individueller „Innerlichkeit“ und zu konservativ-nationalistischen Überzeugungen, die gleichermaßen durch eine verbreitete Modernisierungsangst bestimmt waren. Knapp, aber dennoch überzeugend werden die Debatten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieben, in denen sich eugenische Warnungen vor unzivilisierten Arbeitermassen mit einer ausgeprägten Angst vor den gesellschaftsverändernden Stürmen des Kapitalismus und einer unwägbaren Veränderung sozialer Leitbilder verbanden. Staatsrechtler wie Lorenz von Stein nutzten die Negativbeschreibung des „Proletariats“, um einen politischen Formierungsprozess eines Teils der Arbeiterschaft (zunächst für das postrevolutionäre Frankreich) zu beschreiben, und warnten vor einer ähnlichen Entwicklung in Deutschland. Zeitgenössische Schriften von Sozialreformern und Ethnographen künden gleichermaßen davon, dass das „Proletariat“ als revolutionärer Kampfbegriff ex negativo zumindest rhetorisch schon vor Marx etabliert war. Der sozialistische „Bund der Gerechten“ um Wilhelm Weitling, den Marx und Engels als Sprungbrett für ihre politischen Ambitionen nutzten, überführte die Erfahrung gesellschaftlicher Ausgrenzung dann in ein neues „proletarisches“ Selbstbild moralischer Überlegenheit. Mit der Veröffentlichung des „Kommunistischen Manifests“ 1848 wurde das „Proletariat“ schließlich zum politischen Akteur des Kommunismus erklärt, womit sein Führungsanspruch in der „Arbeiterbewegung“ markiert war. Wer sich unter welchen Umständen zu einem „Proletarier“ erklärte, war jedoch zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht ausgemacht. Für Hake spiegelt sich im Diskurs über Kommunismus und Sozialismus deshalb nicht nur der Prozess einer politischen, sondern vor allem einer kulturellen und mentalen (Selbst-)Ermächtigung. Diese ergriff neben Arbeitern auch andere soziale Schichten, vor allem Bürgerliche, was wiederum zu Klassenkämpfen innerhalb der Bewegung führte.

Anhand der Entstehungsgeschichte der um 1900 populären autobiographischen Arbeiterliteratur zeigt Hake, dass bürgerliche Fürsprecher der Arbeiterbewegung schon früh versuchten, Arbeiter auf eine „proletarische“ Entrüstungsemotionalität festzulegen. Dieses paternalistische Ansinnen rief durchaus Widerstand hervor. Auch dem von sozialdemokratischen Führungsfiguren propagierten „Veredelungsdiskurs“ (S. 164; Hake belässt es hier wie an manchen anderen Stellen bei der deutschen Begrifflichkeit), der sich am bürgerlichen Bildungsideal und protestantischen Moralvorstellungen orientierte, setzten Arbeiter zunehmend einen selbstbewussten Individualismus entgegen.

Mit dem Fortgang der industriellen und sozialen Revolution, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine mediale folgte, brachen stetig alte Milieu- und Diskursgrenzen auf. Dies führte der „Arbeiterbewegung“ die Unterstützung neuer Akteursgruppen zu, die sich trotz differenter Sozialisation mit dem „proletarischen Traum“ identifizieren konnten. Dazu gehörten prekäre Künstler-Existenzen genauso wie verarmte Bildungsbürger oder Intellektuelle, die sich als „Geistesproletarier“ einem humanistischen oder christlichen Gerechtigkeitsideal verpflichtet fühlten. Mit einer stetig wachsenden „proletarischen“ Publizistik und Belletristik, die das Leben von Arbeitern thematisierte, entstanden nicht nur neue diskursive Räume mit einer spezifischen Symbolik und Rhetorik, sondern auch neue kulturelle Praktiken emotionaler Vergemeinschaftung, mit der Klassengrenzen überwunden werden sollten. Die Mischung aus Volkskultur und avantgardistischen Kulturproduktionen setzte der bürgerlichen Hegemonialkultur etwas Eigenes entgegen.

Hake zeigt auf, dass es gerade die ambivalenten Wechselverhältnisse emanzipativ-progressiver und normativ reproduzierender Elemente in der kulturellen Praxis der Arbeiterbewegung waren, die deren Anziehungskraft ausmachten. Immer wieder verweist sie dabei auf genderspezifische Merkmale. Attraktiv, so Hake, waren sozialistische Gemeinschaften des 19. Jahrhunderts nämlich vor allem für Männer, weil ihr männerbündlerisches Gebaren gut in die Zeit passte. Ungewohnt offen lebten Führer der Arbeiterbewegung wie Ferdinand Lassalle oder August Bebel einen bis dahin unbekannten „Gefühlssozialismus“ aus. Theoretiker wie Karl Kautsky kritisierten mit diesem Begriff zwar die emotionalisierten Debatten und forderten einen „wissenschaftlichen Sozialismus“. Hake zufolge war es aber gerade jene Emotionalität, die in der bis dahin noch stark diversifizierten sozialen Bewegung Zusammenhalt stiftete und sie für Bürgerliche anschlussfähig machte. Frauen und ihre genderspezifische Emotionalität hingegen blieben bis ins 20. Jahrhundert weitgehend von den Diskursen ausgesperrt.

Die Beziehung zwischen Arbeiter/innen, sozialistischen Intellektuellen und Funktionären gestaltete sich paradoxerweise durch den wachsenden politischen Einfluss der SPD immer schwieriger. Die Möglichkeiten selbstbestimmter Lebensentwürfe in der Weimarer Zeit waren schwer in Einklang zu bringen mit der Forderung nach Parteidisziplin. Seitens der KPD, aber auch von rechts boten sich verstärkt Alternativen ideeller Gemeinschaftsbildung und lebensstilistischer Aufbrüche an, die dem utopischen Impuls der Lebensreformbewegung folgten. Die Argumente bürgerlicher Psychoanalyse, die vor allem individuelle Prägungen stark machte, fanden in linken Debatten über Reformpädagogik und Sexualreform ihren Platz neben „proletarischen“ Erklärungsansätzen, die sich auf Klassenkonflikte beriefen. Der allgemeine normative Aufbruch zeigte sich auch in einer avantgardistischen Ästhetik des Dada und des Agitprop, die der Spannung zwischen Individualisierungs- und Massendiskursen Ausdruck gab.

Mit ihrem Ansatz, den Einfluss zeitgenössischer Diskurse und kultureller Praktiken auf politische und soziale Bewegungen zu prüfen, schließt Hake aus kulturwissenschaftlicher Perspektive an das Feld neuer Politikgeschichte an, das in den letzten Jahren (auch) verstärkt von der Sozialgeschichte bearbeitet wurde.1 Gewöhnungsbedürftig für deutsche Leser/innen ist die Platzierung des Forschungszusammenhangs. Statt – wie in der deutschen Literatur gängig – einen Überblick zur Forschungslandschaft als eigenen Teil der Einleitung zu präsentieren, integriert Hake verschiedene Ansätze im laufenden Text. So kommt es, dass sich der Hinweis auf E.P. Thompsons bahnbrechendes Werk „The Making of the English Working Class“ (1963) erst auf Seite 74 findet. Verwunderlich ist auch, dass wichtige Forschungen zur deutschen Arbeitergeschichte wie jene von Jürgen Kocka, Alf Lüdtke oder Thomas Lindenberger, die mit dem „Eigensinn“-Konzept schon früh die ambivalente Beziehung zwischen Arbeitern und organisierter Arbeiterbewegung betonten, erst im Nachwort erwähnt sind, obwohl sie in der Analyse eine bedeutsame Rolle spielen.

Sabine Hakes angekündigtes Folgebuch über den „proletarischen Traum“ von 1933 bis zum Ende der 1980er-Jahre kann mit Spannung erwartet werden. Denn in der Begeisterung, die auch viele Arbeiter/innen der NSDAP entgegenbrachten, zeigte sich deutlich, dass sich zumindest Teile des von links idealisierten „Proletariats“ den sozialistischen Traum in einer rassistisch-nationalistischen Variante vorstellen konnten. Welche „proletarischen“ Narrative die Nationalsozialisten ansprachen, welche emotional-kulturellen Traditionen sie bespielten, die an spezifische Arbeits- und Alltagserfahrungen der Weimarer Zeit anknüpften, und warum Rechtspopulisten mit ähnlichen Strategien selbst im post-proletarischen Zeitalter Erfolg haben, darauf gibt Hakes Studie schon jetzt erhellende Hinweise.

Anmerkung:
1 Maßgeblich waren hierbei der interdisziplinär angelegte Bielefelder Sonderforschungsbereich „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“, 2001–2012, https://www.uni-bielefeld.de/geschichte/forschung/sfb584/index.html (24.03.2018), und der Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin, seit 2008, https://www.mpib-berlin.mpg.de/de/forschung/geschichte-der-gefuehle (24.03.2018).