J. Wüstenberg: Civil Society and Memory in Postwar Germany

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Titel
Civil Society and Memory in Postwar Germany.


Autor(en)
Wüstenberg, Jenny
Erschienen
Anzahl Seiten
XIX, 334 S.
Preis
£ 75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Haß, Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin

Über die Bedeutung von Geschichte und Erinnerung für Gegenwart und Zukunft wird in Deutschland seit Jahrzehnten unter großer gesellschaftlicher Beteiligung öffentlich diskutiert und gestritten. Die öffentliche Erinnerung wird nicht der Politik überlassen, und bei der Deutung der Vergangenheit hat die Geschichtswissenschaft kein Monopol. Wer aber mischt sich in die Debatten um die Vergangenheit ein? Lassen sich Gruppen identifizieren, Motivationen freilegen und Dynamiken erkennen, die ein besseres Verständnis der Erinnerungskultur ermöglichen? Welche Auswirkungen haben die Diskurse um die Erinnerung auf die demokratische Verfasstheit der Gesellschaft?

Jenny Wüstenberg, die an der York University in Toronto Politikwissenschaft lehrt, hat in ihrer Studie „Civil Society and Memory in Postwar Germany“ einige der Akteure – die Gedenkstätteninitiativen und die neue Geschichtsbewegung sowie die Geschichtswerkstätten – genauer in den Blick genommen. Inhaltlich stehen der Umgang mit der NS-Vergangenheit und die Aufarbeitung der SED-Diktatur im Zentrum des Interesses. Die Autorin hat insbesondere zivilgesellschaftliches Engagement im Verhältnis zu staatlichen Akteuren analysiert. Sie wählt für die Studie, die auf ihrer Dissertation beruht, den Zeitraum vom Ende der 1970er-Jahre bis in die Gegenwart. Welche normativen und welche repräsentativen Formen sind notwendig für eine lebendige und demokratische Erinnerungskultur? Unter normativen Elementen fasst Wüstenberg offiziell gesetzte Erinnerungsformen, wohingegen repräsentative Elemente auch in ihrer Form demokratisch seien, d.h. offen für vielfältige Erinnerungen und Narrative (S. 251).

Nach einem einleitenden, methodisch-theoretischen Teil ist das Buch in fünf Hauptkapitel unterteilt. Zu Beginn gibt Wüstenberg einen kurzen Überblick zu „Memorial Politics and Civil Society since 1945“. Daran schließen sich zwei zentrale Kapitel über zivilgesellschaftliche Gedenkstätteninitiativen sowie über Geschichtsbewegung und Geschichtswerkstätten an. Auf dieser Basis diskutiert die Autorin die Ästhetik von Erinnerungszeichen und überträgt ihre Leitfragen schließlich auf die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit. In einem abschließenden Teil fügt sie ihre Ergebnisse zusammen. Wüstenberg entwickelt hier das Konzept hybrider Erinnerungsinstitutionen mit staatlichen Strukturen und zivilgesellschaftlichen Arbeitsformen.

Die Literatur zum Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ist inzwischen unübersichtlich. Neben Überblicksdarstellungen gibt es Detailstudien zu Berufsgruppen und Regionen, zur Erinnerung an verschiedene Verfolgtengruppen sowie zum Umgang von Firmen, Unternehmen und Ministerien mit ihrer Vergangenheit. Eine Fülle von Darstellungen existiert auch zur Erinnerungskultur, gerade zur Schaffung von Denkmälern und Gedenkstätten. Und nicht zuletzt haben sich vielfältige Wissenschaftsdisziplinen mit der Geschichte und den Nachwirkungen der NS-Diktatur befasst.1 So ist es eine undankbare Aufgabe, auf 40 Seiten einen Überblick zur Nachkriegsentwicklung zu geben. Notwendig wäre hierfür eine klare inhaltliche und begriffliche Fassung des darzustellenden Rahmens. Dieser fehlt bei Wüstenberg jedoch. Geht es um Denkmäler oder Gedenkstätten, um die nationalsozialistische Diktatur oder das Menschheitsverbrechen des Holocaust, um alle Verfolgten und Ermordeten, die vergessenen Opfergruppen oder die Juden, geht es um die Erinnerung an die Opfer oder das Beschweigen bzw. Benennen der Täter, um die Erinnerung an die deutschen Soldaten sowie die Opfer von Flucht und Vertreibung, um die allgemeine gesellschaftliche Thematisierung des Nationalsozialismus, um die politische Nutzung der Vergangenheit für aktuelle Themen oder um die Bewahrung der konkreten historischen Orte? Dies bleibt durchgängig unklar und macht es nicht einfach, der Argumentation zu folgen.

Ein zusätzliches Problem ist, dass Wüstenberg weitgehend von den Inhalten der Erinnerung abstrahiert. Hier erliegt sie leider dem Irrtum, dass sich die Inhalte von ihrer Form trennen lassen. Führt das beim ersten Kapitel zu Verwirrung, so wird die mangelnde Berücksichtigung von Inhalten der Erinnerungspolitik und den sich an diesen Inhalten festmachenden Konflikten in den späteren Kapiteln zu einem Defizit, das die gesamte Analyse in eine Schieflage bringt. Zusätzlich gerät in diesem einführenden Kapitel – aber auch wiederkehrend im gesamten Buch – die zeitliche Abfolge durcheinander. Es ist nicht unwichtig, ob sich eine Beschreibung auf die 1970er-, 1980er- oder 1990er-Jahre bezieht, gilt es doch, den jeweiligen zeithistorischen Kontext zu berücksichtigen und zu erhellen. Die Abstraktion von Inhalten und Phasen gesellschaftlicher Erinnerung führt zu Einschätzungen, die einen etwas ratlos zurücklassen: „It is important to distinguish between the memory of the expulsion which has been a continuous reference point of West German politics and that of repression in the GDR, which had to find its place and meaning in the unified polity. However, both have in common that they have been regarded with apprehension by those in civil society, the government, academia, and memorial institutions who were socialized through the struggle to institute the memory of the Nazi past in German public life.“ (S. 73)

Der nächste Teil der Studie widmet sich der Errichtung von Gedenkstätten und den zivilgesellschaftlichen Akteuren, die für ihre Etablierung essentiell waren. In diesem Abschnitt wird ein weiteres Problem der Studie deutlich, die Auswahl der Akteure. Wüstenberg geht es um die Rolle zivilgesellschaftlichen Handelns im Wechselspiel mit staatlichen Akteuren sowie um die Dynamik von Abgrenzung, Konflikten und Kooperation. Dies arbeitet sie beispielhaft am Verein „Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin“ und seinem Bemühen um die Etablierung der „Topographie des Terrors“ heraus. Allerdings waren die gesellschaftlichen Prozesse und Dynamiken tatsächlich vielschichtiger, als es hier den Anschein hat. Die Interessenlagen der Akteure veränderten sich in den Auseinandersetzungen um das Gelände, geschuldet nicht zuletzt der sich wandelnden öffentlichen Wahrnehmung des Ortes und seiner Geschichte. Die Rollen von Medien und Wissenschaft als beteiligten Akteuren bleiben in diesem Abschnitt vollständig ausgespart.

Im Kapitel 4 geht Wüstenberg auf die seit den frühen 1980er-Jahren entstandene Geschichtsbewegung und vor allem auf die Geschichtswerkstätten ein. Dieser Teil der Studie ist klar und überzeugend. Die Rolle und Bedeutung der zivilgesellschaftlichen Akteure in einer zunehmend an Geschichte interessierten Gesellschaft und für das sich verändernde Geschichtsbild arbeitet die Autorin gut heraus. „Geschichte von unten“ sowohl in der Perspektive auf die Akteur/innen als auch auf die räumliche Perspektive steht hierbei im Vordergrund: als Geschichte des Stadtteils, des Dorfes, der Region – nicht als nationale Geschichtsschreibung großer Männer. Das Verdienst der Geschichtsinitiativen und -werkstätten für diese bis in die Gegenwart wirkende Ausweitung wird klar gezeigt. Gerade in Zeiten, in denen von offizieller Seite vielfältig und mitunter pauschal auf die Notwendigkeit von „Erinnerung“ Bezug genommen wird, ist es hilfreich, herauszustellen, wie umkämpft diese Erinnerung in der Geschichte der Bundesrepublik war und wie sie häufig gegen massive politische Widerstände durchgesetzt werden musste.

Die Frage bleibt, warum Wüstenberg die Gedenkstättenbewegung von der Geschichtsbewegung abkoppelt. Auch wenn die Zielsetzungen der ersteren häufig konkreter und zielorientierter waren, so sind die grundlegenden Übereinstimmungen und Parallelen zu den Geschichtsbewegungen meines Erachtens größer als die Unterschiede. Vor allem in der Arbeits- und Funktionsweise des Vereins Aktives Museum, den die Autorin zu den Gedenkstätteninitiativen rechnet (und zu dessen Vorstand der Rezensent gehört), lassen sich die gleichen partizipatorischen und basisdemokratischen Inhalte, Ziele und Verfahrensweisen erkennen, die auch für die Geschichtsbewegung essentiell sind. Dennoch, in diesem Teil ist die Studie klar und genau.

Das Kapitel 5 widmet sich kursorisch den in der Geschichtsbewegung entstandenen ästhetischen Formen. Merkwürdig ist, dass Wüstenberg in der Überschrift des Kapitels die 1980er-Jahre nennt, ihre Beispiele dann jedoch größtenteils aus den 1990er-Jahren wählt (S. 184ff., S. 197f.). Zudem bleibt es bei Einzelbeispielen, die zwar Hinweise auf ästhetische Tendenzen in der Denkmalgestaltung geben, ohne jedoch genügend Substanz zu haben, um ein verallgemeinerbares Urteil zu erlauben.

In dem sich anschließenden (langen) Kapitel überträgt die Autorin ihre Befunde aus der westdeutschen Geschichts- und Gedenkstättenbewegung auf die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit. Hier zeigt sich wiederum die mangelnde Klarheit in der Fassung dessen, was untersucht werden soll. Wüstenberg beschränkt sich auf eine Schilderung der Bemühungen ehemaliger Verfolgter um öffentliche Wahrnehmung ihrer Erinnerungen, ohne auf die jeweiligen Kontexte und politischen Interessen einzugehen. Sie benennt zwar unterschiedliche Akteure auf zivilgesellschaftlicher Seite, die sich für die Erinnerung an die DDR-Vergangenheit engagieren. Es fehlt jedoch eine Analyse der verschiedenen Vorstellungen dessen, was Erinnerung soll und kann, sowie der politisch-ideologischen Konfliktlinien zwischen diesen Akteuren, staatlichen Repräsentant/innen und Vertreter/innen von Erinnerungsorten. Durch die mangelnde Berücksichtigung von Konfliktlagen und Inhalten der Erinnerung bleibt Wüstenberg bei einer unterkomplexen Phänomenologie der Erinnerungsbemühungen stehen. So fällt es schwer, der Autorin bei ihrer Einschätzung von Gedenkstätten als hybriden Institutionen zwischen staatlicher Kontrolle und zivilgesellschaftlicher Prägung zu folgen.

So richtig Jenny Wüstenbergs Schlussfolgerungen erscheinen, dass die lebendige, selbstkritische, im Wechselspiel von Konflikt und Kooperation zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren entstandene Erinnerungslandschaft ein Merkmal demokratischer Verfasstheit der deutschen Gesellschaft ist, so sehr bleibt sie den Nachweis dieses konkreten Zusammenhangs letztlich schuldig. Das ist umso bedauerlicher, als die Autorin in ihrem Kapitel über die neue Geschichtsbewegung und die Geschichtswerkstätten einen hilfreichen Beitrag zur Geschichtskultur in der Bundesrepublik der 1980er- und 1990er-Jahre liefert. Es wäre lohnend, Bemühungen um historische Orte und dortige Interaktionen weiter in den Blick zu nehmen und zu prüfen, welchen Beitrag spezifische Erinnerungsbemühungen verschiedener Akteure zur demokratischen Gestaltung leisten konnten und können.

Anmerkung:
1 Aufgrund der Fülle der Literatur sei einzig der Hinweis gestattet auf Torben Fischer / Matthias N. Lorenz (Hrsg.), Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007, 3., überarbeitete und erweiterte Aufl. 2015.