Cover
Titel
Irre, Anstalt, Therapie. Der Psychiatrie-Komplex


Autor(en)
Quensel, Stefan
Erschienen
Wiesbaden 2017: Springer VS
Anzahl Seiten
XI, 568 S.
Preis
€ 69,99
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Nina Balcar, Institut für Erziehungswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

Das vorliegende Buch ist der letzte und umfangreichste Band einer Trilogie, in der Stephan Quensel, seines Zeichens emeritierter Professor für Resozialisierung und Rehabilitation, verschiedenen „Krankheitsmodellen“ und der jeweils für sie zuständigen Profession nachspürt.1 Ging es in Mittelalter und Früher Neuzeit um die Verfolgung von Ketzern bzw. Hexen, so steht in der Moderne der „Psychiatriekomplex“ im Zentrum. Alle drei Bände verbindet die Leitidee der pastoralen Fürsorge – einer bei Michel Foucault zentralen, ursprünglich christlich-religiösen Machttechnik (vor allem die Beichte), die insbesondere durch die Humanwissenschaften säkularisiert wurde2. Quensel nimmt die Ambivalenz der Fürsorgeinstitutionen in den Blick: Auf der einen Seite bieten diese Hilfe für das Individuum, auf der anderen Seite sollen sie die Gesellschaft vor dem „abnormen“ Individuum beschützen. Da Quensel aber Foucaults Kontroll-Dispositiv – einem Netz aus Institutionen, Personen, Diskursen und Praktiken zur Kontrolle des Subjekts – folgt, erscheint der „Psychiatriekomplex“ bei ihm als vorwiegend disziplinierende Kontrollinstanz und nicht so sehr als humanitäre Hilfe. Er folgt auch Foucaults These von der „Großen Einsperrung“, derzufolge Bettler und „Irre“ in Frankreich seit Ludwig XIV. weggesperrt wurden, die einer empirischen Überprüfung nicht standhalten kann, wie die von Quensel mehrmals zitierte Historikerin Doris Kaufmann für Deutschland gezeigt hat.3

Der Band richtet sich laut Umschlagtext an Studierende, Lehrende und Forschende aus Medizin, Soziologie, Geschichte, Politik und Kultur und erfüllt damit mehrere Zwecke. Den Studierenden liefert es eine kenntnisreiche und kritische Geschichte der „modernen“ Psychiatrie, die stets mit aktuellen Diskussionen der Kriminologie und Rechtswissenschaft verknüpft ist. Gerade die Gegenwartsbezüge – etwa das große Interesse für „Psychopathen“ in der Populärliteratur – helfen, Neugier für die Geschichte der Psychiatrie zu wecken. Da die Lektüre des vorliegenden Buches allerdings bisweilen sehr viel voraussetzt, eignet es sich nicht als Einstiegslektüre, sondern nur zur vertiefenden Beschäftigung mit der Thematik. Für Lehrende und Forschende bietet das Buch eine anregende Auseinandersetzung mit dem aktuell boomenden „Psychomarkt“. Für die Geschichtswissenschaft bzw. Psychiatriegeschichte liefert es allerdings kaum neue Erkenntnisse.

Die Studie gliedert sich in zwei Teile und insgesamt elf Kapitel. Im ersten Teil rekonstruiert Quensel die Entstehung der Psychiatrie im „langen“ 19. Jahrhundert. Ausgangspunkt ist die Antike (Hippokrates, Galens Vier-Säfte-Lehre, die etwas ausführlicher hätte erklärt werden können). Im anschließenden zweiten Kapitel widmet sich Quensel dem „Psychopathen-Paradigma“. Die Psychopathenlehre von Kurt Schneider (1923) erinnere in ihrer „Durchschlagkraft gelegentlich an den die Hexen-Verfolgung einleitenden Hexenhammer“ (S. 65). Dieser Vergleich mutet übertrieben an, zumal wenn man bedenkt, dass Julius Ludwig August Koch mit seinen „Psychopathischen Minderwertigkeiten“ (1891–1893) bereits den Anstoß zur „Psychopathie-Lehre“ gegeben hatte.4 Kapitel 3 geht der Entstehung der Psychiatrie als Wissenschaft nach. In Kapitel 4 geht es um den „boundary dispute“ zwischen Juristen und Psychiatern, aus dem die Psychiatrie als dominierende Deutungsmacht hervorging, indem sie fortan über die Zurechnungsfähigkeit gutachterlich entschied. Anschließend skizziert Quensel die Entstehung der „Anstalt“ in Frankreich, England, in den USA und in Deutschland. Der erste Teil endet mit dem dunkelsten Kapitel der Geschichte der Psychiatrie, dem Mord an den „Geisteskranken“ im Nationalsozialismus, den Quensel nicht als singuläres Ereignis versteht; der Krankenmord war für ihn vielmehr bereits von Anfang an in der Mentalität des psychiatrischen Denkens angelegt und sei durch die staatliche Irrenanstalt begünstigt worden. Die Singularität des Krankenmordes im Nationalsozialismus in Zweifel zu ziehen, ist nicht haltbar, da Quensel weder auf die politischen Entscheidungsprozesse und Motive der NS-Akteure noch auf den Zweiten Weltkrieg eingeht, folglich kann er nicht überzeugend erklären, warum die geplanten und massenhaften Krankenmorde im Nationalsozialismus bisher einzigartig in der Geschichte geblieben sind.

Einige Kapitel ähneln streckenweise einer Nacherzählung, zum Beispiel das Kapitel 4.3.1 zur deutschen Psychiatrie im 19. Jahrhundert, das sich weitgehend auf die Zusammenfassung der Ergebnisse von Doris Kaufmann beschränkt. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive irritiert es, dass Quensel fast immer aus zweiter Hand und dann oft auch noch aus einer Übersetzung zitiert. Damit werden die Zitate aus dem Zusammenhang gerissen. Interessant wäre es gewesen, hätte er die historischen Quellen neu bzw. anders gelesen. Zwar ist es verständlich, dass sich Quensel auf die Arbeiten seiner „Historiker-Kollegen“ verlassen will und das Rad nicht neu erfinden kann, aber die ergänzenden Literaturverweise in den Fußnoten, die das „Gesagte möglichst Fakten-nahe“ konkretisieren sollen (S. 13), sind bisweilen etwas verwirrend: Während die Verweise auf Wikipedia verzichtbar sind, hätten die Hinweise auf weiterführende Literatur ergänzt werden können. So fehlen einige der wichtigsten neueren Arbeiten zur Geschichte der Psychiatrie.5 Der historische Abriss der Psychiatrie im 19. und frühen 20. Jahrhundert bleibt an einigen Stellen somit etwas holzschnittartig. Ein Beispiel ist die strikte Gegenüberstellung von Psychikern und Somatikern im frühen 19. Jahrhundert, die Michael Kutzer längst relativiert hat.6 Indem Quensel sich vor allem auf Dirk Blasius und Klaus Dörner stützt, folgt er einer veralteten Interpretation, die einseitig die repressive „Irrenpolitik“ hervorhebt.

Der zweite Teil widmet sich dem 20. Jahrhundert, in dem Quensel in Kapitel 8 die Antipsychiatrie als Alternative zur Anstaltspsychiatrie präsentiert. Außerdem ergründet er am Beispiel von England, den USA und Deutschland, inwiefern eine Modernisierung oder Reform der Anstaltspsychiatrie stattgefunden hat. So kam es zum Abbau der hierarchisch-patriarchalischen Anstaltsstruktur, gleichzeitig weitete sich das pastorale Kontroll-Modell der Psychiatrie in Form von zunächst außer-akademischen Bewegungen wie der Public-Health-Bewegung bis hin zur Psychoanalyse aus. Anschließend zeichnet Quensel in Kapitel 9 die Entstehung des Nervenarztes und die universitäre Etablierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie nach. Der ambulant tätige Nervenarzt stellte – so Quensel – eine „bürgerliche“ Alternative zur Anstaltstherapie dar (S. 348), denn der Nervenarzt kümmerte sich vor allem um die leichteren nervösen Leiden der gehobenen Schichten. Da diese Leiden einer somatischen Grundlage entbehrten, konkurrierten die Nervenärzte letztlich mit einer Vielzahl an alternativen Therapieangeboten. Die präventiv ausgerichtete Kinder- und Jugendpsychiatrie konnte sich hingegen als eigenständige Disziplin etablieren und ihren Einfluss auch in „Komplizenschaft“ mit der Sozialarbeit bzw. Sozialpädagogik und Schule (S. 397) auf das Terrain der Jugendarbeit ausweiten. Das Kapitel 10 behandelt die Geschichte der Psychoanalyse und Psycho-therapie. Leider fehlt hier zum Teil wieder der Hinweis auf die einschlägige neuere Literatur.7 Quensel wendet sich in diesem Kapitel der Therapeutisierung und Optimierung des Selbst zu, die seit den 1970er-Jahren einen „Boom“ erleben. Sehr aufschlussreich ist der Abschnitt zum ausufernden „Psychomarkt“. Der zweite Teil endet mit einem länglichen Fazit, in dem Quensel abermals das Kontroll-Dispositiv der Psychiatrie aufspannt.

Das vorliegende Buch wurde sorgfältig lektoriert und ist übersichtlich strukturiert. Hilfreich sind auch die Zwischenresümees. Allerdings beeinträchtigen die vielen, sehr langen wörtlichen Zitate die Lesbarkeit. Als „Einstiegslektüre“ in die Geschichte der Psychiatrie eignet es sich weniger denn als kritische Analyse unserer heutigen therapeutisierten Gesellschaft. Das liegt hauptsächlich daran, dass Quensel stark wertet, was sich auch in seiner Wortwahl bemerkbar macht, wenn etwa die Psychologie von der Psychiatrie „infiziert“ wird (S. 402). Als kritische Analyse aber regt Quensels Buch zum Nachdenken über den Umgang mit vermeintlich psychisch kranken Menschen an und ist eine gewinnbringende Lektüre für all diejenigen, die sich auf dem „Psychomarkt“ tummeln, im Strafvollzug oder in der Psychiatrie tätig sind.

Anmerkungen:
1 Stephan Quensel, Ketzer, Kreuzzüge, Inquisition. Die Vernichtung der Katarer, Wiesbaden 2017; sowie: ebd., Hexen, Satan, Inquisition. Die Erfindung des Hexen-Problems, Wiesbaden 2017.
2 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt am Main 1977.
3 Zur These der „Großen Einsperrung“ siehe Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main 1973. Zur Kritik daran siehe zum Beispiel Doris Kaufmann, Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die ‚Erfindung‘ der Psychiatrie in Deutschland, 1770—1850, Göttingen 1995.
4 Zur Bedeutung von Kochs Psychopathiekonzept siehe Nina Balcar, Kinderseelenforscher. „Psychopathische“ Schuljugend zwischen Pädagogik und Psychiatrie, Wien 2018 [im Erscheinen].
5 Etwa die Arbeiten von Eric Engstrom, Clinical Psychiatry in Imperial Germany. A History of Psychiatric Practice, Ithaca 2003; Volker Roelcke, Krankheit und Kulturkritik. Psychiatrische Gesellschaftsdiagnosen im bürgerlichen Zeitalter, 1790–1914, Frankfurt am Main 1999, oder die Arbeiten des DFG-Forschungsprojekts „Kulturen des Wahnsinns (1870–1930)“.
6 Michael Kutzer, „Psychiker” als „Somatiker” – „Somatiker” als „Psychiker”. Zur Frage der Gültigkeit psychiatriehistorischer Kategorien, in: Volker Roelcke / Eric Engstrom (Hrsg.), Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte psychiatrischer Institutionen, Debatten und Praktiken im 19. Jahrhundert, Basel 2003, S. 27–47.
7 Etwa Andreas Mayer, Mikroskopie der Psyche. Die Anfänge der Psychoanalyse im Hypnose-Labor, Göttingen 2002.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/