E. Müller u.a.: Begriffsgeschichte und historische Semantik

Cover
Titel
Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium


Autor(en)
Müller, Ernst; Schmieder, Falko
Reihe
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2117
Erschienen
Anzahl Seiten
1.027 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heidrun Kämper, Institut für Deutsche Sprache, Mannheim / Universität Mannheim

In fünf umfangreichen Kapiteln rekapitulieren Ernst Müller und Falko Schmieder, Mitarbeiter des Berliner Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, aus je verschiedener disziplinärer Perspektive Begriffsgeschichte, Ideengeschichte, historische Semantik. Vorangestellt ist eine Einleitung, die die zentralen Kategorien „Begriffsgeschichte“ und „historische Semantik“ klärt, Methodenansprüche reflektiert sowie die Intention des Werks erläutert: „Historisierung [der Gegenstände und Methoden] und Interdisziplinarität [im Sinn eines Aufeinanderbeziehens der jeweiligen Forschungslinien]“ (S. 23). Das Buch, dies sei vorausgeschickt, ist schwer rezensierbar, weil sich die gehaltvolle, handbuchartige Darstellung des „Kompendiums“ kaum in wenigen Absätzen zusammenfassen lässt.

Eröffnet wird die Darstellung mit dem Kapitel „Philosophie“, der erste Abschnitt mit einem Zitat des Aufklärers Denis Diderot. Die Autoren lassen die Begriffsgeschichte mit der „Sattelzeit“ beginnen, dem Epochenwechsel zur Moderne. Diese Sattelzeit war in Frankreich stärker politisch konnotiert, während die Perspektive der deutschen Spätaufklärung mit Kant auf Ratio und Vernunft fokussiert war, mit Herder und Hamann die Spur in die Romantik legte. Es folgen Einordnungen des Hegel’schen Konzepts, als Indikatoren für dessen Scheitern die Autoren die Genese der philosophischen Begriffsgeschichte betrachten, die „empirisch-naturwissenschaftliche Gegenreaktion“ (S. 48) mit der Trennung von Geistes- und Naturwissenschaft, die materialistische Konzeption nach Feuerbach und Marx mit der Rückbindung begrifflicher Entwicklungen an die je spezifischen sozialen Bedingungen. Ebenfalls im Sinn einer Hegel-Rezeption interpretieren die Autoren den Ansatz von Friedrich Adolf Trendelenburg und Gustav Teichmüller im 19. Jahrhundert. Trendelenburg verstand die Philosophie von Platon und Aristoteles als Grundlegung, die lediglich organisch fortzuentwickeln sei. Teichmüller unternahm disziplinäre Zuweisungen, indem er Begriffsgeschichte und Philosophie, Ideengeschichte und Mythologie bzw. Kulturgeschichte mit Literaturgeschichte zusammendachte und damit die „Zuständigkeiten“ der Philosophie neu ordnete. In den Zentralschriften Rudolf Euckens und Gottlob Freges (beide 1879) erkennen die Autoren ein methodologisches duales Muster der Begriffsgeschichte: einerseits Euckens Abgrenzung von den Naturwissenschaften, andererseits Freges Verwissenschaftlichung der Philosophie durch eine verstärkte „Formalisierung der Begriffe“ (S. 65). Die „Sprachkrise“ der Jahrhundertwende repräsentieren die Autoren erwartungsgemäß mit Friedrich Nietzsche, Fritz Mauthner und Hugo von Hofmannsthal. Das Thema Natur- versus Kulturwissenschaft führen die Autoren fort, indem sie „Begriffsgeschichte und Problemgeschichte“ (S. 84) mit den Ansätzen von Wilhelm Windelband, Nicolai Hartmann und Ernst Cassirer beschreiben. Das Kapitel endet mit dem „diskursiven Höhepunkt“ (S. 138), den die philosophische Begriffsgeschichte um 1960 mit Hans-Georg Gadamers „Wahrheit und Methode“ und Hans Blumenbergs „Paradigmen zu einer Metaphorologie“ erreichte. Praktische Umsetzungen gab es in den Projekten des „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“ (HWPh) und der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ (GGr). Besonders deutlich wird hier, gerade in der expliziten Thematisierung durch Gadamer, dass philosophische Begriffsgeschichte auch Umbruchsgeschichte ist, also auch eine Geschichte der Zäsuren philosophischen Denkens, wie etwa diejenige der Gebrauchs- und Handlungskonzeption, die Ludwig Wittgenstein, John Austin und John Searle einbrachten.

Im zweiten Kapitel, „Geschichtswissenschaft, Politische Ideengeschichte, Sozialwissenschaft“, setzen die Autoren ein mit Friedrich Meinecke als dem „wichtigste[n] Vertreter der (politischen) Ideengeschichte“ (S. 188). Sie fahren fort mit Max Weber und Karl Mannheim, mit Carl Schmitt und seinem Einfluss auf Reinhart Koselleck, mit Siegfried Kracauer, der im Zeichen „begriffsaufhebende[r] Bildprägungen“ (S. 226) gewürdigt wird, mit Antonio Gramsci als linkem sprachbezogenen Theoretiker sowie der transdisziplinär angelegten Annales-Schule und ihrem mentalitätsgeschichtlichen Ansatz. Ausführlich wird Richard Koebner vorgestellt, einer der Begründer der historischen Semantik. Otto Brunner und Werner Conze werden unter anderem hinsichtlich ihrer begriffspolitischen, paradigmatischen Überzeugung präsentiert, mit der nach 1945 Bezeichnungen, aber nicht Inhalte ersetzt wurden. Dass Reinhart Koselleck mit einem eigenen Abschnitt gewürdigt wird, in dem seine „Denkfiguren und Begriffe“ (S. 278–337) beschrieben und interpretiert werden, macht deutlich, dass die Autoren die geläufige GGr-Dreiheit „Brunner – Conze – Koselleck“ nicht als solche bewerten – herausgestellt wird Kosellecks zweifellos unvergleichlich größerer Beitrag zur Methoden-, Theorie- und Begriffsbildung. Die Erweiterung des Semantikbegriffs und den „starken systemtheoretischen Theorieapparat […], den Luhmann in die historische Semantik hineinträgt“ (S. 337), sehen die Autoren als Grund für eine ausgebliebene Rezeption Niklas Luhmanns im Zeichen der Begriffsgeschichte. Michel Foucault wird als Repräsentant einer „kulturwissenschaftlichen Transformation der Geisteswissenschaften“ (S. 342) gewertet, die Cambridge School Quentin Skinners und John Pococks als Beitrag „zur methodischen Neufundierung der Ideengeschichte“ (S. 358). Die argumentationsgeschichtliche, textpragmatische, tiefen- und diskurssemantische Richtung von Heiner Schultz, Hans Ulrich Gumbrecht und Rolf Reichardt wird ebenfalls eingeordnet. Das Kapitel endet mit der Reflexion von Fortschreibungsideen der GGr für die Zeitgeschichte (Christian Geulen) sowie dem Nachvollzug der Internationalisierung der Begriffsgeschichte seit 1985.

Im Kapitel „Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Philologien“ reflektieren die Autoren das durchaus vorhandene, wenn auch wenig elaborierte disziplinäre Verhältnis zwischen Begriffsgeschichte und Linguistik. Sie betonen, dass die naturwissenschaftlich orientierte Sprachwissenschaft der Jahrhundertwende ebenso wie die systemisch-synchrone Linguistik der 1960er-Jahre den freien Blick auf die semantische Schnittstelle verstellte. Diese Schnittstelle besteht in einem Verständnis von Begriffsgeschichte als Bedeutungsgeschichte. Damit ist ein unmittelbarer Konnex zur Sprachgeschichte hergestellt und zu dem gemeinsamen Interesse an „Relevanz und Funktion der Sprache in historischen Prozessen“ (S. 411). Die Geschichte der Wörter-und-Sachen-Forschung bzw. der Onomasiologie insbesondere Dornseiff’scher Prägung wird als semantische Teildisziplin einbezogen. Es folgen die Romanistik und ihr innerdisziplinärer Diskurs zur Begriffsgeschichte sowie die Sprachinhaltsforschung Leo Weisgerbers (dessen nationalistisch-völkische Haltung problematisiert wird) und ihre Adaption der Wortfeldtheorie Jost Triers. Den Strukturalismus um die diachrone Perspektive erweitert hat Eugenio Coseriu. Prototypensemantik und Kognitive Linguistik werden insofern als „Problem“ der die Verbindung zwischen Sprach- und Geschichtswissenschaft darstellenden Begriffsgeschichte bewertet, als die diachrone Perspektive beiden Ansätzen fern liegt (S. 477). Dietrich Busses Dissertation „Historische Semantik“ (1987 veröffentlicht) formuliert eine linguistische methodische Kritik der GGr, zielt auf eine Klärung des Verhältnisses von Wort, Begriff und Bedeutung und bringt zudem die epistemische sowie diskursive Dimension ins linguistische Spiel der Begriffsgeschichte. Es schließen sich Bewertungen zur Historischen Lexikologie / Korpuslinguistik / Fachsprachenforschung sowie zum kommunikativen Aspekt der Begriffsgeschichte (Clemens Knobloch) an. Dass die Autoren in dieser Weise die Linguistik einbeziehen, ist besonders herauszustellen, weil sie damit die sachlich nicht gerechtfertigte disziplinäre Ausschließung der Sprachwissenschaft aus der Begriffsgeschichte aufheben.

Das Kapitel „Wissenschafts- und Wissensgeschichte“ beginnt mit der Krise der theoretischen Physik in den 1920er-Jahren. Es setzt sich fort mit der historischen Epistemologie (Gaston Bachelard), dann mit der die gesellschaftliche Bedingtheit der Begriffsbildung postulierenden Kritischen Theorie Horkheimers, dem die (trans)disziplinäre Kommunikation voraussetzenden Denkstil-Modell Ludwik Flecks, Kuhns wissenschaftsgeschichtlich sich in dem Konzept der Begriffsdifferenzen ausdrückender Paradigmen-Diskontinuität und weiteren epistemologischen Modellen Georges Canguilhelms, Michel Foucaults und Hans-Jörg Rheinbergers, bevor der Practical Turn der Wissenschaftsgeschichte thematisiert wird. Mit einer Bewertung des Einflusses von Reinhart Koselleck sowie einer Beschreibung des Interesses der Wissenschaftsgeschichte an Metaphorik endet das Kapitel.

Der Teil „Kulturwissenschaft, Cultural History, Cultural Studies“ resümiert zunächst die Krise, die in den 1920er-Jahren, der Phase der Ersten Kulturwissenschaft, ein allgemeines (bei weitem nicht nur) die Wissenschaften übergreifendes, aus einer allgemeinen Daseinsunsicherheit resultierendes und das Denken (und damit auch die Begriffsgeschichte) radikalisierendes und politisierendes Phänomen war, das nach 1933 zur Existenzbedrohung und -beendigung jüdischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wurde und die Erkenntnisse der Ersten Kulturwissenschaft für viele Jahre überlagerte. Die transdisziplinäre Erste Kulturwissenschaft manifestierte sich begriffsgeschichtlich relevant in der kulturtheoretisch angelegten Psychoanalyse (Sigmund Freud), in der Kunst- und Literaturgeschichte (Aby Warburg, Edgar Wind, Walter Benjamin), in der Bildsemiotik (Siegfried Kracauer). Die Voraussetzung für die international vollzogene Wende zur Zweiten Kulturwissenschaft (Cultural Turn) stellte später der Linguistic Turn dar, mit evidenten Folgen für die Begriffsgeschichte durch ein „Interesse an der Bedeutungsproduktion“ (S. 682) einerseits, der Infragestellung herkömmlicher Macht- und Relevanzordnungen andererseits (Beispiel Alltagsgeschichte). Die die Begriffsgeschichte immer schon begleitende sozialgeschichtliche Dimension profilierte sich in dem Ansatz von Raymond Williams. Michel Foucault wurde zentral mit seiner gesellschaftsanalytisch orientierten Diskurstheorie und ihrer begriffsgeschichtlichen Perspektive auf Diskursverdichtungen (wie etwa „Wahn“). Außerdem erläutern die Autoren die kulturanalytische Dimension der Kollektivsymbole (Jürgen Link), historische Semantik aus kulturphilosophischer Sicht (Ralf Konersmann), Geschichtsphilosophie (Heinz Dieter Kittsteiner) sowie die ikonische Semantik (Rolf Reichardt, Hans-Jürgen Lüsebrink). Dieses Kapitel endet einerseits mit einer inhaltlichen Fokussierung auf Gefühlsworte und die Metaphorologie nach Blumenberg, andererseits mit den gegenwärtige Entwicklungen betreffenden und die Begriffsgeschichte in diesen verortenden Markierungen der Digitalität (Stichwort: Digital Humanities) und der Globalität (Sprachtransfer und Übersetzung). Den Abschluss bildet die die Gesamtdarstellung immer schon begleitende Problematisierung der Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte. Das letzte Kapitel bietet eine nützliche, wiederum ausführliche Darstellung von „Institutionen, Zeitschriften, große[n] Lexika“. Ein sorgfältig erstelltes Sachregister und ein umfassendes Personenregister erschließen das Werk.

Dieses Kompendium ist umfassend. Die Leserinnen und Leser werden instruktiv durch die Geschichte geleitet: Kein einflussreicher Name ist ausgelassen; auch unbekannt gebliebene, von den Autoren für einflussreich gehaltene Akteure werden gewürdigt. Kenntnisreich und kritisch werden die einzelnen Ansätze nachgezeichnet, aufeinander bezogen und mit den Befunden der Forschung konfrontiert. Einordnungen werden vorgenommen, etwa wenn die Autoren in dem Abschnitt „Politische und unpolitische Kontexte der philosophischen Begriffsgeschichte“ eine notwendige Bewertung mit der Frage nach den „semantischen Folgen der Nazizeit“ (S. 133) vornehmen und rekapitulieren, welchen Beitrag die internationale philosophische Begriffsgeschichte unternahm, die Schrecken der NS-Herrschaft in eine philosophisch-begriffsgeschichtlich begründete „Nie-wieder“-Haltung zu transformieren, etwa mit dem (gescheiterten) Projekt des „International Dictionary of Fundamental Terms of Philosophy and Political Thought“ (vgl. S. 135), bei dem die deutsche Philosophie eine unrühmliche Rolle spielte. Die Lektüre hinterlässt den Wunsch nach der Wiederaufnahme eines solchen Projekts, einem trans- und interdisziplinären, internationalen Wörterbuch der wissenschaftlichen Grundbegriffe. Ernst Müllers und Falko Schmieders Kompendium kann bereits jetzt als Standardwerk bezeichnet werden.