Cover
Titel
Die Merowinger.


Autor(en)
Scholz, Sebastian
Reihe
Urban-Taschenbücher 748
Erschienen
Stuttgart 2015: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
342 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carola Föller, Department Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Aufgrund der regen Forschungen der letzten Jahrzehnte zu den ersten Jahrhunderten des Frühmittelalters ist ein Bedarf an neuen Einführungen zur Geschichte der Merowingerzeit entstanden, auf den bereits der Beck’sche Verlag mit zwei Monographien der Reihe „Wissen“ und die Wissenschaftliche Buchgesellschaft in der Reihe „Geschichte kompakt“ reagiert haben.1 Das zu besprechende Buch, das das altgediente Werk von Eugen Ewig in der Reihe der Kohlhammer Urban-Taschenbücher2 ersetzt, schließt dennoch eine Lücke, da zum einen die Reihe deutlich mehr Raum zur Darstellung des Gegenstandes bietet als vergleichbare Formate und zum anderen die Tendenz der jüngeren Forschungen aufgegriffen wird, die die politische Dimension von Kirche betont.3

In seiner Einleitung entwirft Sebastian Scholz sein Programm: Er möchte bisherige Darstellungen um „die kirchliche Entwicklung, die kirchliche Gesetzgebung sowie die gesamte Rechtsentwicklung und ihren Einfluss auf die Gesellschaft“ (S. 9) ergänzen. Ziel ist dabei, die „Verklammerung von weltlicher Macht und Kirche sowie den kirchlichen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung deutlicher hervortreten“ (S. 9) zu lassen. Der Inhalt des Buches geht also über seinen eng gefassten Titel hinaus, die Dynastie der Merowinger wird im klassischen mediävistischen Sinne der „Merowingerzeit“ dabei zum Signum für die poströmische Zeit in Gallien, die durch die dynastischen Zusammenhänge strukturiert wird. Dementsprechend ist das Buch zwar generell chronologisch nach Königen und Königsgenerationen gegliedert, doch wird diese Abfolge durchbrochen von anderen Kapiteln, vor allem zu (kirchen)rechtlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Die ersten vier Kapitel beschäftigen sich mit den frühen Franken und der Etablierung der merowingischen Herrschaft bis zum Tod Chlodwigs (511). Im fünften Kapitel werden die rechtlichen Rahmenbedingungen und ihre gesellschaftlichen Wirkungen skizziert. Das sechste Kapitel behandelt die Nachfolger Chlodwigs bis zum Tod Chlotars I. (561), das siebte die kirchliche Entwicklung in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts. Herrschaftsteilungen, Synoden und kriegerische Auseinandersetzungen der 560er-, 570er- und 580er-Jahre sind die Themen des achten und neunten Kapitels. Im zehnten Kapitel geht es um rechts-, sozial- und frömmigkeitshistorische Veränderungen der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts. Die folgenden vier Kapitel (12–15) behandeln die Herrschaften von Theudebert II. und Theuderich II. bis zu Bathild, also die erste Hälfte des 7. Jahrhunderts bis 664/665; hier werden die Aspekte, die in der ersten Hälfte des Buches eigene Kapitel erhalten haben, in die einzelnen Herrschaftsdarstellungen integriert, so dass auch Synoden, das sich etablierende Klosterwesen und andere rechts,- kirchen- und wirtschaftshistorische Aspekte ihren Platz finden. Kapitel 16 beschäftigt sich mit dem Erstarken der Hausmeier in den letzten knapp 90 Jahren der Herrschaft der Merowinger bis 751.

Die neuen Akzente, die durch den spezifischen Zugriff des Buches gesetzt werden, sind zahlreich und vielgestaltig, sie lassen sich am besten am Beispiel von Bischofsamt und Synoden aufzeigen. So positioniert sich Scholz etwa in der aktuellen Debatte um die Stellung und Funktion des Bischofamtes zu der Frage, ob die hohe Anzahl an Romanen aus dem senatorischen Adel unter den Bischöfen vielleicht lediglich der Überlieferungschance geschuldet ist, indem er die Regeln der „Statuta ecclesiae antiqua“ betrachtet. Diese zielten auf die Abkehr der Bischöfe vom aristokratischen Lebensstil und seien damit als Beleg für eine zunehmende Besetzung des Bischofsamtes durch den senatorischen Adel und den damit verbundenen fundamentalen Wandel des Amtes zu sehen (S. 27-29). In diesem Sinne interpretiert er dann auch die Beschlüsse der Synode von Orléans (511), die sich mit dem Ämterkauf beschäftigen, nämlich als Zurückweisung adliger oder gar königlicher Einmischung bei der Bischoferhebung. Die Versammlung habe damit auf die Attraktivität reagiert, die das Amt mittlerweile für weltliche Große gehabt habe (S. 108f.).

Die Rolle der Synoden stellt Scholz in Fragen der Entwicklung von Rechten und Rechtsvorstellungen heraus: Die Bischöfe hätten zum Beispiel auf der Synode von Orléans (511) in zweierlei Hinsicht zu neuen Formen der Konfliktbeilegung beigetragen. Zum einen taten sie dies mit der Einführung des promissorischen Eids im Zuge der Regelung des kirchlichen Asylrechts. Da dies aber wahrscheinlich dem römischen Recht entlehnt sei und im Widerspruch zu den fränkischen Ausgleichs- und Rachevorstellungen gestanden habe, sei die Einhaltung des unter Eid Versprochenen über die Androhung nicht nur der religiösen, sondern auch der sozialen Ausgrenzung, die die Kanones vorsahen, erreicht worden. Zum anderen seien umgekehrt fränkische Rechtsvorstellungen in die Kanones derselben Synode zum Asylrecht integriert worden, indem der Schadensausgleich zur Vermeidung von Körperstrafen für unter Asyl stehende Täter angeordnet wurde (S. 65ff.).

Auch wenn die Diskussion der Machtverhältnisse zwischen Königen und Bischöfen auf den Synoden viel Raum einnimmt und als wesentliches Anliegen der Bischöfe die Wahrung und Ausdehnung ihrer Rechte und vor allem der kirchlichen Besitztümer aufgezeigt werden, so beschreibt Scholz doch nicht nur den eindimensionalen Kampf um politische Einflussnahme. Zum einen werden die Bischöfe als politisch handelnde Akteure herausgestellt und ein vielfältiges Bild ihrer Interessen gezeichnet. Dabei agieren sie teils in Kooperation mit dem König als hilfreiche „Juniorpartner“ wie auf der Synode von 511, teils stellen sie sich gegen ihn wie in Mâcon 585. Zum anderen wird das gesamte Spektrum kirchlicher Belange betrachtet, die in den Kanones geregelt wurden und die sich einer lediglich auf Machterhalt und -gewinnung der „Kirche“ ausgerichteten Erzählung entziehen. Dadurch werden die auf den Synoden stattfindenden Aushandlungsprozesse und ihre zum Teil an den aktuellen Gegebenheiten orientierte Ausrichtung akzentuiert, was die Prozesshaftigkeit und die situativen Zielsetzungen solcher Bischofsversammlungen zeigt.

Dies weist auch in Richtung des Bildes, das Scholz von den Merowingern und der nach ihnen benannten Periode entwirft: Ein Herrschergeschlecht, dessen Mitglieder in den ungefestigten Strukturen ihrer Zeit ihre dringlichste Aufgabe in Machtsicherung und, falls diese geglückt war oder die Umstände es erforderten, Machterweiterung sahen – und dabei in ständiger (meist tödlicher) Konkurrenz zu den eigenen engsten Verwandten und anderen Mächtigen standen. Kirchliche Akteure konnten dabei ebenso zu Verbündeten (oder seltener auch Gegnern) werden wie weltliche Große. Kriege und Morde waren allerdings nur ein (wenn auch wesentliches) Mittel dieser Bestrebungen, ebenso gehörte Engagement in der Rechtssetzung für die verschiedensten Lebensbereiche dazu – oder im kirchlichen Bereich manchmal auch nur der Versuch, daran teilzuhaben. Die Lebensumstände zeichnet Scholz, gerade für die unteren sozialen Schichten, als prekär: Zu Kriegen und Plünderungen traten noch Hungersnöte und Pestepidemien, häufig auch Rechtsunsicherheit hinzu. Die Veränderungen, die sich unter den Merowingern vollzogen, sieht er weniger als das Resultat einer zielgerichteten, dynastisch motivierten „Reichsbildung“ mit dem Aufbau einer „Reichskirche“. Vielmehr scheinen sie bei Scholz dem Zusammenwirken von Gewinn- und Machtstreben einzelner geschuldet, die sich im dauerhaften Kontakt, in Beratung, aber auch im Interessensausgleich mit kirchlichen Machthabern befanden, die wiederum eigene Interessen verfolgten. Das hatte nicht immer zwingend intendierte, aber durchschlagende Wechselwirkungen zur Folge.

Diese Kontingenzen und „Umwege“ im poströmischen Gallien herauszustellen, ist eines der wesentlichen Verdienste des Buches. Eine weitere Stärke ist sein transparenter Umgang mit den Diskursen und Debatten der Forschung: Scholz erzeugt nicht den Anschein von geschichtswissenschaftlicher Gewissheit über Vergangenes, sondern legt Unsicherheiten und Widersprüche offen dar. Darüber hinaus argumentiert er stets ausgesprochen quellennah und bringt auch umfangreiche Auszüge der Texte in eigener Übersetzung, so dass Leserinnen und Leser sich selbst eine Meinung zu den Forschungsproblemen bilden können. Dieses Zusammenspiel von zeitgemäßer Perspektive und wissenschaftlicher Zugänglichkeit macht dieses Buch zu einem echten Gewinn.

Anmerkungen:
1 Bernhard Jussen, Die Franken. Geschichte, Gesellschaft, Kultur (Beck Wissen), München 2014; Martina Hartmann, Die Merowinger (Beck Wissen), München 2012; Matthias Becher, Merowinger und Karolinger (Geschichte Kompakt), Darmstadt 2009.
2 Eugen Ewig, Die Merowinger und das Frankenreich, mit Literaturnachträgen von Ulrich Nonn, 6. überarb. Aufl., Stuttgart 2012 (1. Aufl. 1988).
3 Z.B. Monika Suchan, Mahnen und Regieren. Die Metapher des Hirten im frühen Mittelalter, Berlin 2015; Stefan Esders, Die Formierung der Zensualität. Zur kirchlichen Transformation des spätrömischen Patronatswesens im frühen Mittelalter, Ostfildern 2010; Mayke de Jong, The Penitential State. Authority and Atonement in the Age of Louis the Pious 814–840, Cambridge 2009; Karl Ubl, Inzestverbot und Gesetzgebung. Die Konstruktion eines Verbrechens (300–1100), Berlin 2008.