Cover
Titel
Kritik der Kindheit. Eine Apologie des 'pädagogischen Eros'


Autor(en)
Wyneken, Gustav
Herausgeber
Moser, Petra; Jürgens, Martin
Reihe
Quellen und Dokumente zur Geschichte der Erziehung
Erschienen
Bad Heilbrunn 2015: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
96 S.
Preis
€ 17,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Klemens Ketelhut, Institut für Pädagogik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Kernstück der vorliegenden Publikation ist der Text „Kritik der Kindheit“ (S. 11–78), den Gustav Wyneken (1875–1964), Gründer der reformpädagogischen Freien Schulgemeinde Wickersdorf, kurz nach dem Tod seiner Mutter verfasst hat. Eingeleitet wird der kleine Band durch ein kurzes Vorwort von Jürgen Oelkers (S. 7–9), den Abschluss bildet eine als Kommentar bezeichnete Interpretation von Petra Moser und Martin Jürgens mit dem Titel „Der ‚pädagogische Eros‘ als Mittel zur Selbstverjüngung. Zu Wynekens Kindheitserinnerung von 1944“ (S. 80–93).

Auf Wyneken geht eine der zentralen Auseinandersetzungen mit dem Begriff des „Pädagogischen Eros“ zurück. Wickersdorf geriet unter seiner Leitung als Ort, an dem sexueller Missbrauch an Kindern stattfand, in die Schlagzeilen. Wyneken stand deswegen vor Gericht und wurde verurteilt. Angesichts dieser und nachfolgend bekannt gewordener Missbrauchsfälle in der Odenwaldschule seit den 1970er-Jahren und der damit einsetzenden Diskussion um die Rolle der Reformpädagogik als möglicherweise begünstigendem Faktor für sexuellen Missbrauch1 scheint es also zunächst durchaus naheliegend zu sein, sich mit Selbstzeugnissen Wynekens auseinanderzusetzen. In der bildungshistorischen Forschung wird aktuell vor allem die Frage verhandelt, auf welche Weise reformpädagogische Internate zu Orten werden konnten, an denen sexueller Missbrauch – oft über Dekaden – stattfinden konnte. Im Kern wird darüber debattiert, inwiefern der Missbrauch der Reformpädagogik strukturell inhärent sei. Oelkers argumentiert hierbei vor allem mit einer Selbstbehauptung der Reformpädagogik als moralisch überlegen, die dazu führe, dass sie ihre Praxis nicht mehr legitimieren müsse. Allerdings steht dabei zum einen die Frage zu klären, inwiefern die Landerziehungsheime (zu denen sowohl Wickersdorf als auch die Odenwaldschule gehörten) repräsentativ für „die“ Reformpädagogik stehen, zum anderen gilt es, nach institutionellen Bedingungen von Missbrauch in pädagogischen Kontexten zu fragen, um auch den, der in konfessionellen Internaten stattgefunden hat, (bildungshistorisch) analysieren zu können.

Die Quelle als solche ist zum ersten Mal publiziert, aber bereits in anderen Publikationen zur Rekonstruktion der Biografie Wynekens genutzt worden2 und kann als systematischer Beitrag in der skizzierten Debatte verstanden werden. Beschrieben wird das Aufwachsen in einer protestantischen Pfarrersfamilie, zunächst in Stade, später in der südhannoverschen Provinz. Der Text ist in seiner Retrospektion hauptsächlich von drei großen Linien getragen: (i) Das Verhältnis zu seinen Eltern beschreibt Wyneken als problematisch. Die Mutter wird als „strenge, scharfe, meist verstimmte – in Wahrheit innerlich schwer gehemmte und vielleicht gebrochene“ (S. 31) Person dargestellt, von der die Kinder sich abkehrten. Der Vater, ein protestantischer Geistlicher, wird zwar positiver geschildert, bleibt aber letztlich für das Kind unerreichbar. Wyneken schildert (ii) die christliche Vorstellungswelt als zentralen Bestandteil des kindlichen Gedankenkosmos. Zum einen leiten die biblischen Bilder- und Symbolwelten die Auseinandersetzungen mit dem eigenen Welterleben an. Zum anderen beschreibt Wyneken die Verquickung von familiärer Erziehung und Gehorsam gegenüber Gott: „Jeder kleine Ungehorsam war zugleich die Übertretung eines göttlichen Gebotes.“ (S. 30) Besonders prägnant fallen diese Einflüsse dabei im Umgang mit sexuellen Wünschen und Vorstellungen und mit Körper- und Leiblichkeit aus. Insgesamt interpretiert Wyneken (iii) seine Position innerhalb der Familie als isoliert. Er beschreibt sich als verkannt, als mit seinen (geistigen) Fähigkeiten nicht ausreichend ernst- und wahrgenommen, bisweilen missachtet.

Der Text schließt mit zwei Punkten: Zum einen leitet Wyneken aus der autobiographischen Rückschau drei Linien für eine bessere Art der Erziehung ab. Er fordert eine frühe körperliche Erziehung, die sowohl „Kraft und Gelenkigkeit“ aber auch „körperlichen Mut“ fördern soll. Die zweite Forderung zielt auf eine „Erziehung in und zu absoluter (absoluter!) Wahrheit und Offenheit“ (S. 68), womit Wyneken sowohl religiöse Vorstellungen kritisiert als auch einen unverstellten Umgang mit Sexualität fordert. Drittens solle Erziehung furchtlos erfolgen. Zum anderen präsentiert Wyneken der Leserschaft eine Sammlung unterschiedlicher kindlicher Aussprüche eines fremden Knaben. Diese führen ihn zu der Frage, wer nun die Schuld an dem habe, „was an mir verkannt, versäumt, verdorben wurde“ (S. 77f.).

In dem nun folgenden Kommentar von Petra Moser und Martin Jürgens wird der bereits im Vorwort aufgerufene Kontext – die Freie Schulgemeinde Wickersdorf als Ort pädosexuellen Missbrauchs, Wynekens sexuelle Präferenzen sowie die Deutung, dass er diese mit einer Selbstbeschreibung als „sich ganz aus dem Geist heraus“ (S. 9) verstehend verharmlosen wollte – wieder aufgenommen. Moser und Jürgens gehen dabei von einem inhärenten Zusammenhang zwischen der „Kritik der Kindheit“ und der Schrift „Eros“ von Wyneken aus, der zudem durch eine symbolische Anordnung in der vorliegenden Ausgabe suggeriert wird: Nach den letzten Zeilen der Quelle folgt eine Abbildung der Titelseite des „Eros“, freilich gehört sie nicht zu ihr. Sie wird als ikonographisches Bindeglied zwischen Originalquelle und Kommentar eingesetzt und soll damit wohl den, ebenfalls von Moser und Jürgens zum Titel der Quelle addierten Untertitel, „Eine Apologie des ‚pädagogischen Eros‘“, unterstreichen.

Der Kommentar gruppiert sich um ein Zitat aus dem Text Wynekens: „Dem einen wachsen die tragenden und widerstehenden Kräfte, dem andern wuchert geheim, wild und anfangs unsichtbar, unter dem Zwangskleid des Verzichts, das Wunschgewächs weiter.“ (S. 13) Dieses Zitat zeige eine „geheime Absicht“ des Textes, die „eine erneute Apologie am eigenen Leibe ist, eine der eigenen obsessiven Neigungen“ (S. 86), wobei das Wuchern den Charakter einer libidinösen Kraft habe. Um die These zu untermauern (und die bekannte Präferenz Wynekens für Knaben zu verdeutlichen), folgen an dieser Stelle nun vier Bilder von pubertierenden, wenig bekleideten Jungen aus Wynekens Privatbesitz. Schlussendlich weist der Kommentar darauf hin, dass sich auch in dem Text von 1944 die sexuellen Präferenzen Wynekens wieder auffinden ließen und dass diese in seine – und auch in weitere Teile – der Reformpädagogik eingegangen seien: „Wyneken hatte und hat Nachfolger. Deren Selbstbild ist dem seinen nicht unähnlich.“ (S. 93)

Es ist eine nicht zu diskutierende Tatsache, dass Missbrauch in pädagogischen Kontexten auch aus der historischen Perspektive her weiterhin bearbeitet werden muss. Die Anfälligkeit bestimmter Typen pädagogischer Institutionen, bestimmter erzieherischer Selbstverständnisse und Konstellationen bedarf sowohl eines bildungshistorischen Verstehens als auch einer erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung. Ob eine Begegnung zwischen Gerold Becker und Gustav Wyneken kurz vor dessen Tod aber tatsächlich „kein Zufall“ (S. 9) war, wie es Jürgen Oelkers in seinem Vorwort darstellt und warum diese Vermutung wiederum in die Nähe zu Wynekens Text über seine Kindheit gestellt wird, bleibt in dieser Publikation offen. Eine belastbare Auseinandersetzung mit diesem wichtigen Thema scheint auf Grundlage des edierten Quellentextes nur schwer möglich zu sein. Und auch wenn der Text, den Wyneken über seine Kindheit verfasst hat, unter Umständen Möglichkeiten anbietet, etwas über seinen eigenen, biografisch veränderten Blick auf das eigene Aufwachsen zu erfahren, bleibt fraglich, ob in ihm wirklich „gegen die Absicht des Verfassers die Innenseite pädagogisch genutzter Macht, die Abgründe jener hohen Sphären, in denen sich der Erzieher Wyneken so lange wandeln und wirken sah, wie es eben ging“ (S. 93) so deutlich erkennbar werden, wie es der Kommentar zu der Quelle nahezulegen versucht.

Anmerkungen:
1 Jens Brachmann, Reformpädagogik zwischen Re-Education, Bildungsexpansion und Missbrauchsskandal. Die Geschichte der Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime 1947–2012, Bad Heilbrunn 2015; Jürgen Oelkers, Pädagogik, Elite, Missbrauch. Die „Karriere“ des Gerold Becker. Weinheim 2016.
2 Beispielsweise Peter Dudek, „Versuchsacker für eine neue Jugend“. Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf 1906–1945, Bad Heilbrunn 2009.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension