Cover
Titel
Gastarbeiter für Europa. Die Wirtschaftsgeschichte der frühen europäischen Migration und Integration


Autor(en)
Knortz, Heike
Erschienen
Köln 2016: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
232 S., 38 s/w-Tab. und 5 s/w Abb.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Imke Sturm-Martin, Bonn

In den Wiederaufbau- und Wachstumsjahren nach dem Zweiten Weltkrieg suchten und fanden viele Italiener Arbeit im europäischen Ausland. In Frankreich diskutierte man schon in den späten 1940er-Jahren, dieses Migrationsgeschehen stärker zu reglementieren. Die Bundesrepublik schloss 1955 das erste Anwerbeabkommen mit Italien. Thema der bilateralen Verhandlungen und Expertenkommissionen waren dabei auch die Auswirkungen internationaler Arbeitskräftewanderungen auf Devisenrückflüsse und Handelsbilanzen.

Diesen beiden außenwirtschaftlichen Aspekten der Migrationspolitik hat Heike Knortz ihr neues Buch gewidmet. Mit Blick auf Italien, Frankreich und die Bundesrepublik wertet sie Archivmaterialien aus dem Zeitraum vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis Ende der 1950er-Jahre aus. Sie kann nachweisen, dass sowohl in der Bundesrepublik als auch in Frankreich die Anwerbepolitik auch Teil der Außenwirtschaftspolitik war. Insbesondere finanz- und handelspolitische Strategien spielten eine Rolle, als in den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren die deutschen und französischen bilateralen Abkommen zur Anwerbung italienischer Arbeitskräfte wie auch die Klauseln zur Arbeitskräftemobilität in den Verträgen zur europäischen Integration verhandelt wurden. Heike Knortz kann an vielen Quellen belegen, dass auch der Ausgleich von Schieflagen in den Handelsbilanzen durch Heimatüberweisungen der Arbeitskräfte ein gewichtiges Argument in diesen Verhandlungen war.

Knortz geht zunächst auf die italienische Wirtschaftslage im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg ein und schildert die komplexe Problemlage von Modernisierungsrückstand in der Industrie, dem unterentwickelten Süden des Landes, dem Handelsbilanzdefizit und dem Arbeitskräfteüberschuss. Diese Problemlage in Italien war ebenso Gegenstand der Verhandlungen im Rahmen der Marshall-Plan-Institutionen (CEEC, später OEEC) wie auch die Herausforderungen, denen die französische Wirtschaft begegnete. Dazu zählte insbesondere eine anhaltende Devisenschwäche. Ausführlich wertet Knortz die Quellen zu den bilateralen Verträgen zwischen Frankreich und Italien aus, die in den Beständen unterschiedlicher französischer Ministerien zur Frage der Einwanderung im ersten Nachkriegsjahrzehnt zu finden sind. Zentrales Thema für Knortz ist in diesem Zusammenhang das Volumen der Heimatüberweisungen der italienischen Arbeitskräfte. Untersucht wird auch, wie das Problem des italienischen Arbeitskräfteüberschusses in den Gremien der ILO, der NATO, der OEEC, der EGKS und im Vorfeld der EWG-Gründung thematisiert wird. Die Unterlagen einer internationalen Expertenkonferenz zur europäischen Migration, die im Sommer 1950 in Paris tagte, zeigen den hohen Stellenwert des Themas. Mit einem Kapitel über die Verhandlungen des deutsch-italienischen Anwerbeabkommens sowie über die Tätigkeit der deutschen Kommission in Verona bis Ende der 1950er-Jahre schließt die Untersuchung. In der Zusammenfassung bekräftigt Knortz noch einmal ihre sehr zugespitzte Ausgangsposition, die Anwerbung italienischer Arbeitskräfte in Frankreich und der Bundesrepublik sei nicht mit industrieller Nachfrage, sondern nur mit außenwirtschaftlichen Interessen erklärbar. Der wichtigste Beleg dafür ist eine Einschätzung des französischen Botschafters in Bonn zum Abschluss des deutsch-Italienischen Anwerbeabkommens. Für Botschafter Christian de Margerie stand fest, dass Bonn beim Abschluss des Abkommens eher von finanzpolitischen Motiven geleitet war als von der Nachfrage nach Arbeitskräften.

Eine Revision der Gemengelage von Motiven für den Abschluss von Anwerbeabkommen ist eine interessante Ausgangsposition. Leider kommt in der vorliegenden Studie die Diskussion unterschiedlicher Möglichkeiten der Gewichtung zu kurz. Die Quellenanalyse betrifft nur die außenwirtschaftliche Seite, der Leser sucht vergeblich nach einer qualitativen Einordnung des Themas in die anderen Punkte auf der Agenda der verhandelnden Parteien. Am Ende liegt für Knortz die bisherige historische Migrationsforschung zwar falsch, ihre Studie aber liefere „unumstößliche Ergebnisse einer wirtschaftshistorischen Analyse des frühen europäischen Migrationsregimes“, wie sie selbst in ihrer Zusammenfassung urteilt (S. 194).

Würde Knortz bemängeln, dass die deutschsprachige historische Migrationsforschung wirtschaftsgeschichtliche Aspekte nicht gerade zu ihren Schwerpunkten zählen kann, könnte man ihr ohne weiteres beipflichten. Doch ihre Kritik an der historischen Migrationsforschung generell bleibt im Vagen: Sie strebt eine „Korrektur des bisherigen Bildes von der frühen italienischen Arbeitsmigration“ an (S. 195), bleibt aber den Nachweis schuldig, wer für sie das „bisherige Bild“ der Arbeitsmigration vertritt. Auch in der Einleitung spricht sie von allgemein gültigen „Annahmen“ (S. 14), denen sie keine Urheber zuordnet.

Aber handelt es sich wirklich um eine „allgemeine Annahme“, die Anwerbeabkommen wären ausschließlich zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs und auf konkrete Forderungen aus der Industrie geschlossen worden? In der historischen Migrationsforschung findet sich zwar häufig die Beobachtung, dass die Arbeitskräftemigrationen der Wirtschaftswunderjahre einen Bedarf gedeckt haben. Ein Urteil über die Motivlagen für den Abschluss von Anwerbeverträgen ist damit jedoch noch nicht gefällt, die Existenz weiterer Motive neben Ab- oder Zuwanderung von Arbeitskräften nicht ausgeschlossen. Wie europäische Länder jeweils ihre nationalen Detail-Interessen im Kontext einer wirtschaftlichen Integration in dieser Zeit durchzusetzen wussten, hat schon Alan Milward1 vor Jahrzehnten belegt. In vielen vorangegangenen Studien sind ähnliche Bestände ausgewertet worden. Gerade im Kontext der europäischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit ist der Zusammenhang von mobiler Arbeitskraft, Kapital, Devisen und Handelsbilanzen unübersehbar und auch in Forschungsarbeiten analysiert worden. Die neuere Forschung zur Geschichte der europäischen Integration sowie zu „Labor Economics“ behandelt eine ganze Reihe der hier berührten Fragen, wird von Knortz jedoch kaum beachtet. Unter den zwanzig Titeln aus der Literaturliste, die jünger als zehn Jahre sind, findet sich nur ein Zeitschriftenaufsatz. Auch die aktuellen Forschungen von Roberto Sala, Caglar Ozden oder Grazia Prontera2, die einschlägige Ergebnisse zur hier behandelten Problemlage geliefert haben, sind nicht zitiert. Ausgerechnet für die Perspektive der „Arbeitskräfte abgebenden Länder“, die Knortz laut Einleitung (S. 17) besonders in den Fokus nehmen möchte, ist die Literaturgrundlage damit unvollständig, italienische Archive wurden nicht konsultiert. Für die Analyse der italienischen Verhandlungsposition reichen Knortz die Berichte der französischen Botschafter aus Italien.

Trotz dieser kritischen Anmerkungen ist das Buch ein Gewinn für die Migrationsforschung. Dass außenwirtschaftliche Interessen eine Rolle in den Verhandlungen von Migrationsabkommen spielen, ist hier gründlich nachgewiesen. Offen bleibt die Frage nach ihrer Einordnung innerhalb der vielfältigen Interessenlagen. Das Buch öffnet den Blick dafür, welche interessanten Ergebnisse eine engere Zusammenarbeit von wirtschaftswissenschaftlicher und historischer Migrationsforschung erzielen könnte. Es bleibt zu hoffen, dass diese zukünftigen Ergebnisse dann nicht „unumstößlich“ sind, sondern immer offen bleiben für einen weiterführenden, kritischen wissenschaftlichen Diskurs.

Anmerkungen:
1 Alan Milward, A history of European integration, Oxford 1982.
2 Siehe: Roberto Sala, Fremde Worte. Medien für „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik im Spannungsfeld von Außen- und Sozialpolitik, Paderborn 2011; Caglar Ozden / Frédéric Docquier / Giovanni Peri (Hrsg.), The Labor Market Effects of Immigration and Emigration in OECD Countries, Bonn 2011; Grazia Prontera, Partire, tornare, restare? L’esperienza migratoria dei lavoratori italiani nella Repubblica federale tedesca nel secondo dopoguerra, Milano 2009.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension