K. Körber (Hrsg.): Russisch-jüdische Gegenwart in Deutschland

Titel
Russisch-jüdische Gegenwart in Deutschland. Interdisziplinäre Perspektiven auf eine Diaspora im Wandel


Herausgeber
Körber, Karen
Reihe
Schriften des Jüdischen Museums Berlin 3
Erschienen
Göttingen 2015: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
161 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Pavel Golubev, Hamburg

„Russisch-jüdische Gegenwart in Deutschland“1 ist der Titel des von Karen Körber herausgegebenen Sammelbandes, der insbesondere die Vergemeinschaftungsprozesse und Zugehörigkeitskonstruktionen dieser postsowjetischen Migrantengruppe und den damit verbundenen Wandel aus verschiedenen soziologischen und anthropologischen Perspektiven in den Blick nimmt. Der Band reiht sich damit in die noch recht überschaubare Forschung zu diesem Thema ein.2 Während das jüdische Selbstverständnis der Eingewanderten und ihre (Neu-)Bestimmung des eigenen Jüdischseins als gemeinsames Leitmotiv die inhaltliche Klammer der Beiträge darstellen, ist die Entwicklung Deutschlands hin zu einer modernen Einwanderungsgesellschaft, „das soziale Faktum der Vielfältigkeit“ (S. 9), der zu berücksichtigende äußere Rahmen.

In ihrem den Band eröffnenden Beitrag analysiert Karen Körber das Mit- und Nebeneinander der alteingesessenen deutsch-jüdischen Gemeinden und der seit 1990 zahlreich eingewanderten russischsprachigen jüdischen Mitbürger/innen unter dem Gesichtspunkt des Aufeinanderprallens unterschiedlicher Vorstellungswelten und Erwartungshaltungen sowie der dabei entstandenen Missverständnisse und Spannungen. Überzeugend zeichnet sie die politisch-rechtlichen Voraussetzungen dieser postsowjetisch-jüdischen Immigration in die wiedervereinigte Bundesrepublik und deren historische Genese im Kontext des sich wandelnden Selbstverständnisses Deutschlands als Einwanderungsgesellschaft nach. Körber macht deutlich, wie die in Nachkriegsdeutschland – in dezidierter Abgrenzung von nationalsozialistischem Rassedenken – auf den religiösen Aspekt reduzierte Definition des Judentums, die auch von deutsch-jüdischen Gemeinden geteilt wurde, mit dem ethnisch-säkularen Selbstverständnis der einwandernden russischsprachigen Juden kollidierte. Als zweites wichtiges Konfliktfeld zeigt die Autorin die konkurrierenden historischen Narrative auf, die jeweils für die Selbstverortung maßgeblich seien: Während für die deutsch-jüdischen Gemeinden in den Nachkriegsjahrzehnten der Holocaust den identitätsstiftenden Bezugspunkt dargestellt habe, stehe für die russischsprachigen Juden der in sowjetischer Tradition als „Tag des Sieges“ gefeierte 9. Mai im Zentrum der Erinnerung. Damit gingen unterschiedliche kollektive Selbstentwürfe als „Opfer des Holocaust“ auf der einen Seite und „Sieger des Krieges“ auf der anderen einher (S. 26). Aber welche Bedeutung wurde von den sowjetischen Überlebenden des Holocaust in den „Tag des Sieges“ gelegt? An dieser Stelle wäre interessant genauer auszuloten, ob nicht größere Unterschiede zwischen der offiziellen sowjetischen Geschichtspolitik und der tatsächlichen kollektiven Erinnerung bestanden: Man denke etwa an das bereits 1961 erschienene bahnbrechende Gedicht „Babij Jar“ oder an Michail Romms epochemachenden Dokumentarfilm aus dem Jahr 1965, die (auch) den Holocaust thematisierten und landesweit rezipiert wurden. Abschließend gewährt Körber einen spannenden Einblick in die Ergebnisse einer umfassenden qualitativen Studie, die die Verschiebungen und Pluralisierungen in der Identitätsarbeit der jüngeren Generation russisch-jüdischer Einwanderer demonstriert.

Melanie Eulitz fokussiert in ihrem Beitrag auf die wiederaufkeimende jüdisch-liberale Bewegung in Deutschland. In einer lokalgeschichtlich angelegten Fallstudie rekonstruiert Eulitz anhand von Interviews und anderem empirischen Material die Herausbildung einer liberal ausgerichteten jüdischen Gemeinde. Das mit der postsowjetisch-jüdischen Zuwanderung einhergehende Wachstum und die bereits vorher bestehenden Liberalisierungsbestrebungen einzelner Gemeindemitglieder werden als die beiden notwendigen Bedingungen, die die separate Entwicklung des liberalen Judentums erst möglich gemacht haben, ausgemacht. Gleichzeitig wird deutlich, dass es zusätzlich eines die Abspaltung auslösenden „Impulses“ bedurfte (S. 50). Durch den mikrohistorischen Zugriff kommen strukturierende Momente wie die Eigenart des gemeinsamen Selbstverständnisses oder die Bedeutung der Vernetzung zum Vorschein, die besonders lesenswert sind.

Einen anderen Ansatz wählt Julia Bernstein: Die Migrationserfahrungen und persönlichen Bewältigungsstrategien der ersten Generation der russischsprachigen jüdischen Eingewanderten nach Deutschland stehen im Mittelpunkt ihres Beitrags. Sie nähert sich aus einer unorthodoxen, „künstlerisch-wissenschaftlichen“ (S. 134) Perspektive dem Thema – theoretische Überlegungen und eigene empirische Beobachtungen ordnen den Stoff ebenso wie Collagen und Grafiken. Feinfühlig reflektiert Bernstein das migrantische Erleben des Ankommens in einer neuen, fremden Welt, das so häufig mit Missverständnissen, Ängsten und Zurücksetzungen verbunden sei und ein Neuverhandeln von vermeintlichen Selbstverständlichkeiten bedeute. Das Aufeinandertreffen von Altem und Neuem, von gewohnten Selbstverständnissen, Vorstellungen und Narrativen der sich selbst meist der urbanen russischen Bildungsschicht zurechnenden (post-)sowjetischen Juden und Normen, Konventionen und Geschichtsbildern der bundesrepublikanischen Aufnahmegesellschaft führe zu Anpassungen, Umdeutungen und Neubewertungen, die die beiden Lebenswelten collagehaft verbinden. Dieses „Sich-Einrichten[s]“ in einer „Zwischenwelt“ (S. 137f.)zwischen Vergangenheit und Gegenwart sei bei der älteren Generation der russisch-jüdischen Zugewanderten, deren sowjetische Hochschulabschlüsse in Deutschland in der Regel nicht anerkannt wurden und deren sowjetische Ausbildung mit dem Grenzübertritt an Bedeutung verlor, zudem mit der Erfahrung sozialer Abwertung und sprachlicher Ohnmacht verbunden. Es vollziehe sich zum Teil in einer symbolisch aufgeladenen, kulturell codierten Form, die für Außenstehende aus der Mehrheitsgesellschaft meist unverständlich sei. Insbesondere führt der Beitrag mit viel Einfühlungsvermögen vor Augen, dass migrantische Lebenswelten nicht im Sinne eines linearen Austauschprozesses des Alten durch das Neue, sondern vielmehr als durch Migrationserfahrungen herausgeforderte Kreativarbeit zu verstehen sind.

In seinem den Band abschließenden Essay bündelt Dmitrij Belkin noch einmal einige der aufgeworfenen Fragen, die er schlaglichtartig zu einer spannenden Innenansicht auf das heutige jüdische Leben in der Bundesrepublik entfaltet. Die jüngste Geschichte der Juden in Deutschland, die gleichzeitig auch die der postsowjetischen Zuwanderung ist, umreißt Belkin in ihren wichtigsten Aspekten und betont dabei auch den Wandel in der Selbst- und Außenwahrnehmung der jüdischen Gemeinschaft und ihres gesellschaftlichen Ortes. Das durch zunehmende Offenheit gekennzeichnete Verhältnis zwischen der jüdischen Minderheit und der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft wird vom Autor historisch aus der Erfahrung der Zuwanderung trotz der belasteten gemeinsamen Geschichte heraus erklärt. Dabei blendet Belkin bei allen positiven Tendenzen auch den in Teilen der Bevölkerung latent vorhandenen Antisemitismus nicht aus. Ebenso thematisiert er das nicht immer harmonische Innenverhältnis zwischen den Alteingesessenen und den „Neuankömmlingen“, das trotz einiger anhaltender Defizite und Schieflagen im Wandel sei und Chancen zur Erneuerung biete. Gelegentliche Missverständnisse und Misstrauen führt Belkin primär auf die doch sehr unterschiedlichen historischen Erfahrungen und disparaten Erinnerungshaushalte zurück: „Eine gemeinsame Sprache der Erinnerung“ gebe es in der jüdischen Gemeinschaft (noch) nicht (S. 157). Ein besonderes Augenmerk des Autors gilt Fragen der heterogenen, fließenden und zuweilen widerstreitenden Selbstverständnisse und Identitätsentwürfe von Jüdinnen und Juden in Deutschland. Diese Vielfalt des entstandenen „Patchwork-Judentums“ wird beispielhaft an drei biografischen Skizzen festgemacht. Als rote Linie zieht sich Belkins Plädoyer für einen allseitig unaufgeregten und unverkrampften Umgang mit dem Judentum und den jüdischen Identitäten sowie für eine stärkere und selbstbewusste Öffnung gegenüber Nichtjüdinnen und Nichtjuden.

Der Band enthält ferner den Aufsatz von Alina Gromova zu Formen der Vergemeinschaftung unter jungen russisch-jüdischen Berlinern, eine Untersuchung der Selbstbilder der jungen russischsprachigen Juden in Chicago von Victoria Hegner und eine Analyse der Funktionen des Komischen im Alltagsdiskurs russisch-jüdischer Eingewanderter von Darja Klingenberg. Im Ganzen wird dem Leser des Sammelbandes auch ein methodisch reflektierter Einblick in den aktuellen Stand der soziologisch-anthropologischen Erforschung verschiedener Aspekte der zeitgenössischen russisch-jüdischen Migration gewährt, sodass sich die Lektüre bestens sowohl zum Einstieg in das Gebiet als auch zur Vertiefung in ausgewählte Problemfelder eignet.

Anmerkung:
1 Das Buch ist als Open Access-Publikation auf der Verlagswebsite frei zugänglich: <http://www.v-r.de/_uploads_media/files/9783666300752_koerber_karen_gegenwart_ebook_025857.pdf> (02.08.2016).
2 Stellvertretend seien genannt: Dmitrij Belkin / Raphael Gross (Hrsg.), Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik, Berlin 2010; Julius H. Schoeps / Willi Jasper / Bernhard Vogt (Hrsg.), Ein neues Judentum in Deutschland? Fremd- und Eigenbilder der russisch-jüdischen Einwanderer, Potsdam 1999.