Cover
Titel
Virtus. Zur Semantik eines politischen Konzepts im Mittelalter


Autor(en)
Schwandt, Silke
Reihe
Historische Politikforschung 22
Erschienen
Frankfurt am Main 2014: Campus Verlag
Anzahl Seiten
227 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Janosch Faber, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Silke Schwandt hat sich in ihrer Dissertation, die sie 2011 im Umfeld des Leibniz-Projektes zur „Politischen Sprache im Mittelalter“ abschließen konnte, mit virtus eines wichtigen Terminus der mediävistisch-ideengeschichtlichen Tugendforschung angenommen. Vorrangiges Erkenntnisziel Schwandts ist die sich im Gebrauch der Vokabel abzeichnende sprachliche Verarbeitung historischer Wirklichkeiten. Ihr geht es also um die sprachlichen Befunde (das „Was?“), die Situation des Wortgebrauchs (das „Wann?“) sowie deren Einbettung in Argumentation und historische Zusammenhänge (das „Warum?“).

Das theoretisch-methodische Gerüst Schwandts bilden insbesondere Überlegungen Niklas Luhmanns zu „Gesellschaftsstruktur und Semantik“.1 Die von ihm als „gepflegte Semantik“ bezeichnete Struktur von Bedeutungssetzung und -wahrnehmung sprachlicher Sinnträger basiere auf den gesellschaftlichen Verhältnissen insgesamt. Im Kern möchte Schwandt daher nicht lediglich Wortgebrauchsgeschichten verfassen, wenn diese auch den Abschluss des Buches bilden, sondern „eine Geschichte der Gesellschaft durch die Lupe der Sprache“ (S. 11).

Schwandt plädiert für ein kulturgeschichtliches Verständnis von Politik. Dieses ermögliche eine auf Geltungsansprüche und Ordnungsbehauptungen ausgerichtete Analyse zeitgenössischer Diskurse. Ansprüche, Behauptungen und die darin ausgedrückten moralischen Bewertungen müssten kommunikativ ausgehandelt werden und sich dementsprechend sprachlich niederschlagen. Für diese kommunikativen Prozesse sei ein Gegenüber nötig, das Schwandt im steten Bezug auf die Gemeinschaft als dem sozialen Ganzen verortet. Gemeinschaft, in Abgrenzung zur Gesellschaft, die Schwandt mit Luhmann als Bezeichnung für die kommunikativen Prozesse selber definiert, bilde Inhalt und Rahmen der Diskussionen um politische Ethik: Sie sei Gegenstand der von ihr untersuchten Werke und überindividueller Bezugsrahmen für die darin behaupteten Gültigkeiten. Es stehe daher zu erwarten, dass sich virtus, entgegen der Annahmen der bisherigen Forschung, als eine politische Vokabel erweise.

Das von Schwandt gewählte Korpus besteht aus vier Gesellschaftsspiegeln, die Schwandt jedoch als Gemeinschaftsspiegel bezeichnet: Augustinus’ De civitate dei (5. Jh.), der Regula pastoralis Gregors des Großen (6. Jh.), der Via regia Smaragds von St. Mihiel (9. Jh.) und dem Policraticus Johannes’ von Salisbury (12. Jh.). Da sich die Sprachgebräuche der vier Spiegel zu nicht geringen Teilen aus dem Bibel-Vokabular speisten, wird ihnen die Vulgata vorangestellt (Kapitel 6). Im Vorfeld der Darstellung benennt Schwandt als erstes Ergebnis ihrer Studien drei Bedeutungsfelder von virtus, nach denen sich auch die Gliederung richtet: Virtus könne „moralische Norm“ (Kapitel 7), „persönliche Kraft“ (Kapitel 8) und „abstrakte Wirkmacht“ sein (Kapitel 9). Abgeschlossen wird das Buch mit drei Wortgebrauchsgeschichten zu virtus und ihrer Funktion im politischen Diskurs (Kapitel 10), zu den Subjekten und Objekten von virtus (Kapitel 11) und zu den mit virtus verbundenen sprachlichen Variationen und Stabilisierungen (Kapitel 12).

Eine Grundannahme Schwandts ist, dass das Fehlen des klassischen politischen Vokabulars zwischen Spätantike und 13. Jahrhundert kein Ausdruck mangelnder Diskussion oder politischer Reflexion sei. Das Politische sei vielmehr in anderen sprachlichen Ausdrücken zu suchen. Schwandt resümiert, dass virtus im Zentrum steter Auseinandersetzungen um „Herrscherlegitimation und Handlungsnormierung“ gestanden habe (S. 194). Augustinus benutze virtus als eine zentrale Vokabel im Bereich der Reflexion über die soziale Ordnung: Die richtige Art von virtus entscheide über die Teilhabe an der civitas dei. Diese Auslegung sei nur möglich, da virtus als Konzept über ein intellektuelles Integrationsmoment verfüge, das die Ausführungen Augustinus für beide Rezipientenkreise, den griechisch-römischen und den christlichen, verständlich mache. Die deutliche Christianisierung der Vokabel gehe weit über das durch die Vulgata geprägte Sinnfeld hinaus.

Dass Augustinus’ virtus-Verständnis erfolgreich gewesen sei, könne man an den beiden frühmittelalterlichen Spiegeln ablesen. Virtus sei bei Gregor und Smaragd genuin christliche Tugend und Attribut guter Herrschaft, und beide benutzten sie zur konkreten Ausgestaltung christlicher Ämter. Bei Johannes von Salisbury erweise sich virtus schließlich erneut als intellektuelles Integrationsmoment. Johannes erweitere das christliche Sinnangebot durch dasjenige der antiken Philosophie, nun aber nicht mehr komplementär, wie bei Augustinus, sondern hierarchisierend. Die antike Philosophie stehe im Dienste der christlichen Ethik.

Schwandt folgert aus diesen Befunden, dass die Bedeutung dort, wo der sprachliche Aufwand zur Aktualisierung des Sinnangebotes gering sei, weitgehend stabil bleibe. Virtus als persönliche Kraft werde kontinuierlich und in annähernd gleichbleibender Frequenz in allen vier Werken verwendet und das Bedeutungsfeld kaum diskutiert. Variation und Selektion finde vor allem dort statt, wo eine Sinnzuschreibung zum Problem werde. Virtus als moralische Norm stehe bei allen vier Werken im Zentrum der Argumentation und werde entsprechend diskutiert. An diesen Stellen verändere sich daher das Bedeutungsgefüge. Virtus sei überall dort, wo es auf Herrschaftsvorstellungen, Gemeinschaftsmodelle und Verhaltensnormierung ankäme, konstitutives Element des politischen Diskurses.

Obwohl virtus auch Subjekt einer Aussage sein könne, werde ihre aktive Leistung am ehesten durch die Zuordnung zum Menschen artikuliert: indem sie ihn zu besonderem Handeln befähige, dieser also virtus besitze. Dabei sei virtus entweder Eigenschaft oder Handlung. Als Eigenschaft könne sie Ausdruck göttlicher Macht und Gabe an den Menschen sein und eröffne dem Menschen Handlungsspielräume. Als Handlung wiederum markiere virtus gelungenes, an den Vorgaben der Gemeinschaft orientiertes Handeln. Dabei erweise sich das Mensch-Gott-Verhältnis, wie es aus dem Gebrauch von virtus ablesbar sei, als ein zirkuläres Prinzip. Der Mensch erhalte virtus von Gott, nutze diese Voraussetzung zu gutem Handeln und verdiene sie sich dadurch erneut als Gnadengabe Gottes. Damit bestimme virtus in der christlichen Weltdeutung nicht nur das Wohl der Gemeinschaft, sondern binde auch den Einzelnen und sein Handeln an Gott.

Die Stärke Schwandts liegt in der spezifischen Einbettung der Sinnzuschreibungen in die jeweiligen werkabhängigen Schreibsituationen und Schreibabsichten. Damit leistet Schwandt einen wichtigen Beitrag zum Bedeutungsspektrum von virtus und den Besonderheiten der vier Werke. Eines der gewichtigsten Ergebnisse ist die Identifikation eines christlichen Vokabulars zur Diskussion politischer Theorie in den vier behandelten Werken, die so von der bisherigen Forschung noch nicht wahrgenommen wurde.

Mit der Begrenzung auf nur vier Werke ist aber auch schon der größte Schwachpunkt der Arbeit gegenüber ihrem eigenen Anspruch benannt. Die Beschaffenheit des Korpus ist eine der wesentlichen Herausforderungen geschichtswissenschaftlicher Arbeit allgemein, bekommt aber besondere Bedeutung bei einer quantifizierenden Analyse von Sprachmustern, wie Schwandt sie vorgelegt hat. Schwandt möchte „durch die Untersuchung der Gebrauchssituationen [...] Aussagen treffen über die sozialen Ordnungsstrukturen des Mittelalters und den Platz, den der Mensch in diesem christlichen Weltentwurf hat“ (S. 187). Für ein derart weit gefasstes Erkenntnisinteresse ist das Korpus jedoch zu klein und zu einseitig. Die Begründung Schwandts, die Auswahl von Werken nur einer Gattung ermögliche „homogene Beobachtungsstrecken über längere Zeiträume“ (S. 18)2, überzeugt schon aufgrund der zeitlichen Spreizung von nur vier Werken über acht Jahrhunderte vom 5. Jahrhundert bis ins 12. Jahrhundert nicht. Aber auch die Zusammensetzung des Korpus erscheint mit Blick auf soziale Realitäten bedenklich, da es ausschließlich auf ‚Höhenkammliteratur‘ basiert. So verwundert es nicht, dass die meisten Ergebnisse Schwandts sich gerade nicht auf die Ebene der Gemeinschaft beziehen, sondern in der Herausarbeitung autorspezifischer Verwendungsmuster und der Identifikation eines christlich-politischen Diskurses liegen. An dieser Stelle hätte Schwandt deutlicher machen müssen, dass es sich hier nicht um den politischen Diskurs des Mittelalters handelt sondern um vier zeitliche Ausschnitte daraus. Ein Vergleich mit anderen Texten, der den Blick auch auf den impliziten Sprachgebrauch im politischen Diskurs gelenkt hätte, unterbleibt vollständig.

Mit sozialen Realitäten haben Schwandts Ausführungen daher nur insofern etwas zu tun, als die behandelten Autoren Teil davon waren. Schwandt erfasst also zunächst einmal lediglich die sprachlich verarbeiteten sozialen Realitäten der einzelnen Verfasser. Erhoffte Aussagen über „die Gesellschaft durch die Lupe der Sprache“ sind auf der Basis eines solchen Korpus kaum möglich. Die Arbeit ist daher nicht zuletzt auch ein Beitrag zur politischen Ideengeschichte, ohne dass sie die an diese herangetragene Kritik der mangelnden Rückbindung an die sozialen Realitäten der Menschen durch den Ansatz der historischen Semantik vollständig entkräften kann.3

Anmerkungen:
1 Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, 4 Bde., Frankfurt am Main 1980–1995.
2 Im Gegenteil fordert Bernhard Jussen, auf den Schwandt sich bezieht, dass solche auf einer Gattung beruhenden Beobachtungsstrecken anschließend mit einander in Bezug gesetzt werden sollen. Vgl. Bernhard Jussen, Ordo zwischen Ideengeschichte und Lexikometrie. Vorarbeiten an einem Hilfsmittel mediävistischer Begriffsgeschichte, in: Bernd Schneidmüller / Stefan Weinfurter (Hrsg.), Ordnungskonfigurationen im hohen Mittelalter, Ostfildern 2006, S. 227–256, hier S. 242–243.
3 Vgl. dazu Jussen, Ordo, insbesondere S. 239–244.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension