S. Nikolow (Hrsg.): Erkenne Dich selbst!

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Titel
Erkenne Dich selbst!. Strategien der Sichtbarmachung des Körpers im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Nikolow, Sybilla
Reihe
Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden 11
Erschienen
Köln 2015: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Henrik Eßler, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Kaum ein deutsches Museum fand in der jüngeren Historiographie mehr Beachtung als das 1912 gegründete Deutsche Hygiene-Museum (DHMD). Das mag einerseits mit seiner besonderen Entstehungsgeschichte im Nachklang der großen Hygiene-Ausstellungen zusammenhängen. Die Publikationsdichte zeugt jedoch zugleich vom regen Interesse der Institution an der Aufarbeitung ihrer wechselvollen Geschichte. Auch der jüngst erschienene Sammelband „’Erkenne dich selbst!’ Strategien der Sichtbarmachung des Körpers im 20. Jahrhundert“ geht auf ein von der VolkswagenStiftung gefördertes kooperatives Forschungsprojekt zurück, an dem neben der Initiatorin Sybilla Nikolow (Universität Bielefeld) und dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (Berlin) auch das DHMD beteiligt war. Stattliche 19 Artikel umfasst nun der Sammelband, deren Großteil bereits auf die im September 2013 im DHMD stattgefundene Projekttagung zurückgeht.

Mit seinem Hinweis auf „Strategien der Sichtbarmachung“ verspricht der Untertitel des Bandes nicht zuviel: Der Begriff der „Sichtbarmachung“ geht hier weit über die rein technische Ebene der Wissenspopularisierung hinaus.1 Wie die Herausgeberin in der Einleitung betont, ist letztere „nicht als externer Vorgang zu verstehen, sondern bereits als Teil von Wissensproduktion.“ (S. 26) So beschäftigt sich das Spektrum der Aufsätze neben der „visuellen Gesundheitsaufklärung mit Wissensobjekten“2 auch und gerade mit den soziokulturellen Bedingungen dieser Praktiken und dem Konstruktionscharakter bestimmter „Sichtbarkeiten“. Wenngleich insbesondere die „durchsichtige Frau“ als vieldeutiges Paradebeispiel des Hygiene-Museums nicht nur im Beitrag von Christian Sammer Erwähnung findet, wird der Blick ausgehend von der Objektebene stets auf die beteiligten Akteure und Institutionen ausgeweitet.

Obgleich die Tätigkeit des Deutschen Hygiene-Museums im Mittelpunkt des Bandes steht, kommt es dem Band sehr zugute, dass dieses keineswegs isoliert betrachtet wird. Die Aufsätze Helmuth Trischlers und Thomas Stellers leisten im ersten Kapitel „Orte“ ihren Beitrag, das DHMD in den Kontext eines im frühen 20. Jahrhundert neu entstehenden Typus der „Gegenwartsmuseen“ zu stellen, zugleich aber die spezifischen Bedingungen des Dresdener Beispiels zu verdeutlichen. So zeigt Trischler auf, wie eine ganze Reihe von neu gegründeten Technikmuseen in diesem Zeitraum „als naturwissenschaftlich-technische Bildungsstätte […] eine wichtige Schnittstelle zwischen Staat, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Gesellschaft“ (S. 47) einnahm. Anders als die Museen „alten Stiles“, deren Hauptaugenmerk auf dem Sammeln und Bewahren kultureller Güter lag, hatte hier das Ausstellen absolute Priorität. Nicht selten wurden die hierfür benötigten Exponate wie im Falle des DHMD sogar selbst angefertigt. Dass sich mit dem Ausbau einer eigenen Lehrmittelproduktion in den 1920er-Jahren die Strategie des Museums hin zu profitorientiertem Wirtschaften verschob, verdeutlicht Steller: „Werbung, Absatzsteigerung und Konkurrenzverdrängung bestimmten jetzt die Museumspolitik mit.“ (S. 82) Zugleich sei eben dies eine Voraussetzung gewesen „um sich gegenüber der öffentlichen Hand als kompetenter, leistungsfähiger und effizienter Dienstleister im Bereich Gesundheitsaufklärung“ (S. 86) profilieren zu können.

Den eigentlichen Sichtbarmachungspraktiken widmet sich der Band in zwei getrennten Kapiteln, deren erstes sich explizit Modellen des Körpers widmet. Angesichts der zahlreichen Forschungspublikationen zu diesem Thema scheinen die vier Beiträge zunächst wenig Neues zu bieten. Ihre zum Teil ungewöhnlichen Perspektiven wecken jedoch durchaus Interesse. Wie etwa Nick Hopwood aufzeigt, erlangte die Darstellung eines vergrößerten Embryomodells in der Porträtbüste des Anatomen Wilhelm His eine Vermittlerrolle als „Doppelporträt zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit“ (S. 178). Aufmerksamkeit verdient darüber hinaus Christian Sammers Beitrag über „durchsichtige Ganzkörpermodelle“, der sich weniger mit der Anfertigung der Objekte als mit deren „Materialität und symbolischer Aufladung“ beschäftigt (S. 181). Wie Sammer erläutert, stand der bereits angedeuteten diskursiven Symbolträchtigkeit auch eine realpolitische im „Krieg der Systeme“ zur Seite.

Vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit wurde dagegen bislang der Nutzung von Prüfapparaten in der Gesundheitsaufklärung gewidmet, die den zweiten Schwerpunkt der „Praktiken“ bildet. Hier sticht vor allem Sybilla Nikolows Darstellung der Körperleistungsmessungen im Rahmen der nationalsozialistischen Gesundheitsausstellungen heraus. Wie der antike Leitspruch „Erkenne dich selbst!“ im Zusammenhang mit den biopolitischen Steuerungs- und Kontrollversuchen des Staates in ein „Erkenne und prüfe dich selbst“ (S. 226) verwandelt wurde, zeigt sie am Beispiel der Ausstellung „Gesundes Leben – Frohes Schaffen“. Dass solche Leistungsmessungen im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Rationalisierungsbestrebungen bereits in den 1920er-Jahren zunehmend den wissenschaftlichen Diskurs bestimmten, verdeutlicht auch der Beitrag Noyan Dinçkals. Während dieser insbesondere auf die sportlichen Komponenten der großen Hygiene-Ausstellungen eingeht, mangelt es den Aufsätzen von Lars Bluma und Max Stadler ein wenig an der Verknüpfung mit dem Rahmen. Auf die wichtige Rolle des künstlichen Lichts in der Inszenierung der DHMD-Ausstellungen geht Stadler unverständlicherweise gar nicht ein, obwohl dies bereits zeitgenössisch thematisiert worden war.3

Auf die Rolle der Medien „im Zeitalter des Auges“ blickt das abschließende Kapitel. Naheliegend erscheinen hier zunächst die Arbeiten von Anja Laukötter zur Sexualaufklärung im Film sowie Anna-Gesa Leuthardt, die sich mit gedruckten Ausstellungsführern beschäftigt. Zwar ist das Feld der Gesundheitsaufklärungsfilme keineswegs unbearbeitet, mit ihrem emotionsgeschichtlichen Ansatz nimmt Laukötter jedoch eine erweiterte Perspektive ein. Lobenswert ist zudem, dass sie den Untersuchungszeitraum bis in die jüngste Vergangenheit ausweitet und so einerseits den mehrfachen didaktischen Wandel, andererseits Unterschiede in Ost und West vergleichend abbilden kann. Leuthardt zeigt hingegen, welche „komplementäre Funktionen“ zur Ausstellung „populäre Führer“ des DHMD auch als „Merkheft und Nachschlagewerk“ (S. 356) erfüllten. Der Bedeutung von Plakaten als Mittel der Wissenspopularisierung widmen sich Claudia Stein und Roger Cooter, deren Aufsatz jedoch die Bindung zu den übrigen Beiträgen des Sammelbandes vermissen lässt. Etwas ungünstig platziert in diesem Kapitel wirkt Michael Tymkiws lesenswerter Artikel über spielerische Elemente der 1935 in Berlin gezeigten Ausstellung „Das Wunder des Lebens“. Er macht dabei aufmerksam auf die bisher wenig berücksichtigte Vorbildwirkung der integrierten Dresdner Objekte auf nachfolgende US-amerikanische Hygiene-Ausstellungen.

Alles in allem gelingt es dem Sammelband jedoch durchaus, die zahlreichen Einzelbeiträge zu einem fokussierten Blick auf verschiedene „Strategien der Sichtbarmachung“ zu verbinden. Die unterschiedlichen Perspektiven wirken dabei eher bereichernd, so dass auch in der verhältnismäßig gut erforschten Geschichte des DHMD neue Facetten beleuchtet werden. Ihren Beitrag leisten dazu insbesondere die empirisch fundierten Forschungsarbeiten der Bielefelder Arbeitsgruppe. Auch die Erweiterung des Blickes bis in die jüngere Zeitgeschichte ist zweifellos zu begrüßen. Zu bemängeln ist hingegen, dass die Vorgeschichte der Hygiene-Ausstellungen weitgehend ausgeblendet wird. Während die Grundlagen der Hygienebewegung wenigstens gestreift werden, bleiben etwa die Beziehungen zu den anatomisch-pathologischen Ausstellungspraktiken des 19. Jahrhunderts unbeleuchtet. Ein Mangel, der sicher auf die zeitliche Fokussierung des Forschungsprojektes zurückzuführen ist, jedoch auch auf bestehende Forschungsdesiderate hinweist.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Hans-Jörg Rheinberger, Objekt und Repräsentation, in: Bettina Heintz / Jörg Huber (Hrsg.), Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Wien 2001, S. 55–61.
2 So der Titel des zugrunde liegenden Forschungsprojektes: "ERKENNE DICH SELBST! Visuelle Gesundheitsaufklärung mit Wissensobjekten aus dem Deutschen Hygiene-Museum Dresden im 20. Jahrhundert“.
3 Vgl. beispielsweise Caesar Schäffer, Über die Notwendigkeit eines Hamburgischen Volksmuseums für Hygiene, in: Verhandlungen des Naturwissenschaftlichen Vereins in Hamburg 20 (1912), S. 1–10, hier S. 8f.

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