D. Oels u. a. (Hrsg.): „Der ganze Verlag ist einfach eine Bonbonniere“

Cover
Titel
„Der ganze Verlag ist einfach eine Bonbonniere“. Ullstein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts


Herausgeber
Oels, David; Schneider, Ute
Reihe
Archiv für Geschichte des Buchwesens – Studien 10
Erschienen
Berlin 2015: de Gruyter
Anzahl Seiten
VV, 433 S.
Preis
€ 119,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Enno Kaufhold, Berlin

Das hat sich der namenlos gebliebene Verlagsvertreter des Münchner Georg Müller Verlags seinerzeit sicher nicht träumen lassen oder gar vorstellen können, dass seine mit dem Begriff der Bonbonniere metaphernhaft gefasste Umschreibung des Ullstein-Verlags einmal zum Titel einer wissenschaftlichen Betrachtung eben dieses inzwischen historisch gewordenen Verlags-Imperiums werden würde. Andererseits gehört es auch nicht zu den Gepflogenheiten, dass wissenschaftliche Publikationen mit einer poetischen Wendung wie „Der ganze Verlag ist einfach eine Bonbonniere“ tituliert werden. Das hat aber etwas für sich, sowohl als ansprechende Formulierung wie als Umschreibung dieses weltberühmten Verlags und spricht gleichzeitig für David Oels und Ute Schneider, die beiden Herausgeber des hier zu besprechenden Sammelbandes (in der Annahme, dass die beiden für die Wahl des Titels verantwortlich sind). Der Untertitel „Ullstein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ macht dann schon deutlicher, worum es in dem Buch geht. Den Ullstein Verlag zu kennen setzt jedoch beinahe genauso viel kulturhistorisches Wissen voraus wie das Coverbild mit der Mehrfachmontage eines Mannes, der in einer Illustrierten mit dem Titel Uhu liest. Denn wer kennt heute noch dieses Monatsmagazin? (Als einem Berliner Verleger vor wenigen Jahren der Vorschlag unterbreitet wurde, er möge dieses Magazin in einem Re-Print wieder auflegen, lehnte dieser mit der Begründung ab, man würde den Namen Uhu allenfalls mit dem Alleskleber in Verbindung bringen …)

Doch zurück zum Begriff Bonbonniere. Die Formulierung stammt vermutlich aus einem auf 1927 zu datierenden Bericht. Damit verbinden sich Vorstellungen des Süßen, seien es Bonbons oder Pralinen, der Begriff meint aber primär die Verpackung. Dieser Sachverhalt trifft bestens auf den Ullstein Verlag zu, denn er schloss Tageszeitungen, Illustrierte, Monatsmagazine, die Produktion von Schnittmustern, den Druck von Büchern, die Beteiligung an Filmproduktionen, das Anzeigengeschäft und schließlich noch ein Reisebüro mit ein. Dieser unternehmerischen Vielfalt geht der vorliegende Sammelband nach, der an eine Tagung anknüpft, die im April 2013 am Institut für Buchwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz stattfand. Die Textautorinnen und -autoren arbeiten und forschen in den Bereichen Germanistik, Geschichtswissenschaften, Buchwissenschaften, Philosophie und Geisteswissenschaften, Medien- und Kommunikationswissenschaften, was den interdisziplinären Charakter mit dem Schwerpunkt Medienwissenschaften erkennen lässt. Nach der sachkundigen Einführung durch die beiden Herausgeber folgen die Themengruppen „Unternehmen“, „Periodika und Reihen“, „Autorinnen und Autoren“, „Fotojournalismus“ und „Familie Ullstein“. Hinsichtlich des Sprachduktus und der Faktenfülle spricht viel dafür, dass es sich bei allen Textbeiträgen um überarbeitete und inhaltlich angereicherte Fassungen handelt, was positiv zu werten ist. Jeder Beitrag beginnt mit einer kurzen Zusammenfassung auf Deutsch und Englisch, ist mit Fußnoten versehen und endet mit einem Verzeichnis unveröffentlichter wie veröffentlichter Quellen sowie weiterer Forschungsliteratur. Das erweist sich als sinnvoll, ungeachtet der so in Kauf genommenen Wiederholungen. Fett gedruckte Zwischentitel sowie Illustrationen und Fotografien (teils sogar ganzseitige) lockern die dominanten Textfassungen auf. Ein Personenregister und ein (zu) kurz gefasstes Autorenverzeichnis schließen das mit 433 Seiten üppig geratene und gleichwohl buchtechnisch ansprechend gemachte wie sorgfältig edierte Werk ab.

Hier ist nicht der Raum, um auf alle Beiträge, die ausnahmslos sehr detailliert sind, einzugehen. Der Gesamteindruck ist aber so, dass gerade die thematische Auffächerung des Gesamtkomplexes in Einzelbetrachtungen eine Fülle neuer belastbarer Fakten zutage gefördert hat. Das hat umso mehr Gewicht, als der Ullstein Verlag – und das wird ganz nebenbei in jeder Phase spürbar – fraglos an der Spitze des deutschen Zeitungs-, Zeitschriften- und Magazinmarktes lag und als solcher mit Blick auf die deutsche Mediengeschichte eine nicht unbeträchtliche repräsentative Bedeutung hatte. Die übergeordneten und wiederkehrenden Stichworte sind: Judentum, Liberalismus, Österreich, Amerikanismus, Emigration, Nationalsozialismus und Krieg.

Das von den beiden Herausgebern angemerkte Desiderat hinsichtlich der bislang nur unzulänglichen Aufarbeitung des Bildjournalismus im Hause Ullstein wird von den mit diesem Themenbereich befassten Autoren zwar relativiert, an dieser Stelle sehe ich aber nach wie vor die größten Lücken (allein die mager vertretenen Fotografennamen innerhalb des Personenregisters lassen das erkennen). Dabei käme es darauf an, analytischer auf die Fotografien als ureigene Quellen einzugehen, um sie so aussagekräftiger im Zeitkontext zu interpretieren. Im vorliegenden Fall ist Patrick Rösslers empirische Suche nach Bildern des „Neuen Sehens“ nur bedingt überzeugend, weil er darüber die vordergründig weniger auffälligen, aber dennoch bestehenden Neuerungen in der Pressefotografie mit Fotografen wie Erich Salomon oder Martin Munkacsi übersieht. Diese kamen 1928 zu Ullstein und waren mit ihrem „neuen“, nämlich journalistischen Sehen mindestens so avant-garde wie die einschlägig bekannten Exponenten des Neuen Sehens. Doch sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es Rösslers Initiative zu verdanken ist, dass heute eine Reihe wichtiger Publikationen der Weimarer Jahre online einsehbar sind.1 Dies bedeutet für die Forschung einen immensen Fortschritt.

Nach wie vor ist strittig, in welchem Maße sich der Ullstein Verlag – und das heißt konkret: die Familie Ullstein und die leitenden Persönlichkeiten – gegen den aufziehenden Faschismus zur Wehr gesetzt hat oder ihm durch Opportunismus den Weg zu bereiten half. Dieser Sachverhalt ist auch nicht mit einem Satz abgetan, zur Klärung bedürfte es einer Analyse, die der Chronologie folgen müsste, um so zu jeweils kontextualisierten Urteilen zu kommen. Als schärfstes Urteil hallt immer noch Carl von Ossietzkys am 5. Januar 1932 in der Weltbühne publizierte Fundamentalkritik nach, in der er seine Überlegungen zum „Fall Franz Höllering“, dem kurz zuvor entlassenen Chefredakteur der B. Z. am Mittag, mit der schreienden Feststellung enden ließ: „Es ist die skandalöseste Kapitulation vor dem Nationalsozialismus, die bisher zu verzeichnen war. Es ist ein Verbrechen an der deutschen Pressefreiheit, mitten in ihrer schwersten Krise.“2 Das schrieb Ossietzky am Ende der Weimarer Republik. Und am Anfang, wie sah es da aus? Das berühmte Titelbild der Berliner Illustrierten Zeitung vom August 1919, das Reichspräsident Friedrich Ebert und Reichswehrminister Gustav Noske in Haffkrug in Badehosen abbildete, belegt nach wie vor schlagend, dass es in dieser unmittelbaren Nachrevolutionszeit im Hause Ullstein keine Sympathien für die Vertreter der Arbeiterschaft und womöglich der neuen demokratischen Verfassung gab (dies gilt stellvertretend zugleich für weite Kreise des Bildungsbürgertums und Bürgertums, das die BIZ las). Dafür spricht verschärfend der Umstand, dass die Verlagsleitung dieses Bild just zum Zeitpunkt der Wahl des ersten Reichspräsidenten veröffentlichte (übrigens mit einem bewusst gesetzten Ausschnitt aus einem Querformat mit weiteren Personen). Dieses Bild hat Friedrich Ebert persönlich, aber nicht minder der ersten deutschen Demokratie nachhaltig geschadet. Liberalität sieht anders aus. Allein dieses Beispiel veranschaulicht, wie ergiebig es wäre, der im Ullstein Verlag praktizierten Bildpolitik detaillierter nachzugehen.

Der Sammelband setzt in seiner konzeptionellen Interdisziplinarität wegweisende Akzente, die richtigen Fährten sind damit gelegt. Dem relativ hohen Ladenpreis dürfte allerdings anzulasten sein, dass dieses Buch nicht die ihm zu wünschende große Verbreitung finden wird (dass es bei der umfassenden Förderung des Projektes am Ende offenbar keine ausreichenden Mittel gab, den Druck zugunsten eines wohlfeileren Buchpreises zu „subventionieren“, ist bedauerlich). Für jeden, der am Ullstein-Imperium ernsthaft interessiert ist, mit welchen speziellen Vorlieben auch immer, gehört dieser Sammelband alternativlos zur Pflichtlektüre. Denn hier ist ein Standardwerk hinzugekommen, an dem sich zukünftig niemand wird vorbeimogeln können.

Anmerkungen
1 Siehe: Illustrierte Magazine der klassischen Moderne <http://magazine.illustrierte-presse.de/> (16.10.2015).
2 Carl von Ossietzky, Der Fall Franz Höllering, in: Die Weltbühne 28 (1932), H. 1, S. 1–6, Zitat S. 6.

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