C.-F. Berghahn u.a. (Hrsg.): Edward Gibbon im deutschen Sprachraum

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Titel
Edward Gibbon im deutschen Sprachraum. Bausteine einer Rezeptionsgeschichte


Herausgeber
Berghahn, Cord-Friedrich; Kinzel, Till
Reihe
Germanisch-Romanische Monatsschrift. Beihefte 66
Erschienen
Anzahl Seiten
409 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rolf Lessenich, Institut für Anglistik, Universität Bonn

Die vorliegende Sammlung druckt 19 Vorträge ab, gehalten auf einem Braunschweiger Kongress zur Gibbon-Rezeption des späten 18. und des 19. Jahrhunderts, von der Spätaufklärung über Romantik und Historismus bis hin zum Wilhelminismus. Gerd Biegel begründet in einer soliden "Spurensuche" (S. 185–202) überzeugend die Wahl Braunschweigs als Tagungsort. Obgleich Gibbon Braunschweig wohl nie besuchte, wirkten hier sowohl Johann Joachim Eschenburg, Gibbons wie Shakespeares Übersetzer, als auch Gibbons Bewunderer Gotthold Ephraim Lessing. Zudem hinterließ Gibbon nach seinem Tode 1794 ein wenig beachtetes Fragment, in dem sich der Brite und Whig als Untertan der Hannoveraner-Könige Georg II. und Georg III. mit der welfischen Geschichte Braunschweigs und Hannovers beschäftigte, „Antiquities of the House of Brunswick“, 1796 ediert in der posthumen Werkausgabe durch seinen Freund Lord Sheffield. Dem Manuskript des Fragments beigefügt und mit veröffentlicht war ein Brief Gibbons an Ernst Theodor Langer, Leiter der Herzoglichen Bibliothek in Wolfenbüttel und Nachfolger von Lessing. Auf der Suche nach Quellen brauchte Gibbon Langers Hilfe. Es entspann sich ein Briefwechsel und es kam auch zu einer von Langer aufgezeichneten persönlichen Bekanntschaft, woraus deutsche Stereotype von „Englishness“ offenkundig werden. Aber es zeigt sich auch ein weiterer Grund, warum der mit seiner sechsbändigen „History of the Decline and Fall of the Roman Empire“ (1776–1788) europaweit rezipierte und zitierte Historiker Gibbon Materialien zur Welfengeschichte sammelte. Er suchte als loyaler Brite auf der Basis der Vorarbeiten des Hannoveraner Frühaufklärers Gottfried Wilhelm Leibniz die Verbindung der deutschen Welfen mit dem italienischen Hause Este im Kontext seiner Rom-Geschichte nachzuverfolgen.

In Deutschland zählte der Londoner Rom-Historiker Edward Gibbon (1737–1794) zu den höchst geschätzten Literaten in englischer Sprache, neben Shakespeare, Oliver Goldsmith, dem Romancier und Historiker Walter Scott, dem Philosophen David Hume und dem schottischen Historiker William Robertson. Sie alle galten im 18. Jahrhunderts als Literaten. Die Unterscheidung von Belletristik und Sachliteratur, wie wir sie kennen, bildete sich erst im 19. Jahrhundert aus, mit dem Effekt, dass (besonders im deutschen Sprachraum) elegant geschriebene Werke der Philosophie, Naturkunde oder Geschichtswissenschaft zunehmend dem Verdacht schöngeistiger Unwissenschaftlichkeit anheimfielen. Gibbon war für Wilhelm Dilthey und Max Weber am Ende des 19. Jahrhunderts nur noch ein schöner Stilist, kein Vorbild eines modernen wissenschaftlichen Historikers mehr, während in England noch im 20. Jahrhundert Winston Churchill Gibbon zum Vorbild seiner Geschichtswerke nahm. So entstanden, wie Berghahn und Andreas Urs Sommer für die Gibbon-Rezeption bei Richard Wagner (S. 329–341) bzw. Friedrich Nietzsche (S. 359–380) zeigen, Leerstellen. Der anfangs von Nietzsche mit Begeisterung gelesene Gibbon wurde zur Unterhaltungslektüre und bildungsbürgerlichen Reminiszenz, und die Beiträgerinnen und Beiträger müssen die Gibbon-Rezeption Wagners und Nietzsches ex silentio rekonstruieren. Im Falle von Wagners (von Cosima Wagner bezeugten) Gibbon-Lektüre zur Zeit des Preußisch-Französischen Krieges von 1870–1871 und im Falle von Nietzsches wohl nur noch gelegentlichen und sekundären Gibbon-Lektüre zur Zeit seiner späten Romanophilie gelingt das. Im Falle von Till Kinzels Ausführungen zur Spärlichkeit der Erwähnungen Gibbons in der deutschen Literatur- und Philosophiegeschichtsschreibung (S. 135–155) freilich kann so wenig Konkret-Belegbares gesagt werden, dass der Beiträger sich in einen wohlgemeinten Aufruf zur Notwendigkeit einer generellen Entschleunigung des Lesens rettet.

So steht der vorliegende Band in der Tradition moderner europäischer Studien zur Geschichte der Rezeption fremder Autoren, wohlwissend, dass Rezeption mehr über die rezipierende Zeit, die rezipierenden Autoren und die rezipierende Kulturtradition aussagt als über die Autoren selbst. Ingo Reichard erklärt beispielsweise überzeugend, warum Gibbon, der "weder ein Civilian noch ein Common Lawyer" war, mit seinem kaum fachgerechten Exkurs in die Geschichte des Römischen Rechts im 44. Kapitel seiner Romgeschichte die Begründung der Historischen Rechtsschule in Deutschland durch Gustav Hugo und Friedrich Carl von Savigny anstieß (S. 101–116). Gibbon war ein Augusteer und Aufklärer, der Geschichte als polybianische oder montesquieusche Abfolge von Aufstieg und Niedergang begriff, einschließlich seiner Geringschätzung des ‚dekadenten‘ Oströmischen Reiches, aber dieses Grundmuster auflöste in eine Vielfalt militärischer, sozialer, gesetzgeberischer und radikal kontingenter Ereignisse, so dass eine klare Abstiegslinie vom Tode Marc Aurels im Jahre 180 über die Mongolenstürme und die Ausbreitung des Islam bis zum Fall des Oströmischen Reichs 1453 nicht mehr erkennbar war. Thomas Richters auch auf handschriftliche Quellen gestützter Beitrag zu August von Platens wechselnder Gibbon-Rezeption (S. 203–229) zeigt, wie schon Gibbon das "travelling concept" des Barbaren (oder Ungarn oder Türken) einmal den Invasoren des Römischen Reiches und dann, nach deren "Entwilderung", auch einmal dem Sittenverfall der Römer selbst anheftete. Die Parallelen zu Napoleons Sicht als Befreier oder Tyrann in der Nachfolge des römischen Kaisertums, je nach des Rheinbunds und Platens wechselnder Loyalität, sind überdeutlich. Deutsche Geschichtsphilosophen wie Historiker des Historismus konnten Gibbon gleichermaßen für sich verbuchen und Parallelen zu Ereignissen ihrer Zeit konstruieren: dem Verlauf der Französischen Revolution 1789–1798, dem Ende des Alten Reichs 1806, den Napoleonischen Kriegen 1799–1815, der Reichsneugründung 1871 oder dem Ausbruch und Verlauf des Ersten Weltkriegs 1914–1918. Dass der Aufklärer Gibbon die Ereignisse von metaphysischen oder providentiellen Vorgaben abkoppelte, ihre Ursachen in rein weltlichen Mechanismen suchte und dabei dem Christentum eine Mitschuld am Niedergang gab, führte in Großbritannien zu heftigeren Kritiken als in Deutschland, wenngleich Gibbons Verteidigungsschrift seiner Thesen auch in Deutschland bekannt wurde. Die deutsche Gibbon-Kritik rieb sich eher an Gibbons mangelnder Quellenkritik oder Ausblendung der Volksmasse als Ursache historischer Ereignisse, wie etwa Roman Lach in seinem klar argumentierten Beitrag über Julian Apostata bei Edward Gibbon und dem Rechtshistoriker und Geschichtsromanautor Felix Dahn zeigt (S. 343–357).

Wie Lach richtig betont, bleibt Julian bei Gibbon als "faszinierendes Mosaik aus einander widersprechenden Urteilen" zurück (S. 357), was auch für Gibbon selbst gilt. Als Bewunderer des Skeptikers David Hume kennt Gibbon keine homogene menschliche Identität, auch nicht in seiner Autobiographie, die in einer französischen und sechs divergierenden englischen Fassungen vorliegt, in denen Aspekte und Urteile dauernd wechseln. Protestantisch erzogener Konvertit zum Katholizismus in Oxford, Rekonvertit zum Protestantismus in Lausanne durch Zwang seines Vaters, dann Glaubensskeptiker durch Lektüre der französischen philosophes, zweimal liberaler Whig-Abgeordneter im Parlament, dann konservativ unter dem Eindruck der Entgleisung der Französischen Revolution gegen Ende seines Lebens, erkannte Gibbon auch in sich selbst kein durchgehendes Muster. In seinem spannenden Beitrag über die Gibbon-Rezeption in den Schriften von Schillers Lehrer, dem empirischen Psychologen Jacob Friedrich Abel, zeigt Peter Erickson die Zentralität des Proselytenthemas in Gibbons Geschichtswerk und in der deutschen Literatur der Klassik und Romantik überhaupt, vor dem Hintergrund der in protestantischen deutschen Landen verbreiteten Angst vor einer konspirativen Re-Katholisierung oder "Proselytenmacherey" (S. 159–184). Abel gestaltete seine Bekehrungs-Episoden aus der Romgeschichte Gibbons in ähnlicher Weise zu belehrenden Narrativen wie Karl Philipp Moritz seine Fälle in seinem „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ (10 Bände 1783–1793) und eignete so Gibbon für sein persönliches Anliegen sowie für die aktuelle deutsche Situation und Wissenschaft an. In dieser Narrativik zeigt sich dann neben der Schwerfassbarkeit Gibbons eine weitere Schwierigkeit in seiner Rezeption – die schon von Walter Scott reflektierte Problematik des Verhältnisses von Geschichtsschreibung und Geschichtsfiktion. Diese wird neben dem oben genannten Beitrag zu Dahn in dem luziden Beitrag von László V. Szábo zu den historischen Romanen des seinerzeit vielgelesenen Joseph Victor von Scheffel aufgegriffen (S. 249–264). Die romanpoetische Verwertbarkeit von Gibbons Romgeschichte hatten schon Christian Dietrich Grabbe und Jean Paul bezeugt.

Wie schwierig sich die Erforschung der Gibbon-Rezeption im 19. und frühen 20. Jahrhundert gestaltet, zeigt sich schon in der schnellen Abfolge, in der deutsche Übersetzungen der gesamten Romgeschichte oder von Teilen der Romgeschichte gleich nach Publikation der einzelnen Bände erschienen. Hinzu kam eine Übersetzung ins Französische, in dem viele deutsche Muttersprachler wie Goethe flüssiger waren als im Englischen, und ein billigerer Schweizer Nachdruck des englischen Originals (– Bücher waren in Großbritannien so teuer, dass selbst Briten kontinentale Nachdrucke von Galignani in Paris oder Thurneysen in Basel lasen –). Wilhelm Kumpmann leitet, nach einem ersten nützlichen Überblick über die Rezeptionsgeschichtsschreibung, den Band mit einem detailgetreuen Beitrag zu den Wirren der Gibbon-Übersetzungen ins Deutsche ein (S. 23–32), gefolgt von einem weiter komplizierenden detailgenauen Beitrag von Hans Erich Bödeker zu Gibbon in deutschen Zeitschriften der Aufklärung (S. 33–64). Die Besprechungen ("Aneignungen") dieser Zeit, etwa in den Göttinger Gelehrten Anzeigen oder der Allgemeinen Literatur Zeitung, waren wie auch in England und Frankreich gewöhnlich sehr umfangreich, weil sie lange Passagen eines besprochenen Werks abdruckten, so dass Rezipienten häufig nicht das mehrbändige Gesamtwerk, sondern nur Auszüge lasen. Die explosionsartig sich vermehrenden Zeitschriften bedienten das Bildungsbedürfnis der Aufklärung und wurden "Nationallektüre". Man darf nur sicher sein, dass ein Rezipient das Gesamtwerk gelesen hat, wenn wir sein eigenes Exemplar mit seinen handschriftlichen Anmerkungen besitzen. Der Rest kann, wie im Falle Nietzsches, durch Falschzitate häufig belegbar, Exzerpt oder gar nur Reminiszenz nach Hörensagen sein.

Eine umfassende Geschichte der Gibbon-Rezeption in Deutschland auch in Kooperation von Historikern, Philosophen, Literaturwissenschaftlern und Juristen zu schreiben, ist daher nahezu unmöglich. Lücken werden bleiben. Dies erklärt den bescheidenen Untertitel des Bandes: "Bausteine einer Rezeptionsgeschichte". Eine Lücke, die man als Literaturwissenschaftler gerne gefüllt sähe, ist die Rezeption der Ästhetik Gibbons im deutschsprachigen Raum. Gibbons Frühschrift „Essai sur l'étude de la littérature“ (1761), in Paris gedruckt und hochgeschätzt, wurde von Eschenburg ins Deutsche übertragen und erfuhr mehrere Auflagen. Auf sie wird im Band öfters Bezug genommen, ihre Wirkung jedoch nie nachverfolgt. Hinzu kommen Gibbons Äußerungen zur Kunst in seiner Romgeschichte, zumal diese Äußerungen ein umgekehrtes Verhältnis von Staatszerfall und Kunstschöpfung (besonders im Byzantinischen Reich) nahelegen und damit eine große Wirkung auf die Ausbildung der Décadence des späten 19. Jahrhunderts gehabt haben dürften: der Schwan singt am vollendetesten, wenn er stirbt; die Sonne ist am schönsten, wenn sie untergeht; die Welt ist am großartigsten, wenn sie wie in Wagners Ring in einer Götterdämmerung (crépuscule des dieux, twilight of the Gods) endet. Der dekadente byzantinische Altersstil als Kunst um ihrer selbst willen erfuhr noch spät eine bemerkenswerte Darstellung in William Butler Yeats' vielzitiertem Gedicht ‚Sailing to Byzantium‘ (1927).

Insgesamt stellt der Band mit seinen Schlaglichtern auf die Gibbon-Rezeption im deutschen Sprachraum jedoch einen wertvollen und eminent gut lesbaren Beitrag zur deutschen Kultur- und Geistesgeschichte zwischen Aufklärung und Wilhelminischer Zeit dar. Hervorzuheben ist, dass er trotz Theoriebewusstsein auf jeden Theoriejargon verzichtet und um elegante Kultursprachlichkeit bemüht ist. Und auch dies mag eine höchst willkommene Form wiederauflebender deutscher Gibbon-Rezeption im 21. Jahrhundert sein.

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