M.S. Baader u.a. (Hrsg.): Kindheiten in der Moderne

Cover
Titel
Kindheiten in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge


Herausgeber
Baader, Meike S.; Eßer, Florian; Schröer, Wolfgang
Erschienen
Frankfurt am Main 2014: Campus Verlag
Anzahl Seiten
514 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Katharina Kucher, Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübingen

„Seit der epochalen ‚Geschichte der Kindheit‘ (1960) des französischen Historikers Philippe Ariès ist keine große und wirkmächtige Geschichte der Kindheit mehr erschienen.“1 Dieser einleitende Satz des Pressetextes, mit dem der Campus Verlag das hier zu besprechende Buch bewirbt, verweist auf die hohen Ansprüche der Herausgeberinnen und Herausgeber.2 Deren Ziel ist es, mit dem vorliegenden Sammelband die Geschichte der modernen Kindheiten als eine „Geschichte der Sorge“ (S. 7) zu erzählen. Dies erlaube, so heißt es in der Einleitung, die gebräuchlichen Paradigmen von Erziehung und Bildung um wichtige Dimensionen zu erweitern: Fragen nach Geschlechterverhältnissen und nach emotionalen und zeitlichen Ressourcen lassen sich stellen; „sozialpolitische sowie institutionelle und transnationale Perspektiven“ können berücksichtigt werden. Ausgehend von der Konzeption der „multiplen Modernen“ soll „nach den jeweiligen Konstruktionen sowie dem Wandel von Kindheit und Kindern als Akteuren“ (S. 15) gefragt werden.

Im Rahmen von 16 chronologisch geordneten Beiträgen, die wiederum in zehn Zeitfenster gefasst sind, versuchen die Autorinnen und Autoren, eine Geschichte der Kindheit in ihrer jeweiligen zeitgenössischen modernisierungstheoretischen Spezifik zu schreiben. Nach einem Überblick über „Versorgte und unversorgte Kinder“ in der frühen Neuzeit, der sowohl Familienbeziehungen und institutionelle Sorge als auch die verschiedenen Unterrichtsformen für Kinder umfasst, folgen sechs Beiträge, die sich mit dem Phänomen der Kindheit(en) im langen 19. Jahrhundert auseinandersetzen. Den Auftakt bildet der Text von Pia Schmid zur bürgerlichen Kindheit, deren Wirkmächtigkeit bis heute anhält. Im „Konstitutionsprozess des Bürgertums“ (S. 42) wurde die Familie aus einer „Wirtschaftsgemeinschaft“ zu einem von Zuneigung und Vertrauen bestimmten Zusammenschluss. Diese Entwicklung manifestierte sich in der Fürsorgebeziehung zwischen Eltern und Kindern, die sich von medizinischen und pädagogischen Diskursen flankiert, in einer speziellen materiellen Kultur niederschlug und zu besonderer Aufmerksamkeit gegenüber dem Nachwuchs führte. Die Realitäten der „proletarischen Kindheit“, die sich in Folge der Industrialisierung und der sich dramatisch verändernden ökonomischen Verhältnisse entwickelten, standen im Gegensatz dazu. Kinderarbeit galt lange als Bestandteil von Erziehung und Disziplinierung, weshalb sich nur langsam eine negative Wertung der Kinderarbeit durchsetzte und erst zum Ende des Jahrhunderts hin wirksame Maßnahmen gegen sie ergriffen wurden. Florian Eßer geht in seinen Ausführungen zur „verwissenschaftlichten Kindheit“ auf die Praxis der empirischen Kindheitsforschung ein, die maßgeblich zu einer normativen Vorstellung von der idealen Entwicklung eines Kindes beitrug. Mit wachsender wissenschaftlicher Begleitung und der „Referenz auf das nationale Wohl“ (S. 147) wurde Kindheit immer mehr von der privaten in die öffentliche Sphäre überführt. Das führte dazu, dass die auf die eigenen Kinder ausgerichteten Ansprüche des Bürgertums zu einer universalen Aufmerksamkeit auch gegenüber anderen Bevölkerungsschichten wurden. Die Beiträge zur „nationalstaatlichen Kindheit“, der „Kindheit der sozialen Bewegungen“ sowie der „großstädtischen Kindheit“ vertiefen manches wichtige Detail oder heben spezifische Erziehungspraktiken wie zum Beispiel die Großstadtpädagogik hervor. Dennoch zeigt sich an dieser Stelle eine Überschneidung der Themenbereiche, die letztlich eher zu inhaltlichen Wiederholungen als zu konzeptioneller Schärfung führt.

Kindheiten in „Massengesellschaft und Wohlfahrtsstaat“ in den Jahren 1914 bis 1945 stellen die nächste Etappe auf dem Weg durch das 20. Jahrhundert dar. Volker Schubert zeigt, dass der Fordismus nicht nur veränderte industrielle Produktionsweisen, sondern auch eine Umorganisation des Privatlebens vorsah. Das Zusammenleben innerhalb der Familien veränderte sich grundlegend: Die Bereiche von Erwachsenen und Kindern wurden zunehmend getrennt, was dazu führte, dass die bis dahin interfamiliäre und intergenerationale Kommunikation und Interaktion ihre Selbstverständlichkeit verlor. Das „Sozialleben des Kindes“ wurde zu einer „pädagogischen Aufgabe“ und spielte sich zunehmend in eigenen Handlungsräumen ab (S. 240).

Im folgenden Abschnitt „Faschismus und Nationalsozialismus“ versucht zunächst Till Kössler, das kulturelle Leitbild des „faschistischen Kindes“ (S. 285) zu erfassen und historisch zu verorten. Er kommt zu dem Schluss, dass in der frühen Kindheit kaum ideologische „Zugriffsversuche“ (S. 309) erfolgten, wohingegen die konzeptionellen Vorstellungen bezüglich älterer Kinder vom Widerspruch zwischen geförderter „Selbständigkeit“ und der Forderung nach Disziplin und „strikter Einordnung“ (S. 310) in die von Erwachsenen vorgegebenen Hierarchien geprägt waren. Der Versuch „Kinder und Kindheiten in Konzentrationslagern“ in die historische Kindheitsforschung zu integrieren, gestaltet sich äußerst schwierig. Wiebke Hiemesch erklärt schlüssig, dass es ein einheitliches Bild der „(Über-)Lebensbedingungen“ von Kindern im Konzentrationslager aufgrund der heterogenen Erfahrungen und Orte nicht geben kann. Der „Status Kind“ hatte zwar in der „nationalsozialistischen Vernichtungspolitik Bedeutung“, die „strukturalen Lebensbedingungen“ (S. 351) in den Lagern unterschieden sich aber für Kinder und Erwachsene kaum. Dennoch kann die durchaus erfolgte Schaffung von eigenen „Schutzräumen“ (S. 338) durch die Eltern oder die Kinder selbst in Form von Spielen auch in den Lagern als ein Kampf um eine Kindheit betrachtet werden.

Fünf Aufsätze decken den Zeitraum von 1945 bis heute ab. Einer Diskussion der „familialisierten Kindheit“ in den 1950er- und 1960er-Jahren folgt der Versuch, die sozialistische Kindheit auf der Basis von „Diskussionen über Kindheit, Politik und Erziehung zwischen 1945 und 1947 in der sowjetischen Besatzungszone“ (S. 391) zu beschreiben. Dabei kann Sabine Andresen nach einem Überblick über die Geschichte der Kinderlandbewegung und der FDJ am Beispiel von Quellen zeigen, dass ursprünglich reformpädagogische Ansätze rasch in staatlich instrumentalisierbare, ideologische Erziehungsvorstellung mündeten. Einen umfassenden und analytischen Überblick über „die reflexive Kindheit“ der 1960er- und 1970er-Jahre gibt Meike Sophie Baader. Sie thematisiert gesellschaftliche und juristische Entwicklungen, die ihren Ausdruck beispielsweise in der Ersetzung des Begriffs „elterliche Gewalt“ durch „elterliche Sorge“ im Familienrecht 1980 finden. Sie betont, dass die „reflexive Kindheit“ die Komplexität der „Lebensverhältnisse in der reflexiven Moderne“ sowohl spiegelt als auch gestaltet und die anspruchsvolle Aufgabe darin besteht, nicht wie Neil Postman das Ende der Kindheit zu beschwören, sondern die „Verschiebung vom Erziehungsoptimismus zur optimierten Kindheit“ (S. 448) in den Blick zu nehmen. Der letzte Artikel des Bandes zeigt eindrucksvoll, dass ein Zugang über die „Transnational Studies“ für die Kategorisierung von Kindheit durchaus fruchtbar sein kann, indem „das Verorten von Kindheiten in einem Nationalstaat reflexiv und der Blick gegenüber Grenzen verflechtende Konstellationen geöffnet“ (S. 493) wird. Auch wenn sich die sozialen Alltagswelten von Kindern grundsätzlich unterscheiden, sorgt der Blick auf die Rechte von Kindern für einen globaler Sorgediskurs und in der Betrachtung der Kinder als „Grenzobjekte“ (S. 506) besteht die Chance, bei aller Unterschiedlichkeit einen politischen Diskurs um „bessere“ Kindheiten zu führen.

Das vorliegende Buch versorgt interessierte Leserinnen und Leser mit einem breiten Spektrum an historischen, sozial- und erziehungswissenschaftlichen Informationen. Das Paradigma der Sorge erweitert die Perspektive auf das Thema Kindheit, allerdings greift es nicht für jeden Zusammenhang. Hilfreich sind die jedem Beitrag angefügten Literaturlisten, wobei eine zentrale Bibliographie am Ende des Bandes übersichtlicher gewesen wäre. Im Einzelfall hätten die Beiträge besser aufeinander abgestimmt werden können. Dies wäre der inhaltlichen Fokussierung zu Gute gekommen; Wiederholungen hätten vermieden werden können. Wie in vielen Geschichten der Kindheit richtet sich auch hier der Fokus im Wesentlichen auf die westliche Welt, dabei hätte an einigen Stellen der Blick über den Tellerrand hinaus durchaus weitere Erkenntnisgewinne liefern können – so beispielsweise durch die intensivere Einbeziehung von Studien zur sowjetischen Kindheit im Zusammenhang mit den Beiträgen zur „sozialistischen Kindheit“ und zu „Kindern und Kindheiten in Konzentrationslagern“.3 Das gewichtigste Monitum aber stellt das fehlende Fazit am Ende des Bandes dar. Wer einen Versuch unternimmt, die Geschichte der Kindheit „neu zu erzählen“ (S. 17), hätte sich der mühsamen Aufgabe stellen müssen, die Ergebnisse der Einzelstudien zu diskutieren und konzeptionell zusammenzuführen.

Anmerkungen:
1 Campus Verlag GmbH, Pressetext zu Kindheiten in der Moderne: <http://www.campus.de/uploads/tx_saltbookproduct/press_text/9783593500799.pdf> (Stand 27.7.2015)
2 Viele der in den letzten Jahren erschienenen historischen Überblicksdarstellungen bleiben in dem vorliegenden Sammelbande unerwähnt. Um nur eine kleine Auswahl zu nennen: Coiln Heywood, A History of Childhood. Children and Childhood in the West from Medieval to Modern Times, Cambridge 2001; Elizabeth Foyster / James Marten (Hrsg.), A Cultural History of Childhood and Family, Oxford 2010 (6 Bde.); Paula S. Fass (Hrsg.), The Routledge History of Childhood in the Western World, London 2013.
3 Exemplarisch seien hier genannt: Catriona Kelly, Children's World. Growing up in Russia, 1890–1991, New Haven (u.a.) 2007; Lisa A. Kirschenbaum, Small Comrades: Revolutionizing Childhood in Soviet Russia, 1917–1932, New York (u.a.) 2001; Cathy A. Frierson / Semen S. Vilenskij, Children of the Gulag, New Haven (u.a.) 2010 (sowie – fast zeitgleich mit dem vorliegenden Sammelband erschienen – dies., Silence was Salvation: Child Survivors of Stalin's Terror and World War II in the Soviet Union, New Haven (u.a.) 2015) und Meinhard Stark, Gulag-Kinder: Die vergessenen Opfer, Berlin 2013.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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