A. Weiß: Soziale Elite und Christentum

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Titel
Soziale Elite und Christentum. Studien zu ordo-Angehörigen unter den frühen Christen


Autor(en)
Weiß, Alexander
Reihe
Millennium-Studien / Millennium Studies 52
Erschienen
Berlin 2015: de Gruyter
Anzahl Seiten
VIII, 245 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Hornung, Institut für Katholische Theologie, Universität Siegen

Die Aufarbeitung der frühchristlichen Sozialgeschichte der ersten Jahrhunderte bildet bis in die jüngste Zeit hinein eine breite Forschungsrichtung innerhalb der verschiedenen altertumswissenschaftlichen Disziplinen. In der Theologie wird das Feld besonders von der Alten Kirchengeschichte und der neutestamentlichen Wissenschaft untersucht. Im Zentrum steht dabei die Frage der sozialen Schichtung der frühchristlichen Gemeinden; seit Adolf Deißmanns Arbeit „Licht vom Osten“ aus dem Jahr 1908 ist dem Thema in zahlreichen Untersuchungen nachgegangen worden.1 Die hier zu besprechende althistorische Studie von Alexander Weiß fügt sich in diese lange Tradition der Forschung ein. Sie wurde von der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig im Wintersemester 2011/12 als Habilitationsschrift angenommen.

Weiß hat seine Studie folgendermaßen aufgebaut: Im ersten Kapitel bietet er zunächst einen forschungsgeschichtlichen Überblick über verschiedene Arbeiten, die zur These des Christentums als einer „Unterschichtenreligion“ erschienen sind (S. 5–22). Von grundsätzlichem heuristischen Interesse ist die Beantwortung der Frage, was in der Antike überhaupt als Unterschicht bzw. umgekehrt als soziale Elite zu definieren ist. Sie steht im Mittelpunkt des zweiten Kapitels (S. 23–28). Mit dem dritten und vierten Kapitel gelangt die Studie dann zu ihrem eigentlichen thematischen Schwerpunkt: Dem Nachweis von ordo-Angehörigen unter den Christen im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Untersuchungsgegenstand sind die Apostelgeschichte und neutestamentliche Briefe (S. 29–154). Eine kritische Auseinandersetzung mit Positionen der Forschung schließt sich im fünften und sechsten Kapitel an: Weiß gelingt es aufzuzeigen, dass einzelne Angehörige des ordo senatorius bisher zu Unrecht als Beispiele für Christen im Senatorenstand des ersten nachchristlichen Jahrhunderts dienten (S. 155–167); in Zweifel zieht er sodann die These, der zufolge ordo-Angehörigen aufgrund von Amtspflichten eine Zugehörigkeit zum Christentum überhaupt verwehrt gewesen sei (S. 168–187). Das siebte Kapitel ergänzt Studien über ordo-Angehörige vom zweiten bis vierten Jahrhundert (S. 188–208), das achte fasst die wichtigsten Ergebnisse der Arbeit zusammen und ordnet sie in den Forschungsdiskurs ein (S. 209–216). Ein Literaturverzeichnis (S. 217–235), ein Stellen- (S. 236–241) sowie ein Ortsnamen-, Personen- und Sachregister (S. 242–245) beschließen den Band.

Wissenschaftsgeschichtlich interessant ist unmittelbar das erste Kapitel der Studie: Es zeigt auf, wie die These vom Christentum als einer „Unterschichtenreligion“ aufgekommen ist und verbreitete Akzeptanz erfuhr. Der Neutestamentler Deißmann war sicher nicht ihr erster, wohl aber ihr wirkmächtigster Vertreter (S. 9).2 Die zeitweilige Dominanz seiner (über die Jahre modifizierten) Unterschichtenthese ist das Ergebnis einer selektiven Rezeption in der Wissenschaft; nicht zuletzt mit Adolf von Harnack hat es gleichwohl Forscher gegeben, die früh auf Oberschichtenangehörige unter den frühen Christen aufmerksam machten (S. 12). Die Annahme eines Forschungskonsenses über die Unterschichtenthese wird daher von Weiß zu Recht verworfen. Einflussreich scheint dem Althistoriker hingegen ein „neuer Konsens“, „der lautet, dass sich unter den Christen im ersten Jahrhundert noch keine Angehörigen der drei führenden ordines befanden“ (S. 21), eine These, die Weiß mit seiner Arbeit entkräften will.

Der damit in die Studie eingebrachte ordo-Begriff ersetzt im Folgenden den in der sozialhistorischen Forschung oft verwendeten Begriff der „Schicht“ (auch „Klasse“ und „Oberschicht“), dem es an terminologischer Schärfe fehlt. Ordo bzw. ordines rekurriert auf das Ordnungssystem der kaiserzeitlichen Gesellschaft; als soziale Elite (und um sie geht es Weiß) können demnach Angehörige der leitenden ordines gelten, namentlich des ordo senatorius, ordo equester und ordo decurionum (S. 26). Ein solcher Ansatz hat unmittelbar die begriffliche Präzision für sich; er umgeht Schwierigkeiten, die durch eine vorschnelle Übertragung moderner soziologischer Kategorien auf die Antike entstehen. Problematisch wird er dann, wenn er ausschließlich angewendet und der gesellschaftlichen Komplexität nicht mehr ausreichend Rechnung getragen wird. Denn, wie auch Weiß anmerkt, Macht, Einfluss und Ansehen, typische Merkmale der „sozialen Elite“3, bleiben nicht auf die drei führenden ordines beschränkt und machen daher grundsätzlich eine weite Perspektive notwendig (S. 26; 103f.).

Zur Führung des Nachweises, dass bereits innerhalb des ersten Jahrhunderts Christen unter ordo-Angehörigen zu finden sind, ist Weiß auf das neutestamentliche Schrifttum verwiesen. Sergius Paulus, Prokonsul von Zypern (Act. 13, 6–12), Dionysius der Areopagit (Act. 17, 16–34), Frauen von Amtsträgern in Thessalonike (Act. 17, 4) und der Adressat der Apostelgeschichte, Theophilus (Act. 1, 3), werden auf ihre Zugehörigkeit zur sozialen Elite untersucht. Dabei zeichnet sich Weiß‘ Arbeit durch eine intensive Vernetzung von literarischem Befund und epigraphischen Zeugnissen aus. Über die Bestimmung auffälligen Lokalkolorits in den jeweiligen Berichten wird, ausgehend von einer grundsätzlichen Thematisierung der Glaubwürdigkeit der Apostelgeschichte (S. 29–50), die „Historizität“ der Darstellungen untersucht. Für Sergius Paulus und Dionysius den Areopagiten gilt Weiß die ordo-Zugehörigkeit danach als erwiesen (S. 78–80; 101), für die Frauen der Amtsträger und Theophilus zumindest ihre Zugehörigkeit zum Kreis „höherrangiger“ Personen als gesichert (S. 104f.).4 Im vierten Kapitel wird der Untersuchungsgegenstand auf die neutestamentlichen Briefe (etwa Erastos, Rom. 16, 23) ausgedehnt.

Von besonderem Interesse ist auch die Thematik des sechsten Kapitels: Es behandelt die Frage, ob ordo-Angehörigen im ersten Jahrhundert aufgrund von Ämtern und Pflichten (Opfer, Verhängung von Todesurteilen, Amtseid?) eine Konversion zum Christentum unmöglich war. Weiß macht darauf aufmerksam, dass in der Vergangenheit diesbezüglich „manche Hürden“ (S. 187) zu stark betont worden seien, die eine generelle Unvereinbarkeit von christlichem Bekenntnis und den Pflichten öffentlicher Ämter zu signalisieren schienen. In der Tat deutet neben anderen (späteren) Quellen auch Tert. Idol. 17, 2 (CCL 2, 1118 Reifferscheid / Wissowa): hinc proxime disputatio oborta est eine innerchristliche Auseinandersetzung über die Frage der Vereinbarkeit an.5 Bei der Auswertung frühchristlicher Schriften ist dabei grundsätzlich zwischen ihrem paränetischen Charakter und ihrer Implementierung in die gemeindliche Disziplin zu unterscheiden, so dass auch vor diesem Hintergrund ein Übertritt von ordo-Angehörigen zum Christentum nicht generell auszuschließen ist (wie Weiß zeigt). Die entschiedene Polemik christlicher Apologeten macht geradezu die allgemeine Brisanz des Themas deutlich.

Abschließend lässt sich Folgendes festhalten: Weiß‘ Studie über ordo-Angehörige unter Christen im ersten nachchristlichen Jahrhundert stößt in eine lange und heftig geführte Diskussion verschiedener, besonders theologischer, Disziplinen. Aus althistorischer Perspektive gelingt es Weiß, nicht nur bestehende Forschungshypothesen kritisch zu hinterfragen, sondern auch systematisch weitere Quellencorpora (besonders epigraphische Zeugnisse) in die Auseinandersetzung einzubringen. Vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Schwierigkeit der sozialhistorischen Auswertbarkeit antiker Quellen bereichert er dadurch den interdisziplinären altertumswissenschaftlichen Diskurs über die „Schichtung“ frühchristlicher Gemeinden.

Anmerkungen:
1 Zu grundsätzlichen Überlegungen vgl. Heinz Berthold, Frühe christliche Literatur als Quelle für die Sozialgeschichte, in: Johannes Irmscher / Kurt Treu (Hrsg.), Das Korpus der griechischen christlichen Schriftsteller. Historie, Gegenwart, Zukunft, Berlin 1977, S. 43–63; W. A. Meeks (Hrsg.), Zur Soziologie des Urchristentums, München 1979; Georg Schöllgen, Probleme der frühchristlichen Sozialgeschichte. Einwände gegen Peter Lampes Buch über „Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten“, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 32 (1989) S. 23–40.
2 Vgl. Georg Schöllgen, Ecclesia sordida? Zur Frage der sozialen Schichtung frühchristlicher Gemeinden am Beispiel Karthagos zur Zeit Tertullians, Münster 1984, S. 7–9.
3 Auf den gegenwärtig populären Terminus verzichtete nach Ausweis des Registers noch Géza Alföldi, Römische Sozialgeschichte, 3. neubearbeitete Auflage, Wiesbaden 1984.
4 In neutestamentlichen Kommentaren wird die Frage der sozialen Zugehörigkeit von Personen bislang nur knapp thematisiert; vgl. Rudolf Pesch, Die Apostelgeschichte. 2. Teilband (Apg 13–28), Zürich u. a. 1986, S. 24 und 141.
5 Vgl. Schöllgen, Ecclesia, S. 171–175 sowie J. H. Waszink / J. C. M. van Winden, Tertullianus. De idololatria. Critical text, translation and commentary, Leiden 1987, S. 253–266.

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