A. Bora u.a. (Hrsg.): Wissensregulierung und Regulierungswissen

Titel
Wissensregulierung und Regulierungswissen.


Herausgeber
Alfons, Bora; Anna Henkel, Carsten Reinhard
Erschienen
Weilerswist 2014: Velbrück Wissenschaft
Anzahl Seiten
271 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Barbara E. Hof, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Wie verhalten sich Wissen und Regulierung zueinander? Durch diese Frage erweitert der dreiteilige Sammelband die bereits reichhaltig dokumentierte These, dass die gegenwärtige Gesellschaft sich über Wissen definiert und konstituiert.1 Erstens seien Regulierungen zu verstehen als Maßnahmen mit der Intention, auf Institutionen und Themen der Wissensproduktion einzuwirken. Und sobald Wissen eine Grundlage für Maßnahmen schafft, um seine Entwicklung zu lenken, fließe zweitens Wissen in die Regulierung seiner selbst ein. Drittens entfalte eine Regulierung Eigendynamiken, da ihre Ziele und Mittel die gesellschaftliche Formation mit verändern können. Durch diese Rückkopplung entstehe ein Wissen zweiter Ordnung.2

Vor dem Hintergrund dieser sehr anregenden theoretischen Vorüberlegungen ist die einleitend vorgenommene Verortung der Wissensgenese zwischen den Polen „Innovation und Risiko“ (S. 7 und S. 9) nicht nur eine Spur zu konventionell, der Sammelband hat schlicht mehr Potential. Denn bereits im ersten Teil stellen die Autorinnen und Autoren Praktiken dar, mit denen „Institutionen des Wissens“ (S. 17) gemanagt und die Anerkennung von Forschungsleistungen gemessen werden. Uwe Schimank beleuchtet den Wandel der deutschen Hochschullandschaft durch New Public Management (NPM) als Fortsetzung bzw. Restrukturierung von Governance. Um die Folgen zu untersuchen schlägt er vor, insbesondere die „authority relations“ (S. 29ff.) und die neu entstehenden Akteurskonstellationen in den Blick zu nehmen. In einer fallvergleichenden Studie gehen Jochen Gläser und Thimo von Stuckrad auf die Reaktionen von sechs deutschen Universitäten auf Evaluationssignale ein. Deren differente Wirkungen können, so lässt sich schließen, nicht ohne den Eigensinn von intraorganisatorischen Akteuren erklärt werden. Fast lückenlos schließt hier der Beitrag von Dagmar Simon an. Sie hebt am Beispiel der Evaluation britischer Universitäten durch das Research Assessment Exercise (RAE) die Anerkennung des peer review Verfahrens hervor.

Die drei Beiträge formulieren eine konträre Position zum trivialen (gleich ob linear oder zirkulär gedachten) Modell von Wissensregulierung, indem sie verdeutlichen, dass Regulierungsprozesse durch Strukturdynamiken sowie durch das Agieren der Evaluierten und Gemanagten verkompliziert werden. Wenn man also eine Kritik am Sammelband anbringen kann, dann, dass er weiterführende Überlegungen beinhaltet als das Schema von Innovation und Risiko zunächst vermuten lässt. In einer Institution können Regulierungen durch „Ökonomisierungsdruck“ (S. 28) angestoßen werden, sie können aber auch ein Versuch sein, Forderungen nach Chancengleichheit nachzukommen oder den Abstand zwischen Forschung und Industrie zu verringern. Auch kann eine Regulierung, wie Rüdiger Hachtmann anregend am historischen Beispiel der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) um 1933 zeigt, versucht sein, sich auf ein politisches Programm zu beziehen, um keinen Widerspruch zwischen Forschung und geistigem Mainstream entstehen zu lassen. Als Schalthebel zwischen Politik und Wissenschaft fungierten die damaligen „Wissenschaftsmanager“ „elastisch“ (S. 105), um Ressourcen im beidseitigen Interesse zu regulieren.

Erst die Beiträge im zweiten Teil verhandeln also die Frage, wie Wissen regulativ Innovationen fördern und Risiken minimieren soll. Aufschlussreich zeigt Martin Führ diese Spannung am Beispiel des neueren europäischen Chemikalienrechts REACH. Dieses zeichnet sich durch das Einbinden größerer Kreise aus, durch die aus divergenten Wissensformen neue Wissenssynergien entstehen können. Am gleichen Gegenstand stellt Wolfgang Hoffmann-Riem die rechtliche Regulierung als eine staatlich verantwortete Beeinflussung gesellschaftlicher Prozesse dar. Durch REACH verteile der Staat seine Verantwortung stärker auf die involvierten Akteure wie die Hersteller und Importeure von Chemikalien. Dies geschieht im vollen Bewusstsein darum, dass das Wissen der politischen Entscheidungsträger begrenzt ist. Auch aus dem Beitrag von Martin Carrier lässt sich folgern, dass die Robustheit einer Risikoabwägung auf einer Einschätzung aus verschiedenen Blickwinkeln basieren kann. Eine Expertise als eine Form von Regulierungswissen sei von praktischer Relevanz, wohingegen ihre epistemischen Werte in den Hintergrund rückten. Da man von ihr verlässliche Antworten erwarte, sei der Einbezug von Gegenexpertisen ein möglicher Umgang mit heiklen Themen wie dem Strahlenschutz. Marc Mölders wechselt wiederum (wie die Beiträge im ersten Teil) die Ebene. Seines Erachtens drängt sich durch das Scheitern eines als simplifiziert erscheinenden kybernetischen Modells der Wissensregulierung von Ist-Soll-Abgleich die Frage nach Gründen für gelungene geplante Veränderungen auf. Es scheint durchaus sinnvoll zu sein, anstelle von Governance von „Konversationskreisen“ (S. 190) zu sprechen.

Der dritte Teil des Sammelbandes reflektiert das Verhältnis von Wissen und Gesellschaft. Sascha Dickel beobachtet, dass die Moderne, um modern zu sein, programmatisch ihren Blick in die Zukunft richtet. Seine Erkenntnis zu verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Umgangs mit der Kontingenz von Zukunft (Szenarien werden beispielsweise basierend auf Erfahrungswissen oder Prognosen entworfen) ist hervorragend ausgearbeitet. Da sich Spekulationen als „ungezähmte Zukünfte“ (S. 211) nicht dem Wahrheitscode zuordnen ließen, greifen sie wenig, wenn es darum geht, zwischen Innovationspotential und Gefahr einer neuen Technik abzuwägen. Da sich jedoch auch die gezeigten Alternativen zur Spekulation als unsicher erweisen und das Vorsorgeprinzip dem globalen „Innovationsdruck“ (S. 212) entgegenläuft, wirft Dickel die Frage auf, ob statt einer evidenzbasierten Politik eine Methode von Konstruktion und Evaluation in „partizipativen Governance-Arrangements“ (S. 214) besser ansetzt. Anschließend verdeutlicht Sven Kette am Beispiel der Bankenregulierung, wie sich die Funktionslogik einer Regulierung verändern kann. Die Veränderung lasse sich am Beispiel der Systemumstellung der klassisch-normativen Bankenregulierung Basel I auf die wissensorientierte Basel II im Jahr 2004 nachvollziehen.3 Denn im Unterschied zu ihrer Vorgängerin betone diese stärker die Vollzugslogik und messe so dem Regulierungswissen eine größere Bedeutung bei. Den Sammelband schließt Anna Henkel mit der Vermutung, dass seitens der Politik durch institutionelle Arrangements ein neuer Steuerungsmodus geschaffen werde, um auf die steigende Komplexität der Gesellschaft zu reagieren. Ihre diesbezügliche Einschätzung einer Verteilung der Verantwortung, respektive einer Entlastung der Politik, deckt sich in Teilen mit Führs und Hoffmann-Riems Diagnosen des Chemikalienrechts REACH sowie mit Carriers Einschätzung zum Status der Expertise. Allerdings werde im Fall der Pharmaziepolitik, so Henkel, durch institutionelle Arrangements die Verantwortung externalisiert: Da die Entwicklung von Arzneimitteln zur Interessenskollision verschiedener Akteursgruppen (wie Industrie, Patientinnen und Patienten, Krankenkasse, Wissenschaft) führen kann, entlaste sich die Politik als Entscheidungsträgerin, indem sie die Entscheidungsfindung auslagert, wie etwa in das 2004 gegründete unabhängige Institut für Qualitätssicherung und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG).

Der thematisch bunt gemischte Sammelband greift sowohl Aspekte der Reflexion von Wissen sowie Aspekte des Wissens über dieses Reflexionswissen auf. Er verdeutlicht trotz seiner Vielschichtigkeit, wie Akteure jeglicher Couleur zunehmend in Steuerungsverantwortungen eingebunden werden und dass sich Regulierungsprozesse zunehmend differenzieren. Die Beiträge weisen allesamt in die Richtung, die einleitend aufgestellte These zu bestätigen, dass es sich beim „unter reflexiv regulierten Bedingungen“ hergestellten Wissen um einen „neuen Modus gesellschaftlicher Selbstregulierung“ (S. 13) handelt. Eine Stärke des Buches liegt nicht nur im Einbezug eines breiten governance- und gesellschaftstheoretischen Erklärungsangebots, sondern in seiner Bereitschaft, dieses weiterzuentwickeln und durch Fallstudien empirisch zu stützen. Offen lässt das Buch aber die Frage, wie nebst der Wissensproduktion die Wissensreflexion reguliert wird.

Anmerkungen
1 Als Überblick und stellvertretend für andere: Peter Weingart / Martin Carrier / Wolfgang Krohn (Hrsg.), Nachrichten aus der Wissensgesellschaft. Analysen zur Veränderung der Wissenschaft, Weilerswist 2007; Ulrich Wengenroth (Hrsg.), Grenzen des Wissens – Wissen um Grenzen, Weilerswist 2012.
2 Vgl. Heinz von Foerster, Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, Frankfurt 1993; Heinz von Foerster / Bernhard Poerksen, Understanding Systems: Conversations on Epistemology and Ethics, New York 2002.
3 Seit der Finanzkrise 2008 wird Basel III nach ähnlichem Muster wie Basel II weitergeführt.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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