A. Bothe u.a. (Hrsg.): Geschlecht in der Geschichte

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Titel
Geschlecht in der Geschichte. Integriert oder separiert? Gender als historische Forschungskategorie


Herausgeber
Bothe, Alina; Schuh, Dominik
Reihe
Mainzer Historische Kulturwissenschaften 20
Anzahl Seiten
268 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karina Korecky, Institut für Politikwissenschaft, Universität Hamburg

2008 resümierte Christiane Eifert in einer Standortbestimmung zur Frauen- und Geschlechtergeschichte, dass ihr innovativer Effekt in ihrer Kritik der Formen geschichtswissenschaftlicher Forschung liegen würde, weil sie "sich nicht damit begnügte, Frauen in das bestehende Bild der Vergangenheit nachträglich einzufügen, sondern […] auf der grundlegenden Neukomposition von Gemälden bestand."1 Inwiefern diese Neukomposition gelungen ist und mit welchen Mitteln sie erreicht werden kann, ist eine innerhalb der Frauen- und Geschlechtergeschichte intensiv geführte Debatte, die nun in dem vorliegenden Sammelband fortgesetzt wird. Die Herausgeber/innen haben junge Historiker/innen und Wissenschafter/innen angrenzender Fachdisziplinen zur wissenschaftstheoretisch motivierten Diskussion von Geschlecht in der Geschichte eingeladen. Ergebnis ist eine Zusammenstellung aktueller Forschungsprojekte, von denen ausgehend Gender als historische Forschungskategorie besprochen wird.
Den begrifflichen Rahmen spannen Bothe und Schuh in ihrem einleitenden Beitrag entlang der Frage, ob Geschlecht in der Geschichte eine integrierte oder separierte Forschungskategorie bilden solle. Damit benennen Bothe und Schuh die beiden Enden einer "Bedeutungsskala", die von Geschlecht als Moment unterschiedlicher Arbeiten bis zu Geschlecht als interessierendem Forschungsgegenstand reicht: "Ist Geschlecht ein Faktor unter mehreren oder werden mehrere Faktoren herangezogen, um Geschlecht zu erklären und zu kontextualisieren?" (S. 25) Die Autor/innen der Beiträge sollten anhand ihrer Forschung "die Grundfrage integriert oder separiert erörtern und die jeweiligen Vor- und Nachteile darlegen" (S. 28). Der separate Status der Frauen- und Geschlechtergeschichte sei lange Zeit nötig gewesen, die separierte Perspektive mache Frauengeschichte erst sichtbar. Andererseits sei mit diesem Zugang zur Geschichte die Gefahr der Reproduktion einer Sonderrolle gegeben. Die integrierte Perspektive wiederum kann sich als Bumerang erweisen, der Erfolg der Geschlechtergeschichte zu ihrem Aufgehen in diversen anderen Forschungsprogrammen beitragen. Mit Gisela Bocks "Autonomie in der Integration" vertreten Bothe und Schuh eine die Pole vermittelnde Position, die sie auch in den Arbeiten der amerikanischen Historikerin Natalie Zemon Davies erkennen.

Die meisten Beiträge des Sammelbandes werden von ihren Autor/innen der separierten Perspektive zugeordnet. Die Herausgeber/innen haben sie chronologisch ihrem Gegenstand nach gereiht, jeder Beitrag wird von einem Kommentar einer der anderen Autor/innen begleitet. Ellen Kobans Beitrag über Aktualisierung und Verwirrung von Geschlechterdifferenz im Transgender-Acting gegenwärtiger Theaterproduktionen macht den Anfang. Koban interessiert sich für die Herstellung geschlechtlicher (Un-)Eindeutigkeit im Theater und ordnet ihre Arbeit deswegen der separierten Forschungsperspektive zu. So auch Uta Miersch, die untersucht, wie sich Frauen- und Männerbilder in der DDR in Kinderliedern äußerten. Ebenfalls deutsche Geschlechterbilder erforscht Marion Wittfeld, indem sie Weiblichkeitsbilder des Nationalsozialismus anhand von NS-Frauenzeitschriften rekonstruiert. Christine Bovermann fragt nach Gender in der zionistischen Bewegung im Deutschen Kaiserreich und untersucht die Debatte um die Notwendigkeit von Frauenorganisationen. Mit derselben historischen Periode befasst sich der Beitrag von Norman Domeier, der den Eulenburg-Skandal (1906–1909), eine dreijährige öffentliche Skandalisierung vermuteter Homosexualität deutscher Politiker, behandelt. Im Allgemeinen für integrierte Ansätze in der Geschichtswissenschaft plädierend, hat Domeier für seinen Beitrag jedoch einen separierten Zugang gewählt, der ihm im nächsten Schritt erlaubt, die enge Verbindung von Sexualität, Nation und Männlichkeitsbildern festzustellen. Seine Argumentation zeigt, dass die Übergänge zwischen integrierten und separierten Zugängen fließend sind: Erst die Konzentration auf Geschlechterbilder erschließt die Bedeutung von Geschlecht zur Erklärung anderer gesellschaftlicher Phänomene. Ohne Bezug auf Geschlecht als Analysekategorie, so Michaela Maria Hintermayer, lasse sich auch ihr Forschungsgegenstand, der österreichische Suiziddiskurs von 1870 bis 1930, nicht untersuchen. Weniger Aufwand zur Rechtfertigung von Geschlecht als relevanter historischer Kategorie für ihre Forschungsprojekte müssen Jacqueline Malchow und Svenja Müller unternehmen, die jeweils eine mikrohistorische Untersuchung einer weiblichen Biographie im 18. Jahrhundert vornehmen. Malchow erforscht Arbeit und Leben der Hamburger Schauspielerin Dorothea Ackermann (1752–1821), Müller unterzieht den Kindsmordprozess gegen Maria Magdalena Assenheim (1760–66) einer multiperspektivischen Analyse. Müller versteht ihren Beitrag, als einzige Autorin des Bandes, als integriert, da das Geschlecht der als Kindsmörderin Angeklagten zwar zentral, aber nicht die einzige für das Verständnis ihres Schicksals wichtige Zuschreibung sei. Eugenio Riversi ordnet seinen Beitrag nicht auf der von den Herausgeber/innen vorgeschlagenen "Bedeutungsskala" ein, spricht sich aber für integrierte Ansätze aus. Er begründet das anhand der Eigenarten seines Forschungsgegenstandes, dem politischen, religiösen, sozialen und geschlechtlichen Status der Markgräfin Mathilde von Tuszien (11. Jahrhundert), der widersprüchliche Rollen vereint habe. Mathilde von Tuszien galt als Witwe, Jungfrau und Mutter zugleich und demonstriere damit die Komplexität von Gender. Die zweite im Band vertretene Mittelalterhistorikerin, Birgit Kynast, charakterisiert ihre Forschungsperspektive zwar als "separierend", zweifelt aber ebenfalls an der Brauchbarkeit moderner gendertheoretischer Annahmen für die Beschreibung mittelalterlicher Geschlechterverhältnisse. Kynast erforscht das Dekret des Bischofs Burchard von Worms (gest. 1025) und behandelt in ihrem Beitrag Passagen des tradierten Kirchenrechts, die sich mit für die Geschlechter jeweils unterschiedlichen Fragen, Formulierungen oder Vorschriften befassten. Sie kommt zu dem Schluss, dass der eheliche Status einer Person für die Beurteilung oder Bußwürdigkeit von Vergehen eine ebenso große Rolle spielte wie die Geschlechtszugehörigkeit. Der letzte Beitrag des Bandes ist jener, der direkt eine Reflexion der Bedeutung von Geschlecht für das Fachgebiet der Autorin unternimmt. Alexandra Eckert hat eine informative Darstellung der Entwicklungslinien der Gender-Forschung in den deutschsprachigen Altertumswissenschaften verfasst, die auf die wissenschaftstheoretische Frage abzielt, "welche Schlussfolgerungen aus dem zunehmenden Auftreten von integrierten gegenüber separierten Forschungsansätzen für die Entwicklung der Gender-Forschung zu ziehen sind" (S. 238). Eckert plädiert für die Bewahrung der Eigenständigkeit der Frauengeschichte und schlägt vor, statt von integrierten besser von vernetzten Zugängen zu sprechen.

Der Sammelband versteht sich als Teil der Diskussion um das Selbstverständnis von Frauen- und Geschlechtergeschichte. 2012 haben die Herausgeber/innen an einer Konferenz zu Methoden der Frauen- und Geschlechtergeschichte2 teilgenommen, im Zuge derer sie ein "durchgängiges Miss- und Unverstehen zwischen Kolleg/innen, die Geschlecht im Zentrum ihrer Projekte verorteten und Kolleg/innen, die Geschlecht neben anderen Aspekten im Kontext ihrer Forschungen diskutierten" (S. 27) feststellten. Um einen Dialog zwischen diesen Forschungsperspektiven anzuregen, veranstalteten Alina Bothe und Dominik Schuh 2013 einen Workshop3, auf dem der vorliegende Sammelband fußt. Der Anspruch des Bandes, wissenschaftstheoretische Fragen anhand konkreter Forschungspraxis zu erörtern, wird ebenso selten erhoben wie er schwer einzulösen ist. Obwohl sich die Herausgeber/innen um einen dialogischen Stil bemühen, findet die von ihnen angestrebte Meta-Reflexion nur in Ansätzen statt. Zu sehr bleiben etliche der Beiträge mehr Präsentationen der jeweiligen Forschungen als systematische auf die angeregte Fragestellung Bezug zu nehmen. Die Autor/innen haben, wie die Herausgeber/innen anmerken, "in der Regel einen geschlechterbezogenen Ansatz ihrer Forschungen ausgewählt" (S. 28) oder nur jene Ausschnitte aus ihren Forschungsprojekten vorgestellt, die zur Überschrift „Frauen- und Geschlechtergeschichte“ zu passen schienen. So wurde die "theoretische Ebene", die Bothe und Schuh ansteuerten, insgesamt eher gestreift als debattiert. Dennoch bietet der Band aufgrund seiner originellen Form und seiner weitgefächerten Beiträge einen gewinnbringenden Einblick in gegenwärtige deutschsprachige historische Frauen- und Geschlechterforschung, ein, wie die Herausgeber/innen treffend beobachten, "methodisch und theoretisch plural angelegte[s] Feld" (S. 10), das sich immer wieder neu die Frage nach seinem Verhältnis zur Geschichtswissenschaft als fachlicher Disziplin stellt.

Anmerkungen:
1 Christiane Eifert, Standortbestimmung. Wo befindet sich die Frauen- und Geschlechtergeschichte innerhalb der Geschichtswissenschaft?, in: Querelles-Net 24/2008,
<http://www.querelles-net.de/index.php/qn/article/view/618/626> (01.06.2015).
2 fernetzt. Junges Forschungsnetzwerk Frauen- und Geschlechtergeschichte, „un/diszipliniert? Methoden, Theorien und Positionen der Frauen- und Geschlechtergeschichte“, Wien 2012, in: H-Soz-Kult, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4177> (01.06.2015).
3 Alina Bothe / Dominik Schuh, Workshop "Gender in History – integrated or separated?", Mainz 2013, in: H-Soz-Kult, <http://www.hsozkult.de/event/id/termine-20859> (16.07.2015).

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