W. Breunig u.a. (Hrsg.): Fünf Monate in Berlin

Cover
Titel
Fünf Monate in Berlin. Briefe von Edgar N. Johnson aus dem Jahre 1946


Herausgeber
Breunig, Werner; Wetzel, Jürgen
Reihe
Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin 18
Erschienen
München 2014: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
VI, 458 S., 67 Abb.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Scott Krause, Department of History, University of North Carolina, Chapel Hill

Tagebücher und Briefe amerikanischer Staatsbürger, die seit Juli 1945 oftmals wieder nach Berlin strömten, berichten von widersprüchlichen Eindrücken. So verglich Melvin Lasky, der spätere Herausgeber der Zeitschrift „Der Monat“, Berlin mit einem „tortured giant […] its eyes poked and burned out“; er fand die ehemalige Reichshauptstadt „unbelievable, magnificent even in destruction“.1 Die Konfrontation mit den Ruinen Berlins brachte ein eigenes Genre hervor, in dem das Erschrecken über das Maß der Zerstörung mit dem Erstaunen über die Vitalität des kulturellen Lebens konkurrierte. Diese Widersprüchlichkeit nahm enormen Einfluss auf die amerikanische Wahrnehmung. So überlagerte die Deutung von Berlinern als hilfsbedürftigen Zivilisten zunehmend die anfängliche Verachtung für Deutsche als fanatisierte Nazis und als Kriegsgegner der Amerikaner.2

Edgar N. Johnsons jetzt edierte Briefe bieten neue Einblicke, wie dieser zukunftsweisende Prozess die Zielsetzung amerikanischer Besatzungspolitik während der unmittelbaren Nachkriegszeit in Berlin verschob. Johnson (1901–1969), Professor für europäische Geschichte an der University of Nebraska, Lincoln, verbrachte die Monate März bis Juli 1946 als Sonderberater von Lucius D. Clay, des Commanding General der US-Militärregierung OMGUS, sowie als politischer Berater der amerikanischen Stadtkommandanten Ray W. Barker und Frank A. Keating in der Vier-Sektoren-Stadt. Dabei beteiligte sich Johnson maßgeblich an der Ausarbeitung der demokratischen „Vorläufigen Verfassung von Groß-Berlin“, die bis zur administrativen Spaltung der Stadt im Zuge der sowjetischen Blockade der Westsektoren 1948/49 Bestand hatte. Johnsons Briefe an seine Frau berichten vom Versuch des Historikers, als Administrator für den Aufbau Nachkriegsberlins in das Zeitgeschehen einzugreifen.

Die Arbeit der Herausgeber Werner Breunig und Jürgen Wetzel rahmt Johnsons Aufzeichnungen ein. Beide haben bereits zahlreiche Werke zur Berliner Stadtgeschichte veröffentlicht. Sie werteten Johnsons Nachlass aus, der kürzlich von der University of Chicago archiviert wurde. Durch ihre langjährige Arbeit im Landesarchiv Berlin gelingen ihnen Querverweise zu diversen Archivbeständen. Das Projekt profitierte zudem von der Unterstützung durch Johnsons Familie. Das Ergebnis ist eine Quellenedition, in der nach einer Skizze zu Johnsons Biographie und einer kurzen Kontextualisierung der politischen Situation 83 Briefe aus fünf Monaten folgen. Ein Bildteil, der auch das soziale Umfeld Johnsons illustriert, rundet die reiche Edition ab.

Johnsons Briefe berichten von einer Phase, die eine Umbruchsituation Berliner Geschichte darstellt. Die Herkulesaufgabe, im zerstörten Berlin ein Mindestmaß an Routine herzustellen, förderte widerstrebende Vorstellungen der Besatzer für die Neugestaltung Nachkriegsdeutschlands und seiner Hauptstadt zutage. Gleichzeitig boten diese Differenzen demokratischen Berliner Politikern die Möglichkeit, eigenständige Politik zu betreiben. Johnsons Depeschen zeigen, dass es zumindest für lokale amerikanische Besatzungsoffiziere keine zwangsläufige Wandlung von antifaschistischer Grand Alliance zur Konfrontation im Kalten Krieg gab. Die Ausarbeitung einer Berliner Verfassung und der Widerstand der SPD-Basis gegen die von KPD und Sowjetischer Militäradministration (SMAD) betriebene Vereinigung zu einer Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) illustrieren, wie amerikanische Besatzungspolitik sowohl durch interalliierte Solidarität geformt wurde (infolge des gemeinsamen Kampfes) als auch durch fundamentale Differenzen zwischen den Alliierten.

Die Beratungen, in denen Vertreter der vier Besatzungsmächte gemeinsam eine neue Berliner Verfassung ausarbeiteten, waren für Johnson ein leuchtendes Beispiel interalliierter Kooperation: „Long sessions at frequent intervals soon brought down whatever official character there was at these meetings. The members of the Committee became friends.“ (S. 357) Dieser Begeisterung für die Möglichkeiten genuiner Zusammenarbeit standen für Johnson zunehmend beunruhigende Erfahrungen aus dem so genannten Fusionskampf innerhalb der Berliner Sozialdemokratie entgegen. Breite Teile der Berliner Basis widersetzten sich dem Ansinnen des Vorsitzenden des SPD-Zentralausschusses, Otto Grotewohl, die Partei umgehend mit der KPD zur SED zu verschmelzen. Während eine Urabstimmung in den Berliner Westsektoren die Unabhängigkeit der SPD bestätigte, besiegelte die Zwangsvereinigung zur SED in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) die Spaltung der SPD.3 In der erbitterten Kontroverse imponierte Johnson besonders der Führungszirkel der Opposition um Franz Neumann. Nach einem Treffen beschrieb er diese Akteure als „good Democrats who are tired of the kind of tyranny the Russians have to offer“ (S. 183). Der Kontrast zwischen dem erbitterten Kampf Neumanns und seiner Mitstreiter für eine unabhängige SPD und den Bekenntnissen von OMGUS zur interalliierten Harmonie erzürnte Johnson: „And where do we stand in this fight? Neutral! What does the liberal tradition of American democracy mean to these [Communists]? Nothing. Don’t we care whether the real democrats have a chance here or not? Why did we fight this war? […] I am sick of it. May[be] a democracy that is so spineless deserves to die.“ (S. 192)

Der generelle Vorzug des Bandes „Fünf Monate in Berlin“ ist neben dem hellsichtigen Autor die Quellengattung der privaten Briefe, die es erlaubt, dass sich der analytische Blick des Professors mit der Meinung des Citoyens mischen. Johnsons unverblümte Lageeinschätzungen kolorieren den Alltag innerhalb von OMGUS, in dem idealistische Ziele verfolgt wurden, Bürokratie und Improvisation aber oftmals skurrile Blüten trieben. Darüber hinaus bieten Johnsons Briefe Einblicke in das kulturelle Aufblühen der Vier-Sektoren-Stadt, das Zeitgenossen begeisterte und auch Historiker seither fasziniert hat.4

Obwohl dies nicht ausdrücklich im Fokus von Breunig und Wetzel liegt, beleuchtet ihre Edition schlaglichtartig auch das Fortbestehen von Netzwerken des Auslandsgeheimdienstes Office of Strategic Services (OSS) unter amerikanischen Deutschlandhistorikern in der Nachkriegszeit. Der Beitrag von Gelehrten wie Franz L. Neumann (nicht zu verwechseln mit dem oben genannten SPD-Politiker Franz Neumann), Felix Gilbert und Carl Schorske im Krieg gegen Nazi-Deutschland innerhalb des OSS beschäftigt Forscher seit vielen Jahren.5 Johnsons Briefe erlauben Einblicke in die Zusammenarbeit von OSS-Veteranen in der amerikanischen Historikerschaft über das Kriegsende hinaus. Historiographiegeschichtlich Interessierte finden in Johnsons Korrespondenz mithin unverhofft dichtes Material über persönliche Sympathien und Animositäten innerhalb der Zunft – Einstellungen, die auf die Arbeit zweier Generationen amerikanischer Deutschlandhistoriker im Drittmittelprojekt „OSS Research and Analysis Branch“ zurückgingen.

Es wäre ungerecht, darüber zu klagen, dass Johnsons Briefe im Sommer 1946 enden, wenngleich die Forschung zur Berliner Stadtgeschichte und zur Demokratisierung von weiteren nuancierten und selbstkritischen Einschätzungen Johnsons hätte profitieren können. Kritisch anzumerken ist aber, dass die Herausgeber auf eine stärkere Verbindung zwischen Johnsons Zeit in Berlin und seiner Kriegserfahrung im OSS verzichtet haben. Angesichts ihrer Herkunft aus dem Landesarchiv Berlin und des dortigen Materials mag die Konzentration auf Johnsons kurze Zeit in Berlin verständlich sein. Doch diese Fokussierung lässt die Frage nach Johnsons Bedeutung innerhalb der amerikanischen Besatzungsadministration unbeantwortet. War Johnson im Grunde überflüssig, wie er angesichts der unbefriedigenden Resultate der Vier-Mächte-Verwaltung häufig selbst monierte, oder gelang es ihm, durch alte Kontakte und akribische Memoranda Clay auf die politische Brisanz sowjetischer Taktiken hinzuweisen? Die Herausgeber formulieren dazu keine Einschätzung – womöglich weil der informelle Einfluss Johnsons aus seiner Vergangenheit im OSS herrührte, die außerhalb des Buches steht und anhand des Nachlasses zu ermitteln wäre.

Angesichts des englischen Originaltextes der Briefe stellt sich die Frage, ob die penibel ausgearbeiteten Annotationen durch die Wahl der deutschen Sprache den Leserkreis nicht unnötig beschränken. Durch die dominierende Einsprachigkeit nordamerikanischer Historiker bleibt diesen der leichte Zugang zu einer wichtigen Quelle über das amerikanische Besatzungsregime verschlossen – zumindest denjenigen, die keine Deutschland-Experten sind, aber sich auch mit Problemen und Paradigmen des Kalten Kriegs oder späteren Formen von Besatzungsherrschaft beschäftigen. Dieser eingeschränkte Zugang ist insbesondere deshalb bedauerlich, da Johnson mit der rapide zunehmenden Skepsis gegenüber den sowjetischen Verbündeten eine Entwicklung personifizierte, deren Tragweite weit über die Stadtgrenzen hinausreichte.

Zu den Leistungen der Edition Breunigs und Wetzels gehört es, dass sie eine wichtige Quelle vorstellen, die weitere Fragen eröffnet. So werfen Johnsons Briefe ein neues Licht auf das Innenleben von OMGUS. Johnson stellt die Militärregierung als byzantinische Bürokratie dar, in der personelle Weichenstellungen zu einem erstaunlichen Maße improvisiert wurden. In dieser Perspektive erscheint Clay, der spätere Architekt der Luftbrücke, noch nicht in der Rolle als kalter Krieger, die er wenige Jahre später für sich selbst in Anspruch nahm6, sondern als vor- und umsichtiger Administrator, dessen Skepsis gegenüber den Sozialdemokraten Johnson frustrierte (S. 163). Die Schilderung unterstreicht, wie der Fusionskampf der Berliner Sozialdemokratie die politische Spaltung der Stadt und des Landes vorwegnahm. Anschaulich beschreiben Johnsons Briefe den immer stärker hervortretenden Konflikt zwischen den beiden konkurrierenden Ordnungsentwürfen stalinistischer und liberal-demokratischer Prägung für Nachkriegsdeutschland. Johnsons Entwicklung in Berlin belegt dabei exemplarisch, wie selbst wohlwollende amerikanische Beamte in Deutschland mit erstaunlicher Geschwindigkeit zu dem Schluss kamen, man müsse der Sowjetunion auch um den Preis einer globalen Konfrontation entgegentreten.

Anmerkungen:
1 Melvin Lasky, World War Two Diary, 16.08.1945, Nachlass Melvin Lasky, Lasky Center for Transatlantic Studies, Ludwig-Maximilians-Universität München. Deutsche Veröffentlichung: Melvin Lasky, Und alles war still. Deutsches Tagebuch 1945, Berlin 2014. Für eine biographische Skizze Laskys siehe Maren Roth, „In einem Vorleben war ich Europäer“. Melvin J. Lasky als transatlantischer Mittler im kulturellen Kalten Krieg, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 10 (2014), S. 139–156.
2 Stefan-Ludwig Hoffmann, Gazing at Ruins. German Defeat as Visual Experience, in: Journal of Modern European History 9 (2011), S. 328–350.
3 Harold Hurwitz, Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945, Bd. 4: Die Anfänge des Widerstands, Köln 1990.
4 Wolfgang Schivelbusch, In a Cold Crater. Cultural and Intellectual Life in Berlin, 1945–1948, Berkeley 1998; dt.: Vor dem Vorhang. Das geistige Berlin 1945–1948, München 1995.
5 Barry M. Katz, Foreign Intelligence. Research and Analysis in the Office of Strategic Services, 1942–1945, Cambridge 1989.
6 Lucius D. Clay, Decision in Germany, New York City 1950.