D. Lehnert (Hrsg.): Konstitutionalismus in Europa

Cover
Titel
Konstitutionalismus in Europa. Entwicklung und Interpretation


Herausgeber
Lehnert, Detlef
Reihe
Historische Demokratieforschung 7
Erschienen
Köln 2014: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 42,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Horst Dippel, Gesellschaftswissenschaften, Universität Kassel

„Konstitutionalismus in Europa“ ist ohne Frage ein wissenschaftlich wie politisch höchst zeitgemäßes Thema, so dass einer Publikation unter diesem Titel eine breite Aufmerksamkeit sicher sein kann. Der Band stellt sich dieser Herausforderung, indem er insgesamt 18 Beiträge zu diesem Thema versammelt. Sie sind relativ gleichmäßig arrangiert in den vier Teilen: Grundlagen und Konzeption (1), Fachdisziplinen (2), „Verfassungskultur“ – eine interdisziplinäre Debatte (3) und Länderstudien (4). Damit ist bereits angedeutet, dass sich der Sammelband strikt interdisziplinär versteht und Beiträge von Politik-, Rechts- und Geschichtswissenschaftlern enthält. Hier sind die Gewichte allerdings ungleich verteilt. Drei Politikwissenschaftlern (Hans Boldt, Detlef Lehnert und Hans Vorländer), die beiden letzteren jedoch mit je zwei Beiträgen, stehen vier Juristen (Kathrin Groh, Peter Häberle, Dian Schefold, Peter Schiffauer) und neun Historiker (Reinhardt Blänkner, Hartwig Brandt, Peter Brandt, Werner Daum, Ewald Grothe, Hans-Christof Kraus, Lothar Machtan, Stefaan Marteel, Arthur Schlegelmilch) gegenüber.

Da der Band eigenartigerweise keine Einleitung enthält, erfährt der Leser nichts über Anlass, Ursprung und Zielsetzung der Publikation. Da es sich nicht um einen Tagungsband im klassischen Sinn zu handeln scheint, ist die Herkunft der Beiträge, soweit sie im Einzelfall darüber überhaupt Rückschlüsse zulassen, wohl allein der Auswahl des Herausgebers überlassen, über dessen Gründe und Motive man lediglich rätseln kann. Das ist bedauerlich und schwächt die Aussage des Bandes, die sich in einem Schlusswort noch einmal hätte bündeln lassen können. Aber – man ahnt es schon – dieses Schlusswort fehlt ebenso wie die Einleitung. Zur Genese einzelner Beiträge verraten zumeist die jeweiligen Autoren immerhin so viel, dass es sich bei dem Beitrag von Hartwig Brandt („Verfassungsgeschichte. Standort und Probleme einer historischen Disziplin“) um seinen Marburger Habilitationsvortrag vom Januar 1976 handelt, der bislang unveröffentlicht war. Der Teil „Verfassungskultur“ hingegen enthält die Beiträge von Peter Häberle („’Verfassungskultur’ als Kategorie und Forschungsfeld der Verfassungswissenschaften“), Hans Vorländer („’Verfassungskultur’ aus politikwissenschaftlicher Perspektive. Prolegomena zu einer Verfassungswissenschaft als Kulturwissenschaft“), Reinhard Blänkner („’Verfassungskultur’. Überlegungen aus historisch-kulturwissenschaftlicher Sicht“) und Hans Boldt („Weimar: Verfassung ohne Verfassungskultur?“), die sämtlich bereits 2005 am Dimitris-Tsatsos-Institut für Europäische Verfassungswissenschaften der FernUniversität Hagen als Vorträge gehalten wurden, wobei lediglich Blänkner angibt, sein Manuskript 2008 noch einmal überarbeitet zu haben.

Man könnte eine Absicht des Bandes in dem Bemühen erblicken, „Verfassungswissenschaften“, gegebenenfalls gar „Europäische Verfassungswissenschaften“ als eigenständiges multidisziplinäres Fach zu etablieren. Der knappe Beitrag von Peter Schiffbauer („Zehn Thesen für ein pragmatisches Sprachverständnis in den Verfassungswissenschaften“) weist ebenso in diese Richtung wie die Überlegungen von Detlef Lehnert („Polity-Forschung. Politologie als Verfassungswissenschaft. Eine Bestandaufnahme des ‚Mainstreams’“). Das kann aber auch, wie im letzteren Fall zur Nabelschau gerinnen, ohne wirklich darzulegen, wo denn für eine derartige Wissenschaft – wobei offensichtlich noch zu klären wäre, ob hier der Singular oder der Plural die angemessenere Bezeichnung wäre – die gemeinsame theoretisch-methodische Basis und das verbindende Erkenntnisinteresse liegt. Geht es um (aktuelle) Verfassungen oder um Verfassungsgeschichte? Im letzteren Fall stellt sich heute bei Teilen der Politikwissenschaft in Deutschland bereits die Sinnfrage. Andere haben es daher vorgezogen, den ganzen Fragenkomplex zu meiden und stattdessen, wie bereits im Titel des Bandes, von „Konstitutionalismus“ zu sprechen. Das erscheint für alle drei Fachrichtungen unverfänglich, ohne dass der Begriff „Konstitutionalismus“ ungeachtet der Ausführungen von Detlef Lehnert („Europäischer Konstitutionalismus. Geschichte, Theorie, Perspektiven“) und Hans Vorländer („Abschied vom methodologischen Etatismus. Vorüberlegungen zu einer Entwicklungsgeschichte des Konstitutionalismus in Europa“) eine wirkliche Klärung erfährt.

Die methodologischen Positionen von Rechts- und Geschichtswissenschaft zur Verfassungsgeschichte als Disziplin werden aus ersterer Perspektive beleuchtet von Kathrin Groh („Staatsrechtslehre und Bundesverfassungsgericht. Methodenpluralismus und Methodenintegration im Konstitutionalisierungsprozess“) und Dian Schefold („Staatsrechtslehre und Verfassungsgeschichte zwischen normativer und sozialwissenschaftlicher Orientierung“) aus zweiterer von Ewald Grothe („Strukturen als Ordnungsmodell in der Verfassungsgeschichte“) und Hartwig Brandts bereits erwähntem Habilitationsvortrag. Dabei wird deutlich, dass die Geschichtswissenschaft unverändert keinen Forschungsansatz gefunden hat, Verfassungen als historische Textkategorie zu begreifen und sie als historische Aussagen sozialer, politischer, ökonomischer, ja kultureller Ordnungsvorstellungen und in die Zukunft projizierter Leitbilder über die Ausrichtung eines Gemeinwesens und die Rolle des Einzelnen in ihm wissenschaftlicher Betrachtung und Auswertung zu erschließen. Ebenso wird dabei aber auch das Unvermögen einer sich bewusst nicht als historische oder Geisteswissenschaft verstehende Politologie dokumentiert, die der Verfassungsgeschichte ratlos gegenübersteht – dies dokumentiert durch den bereits genannten Beitrag von Detlef Lehnert zur „Polity-Forschung“, der sachlich nicht hierhin gehört und nichts mit Verfassungsgeschichte zu tun hat.

Der Bereich „Verfassungskultur“ wurde bereits angesprochen. Ob es Sinn macht „Verfassungskultur“ mit „Verfassungswissenschaft(en)“ zusammenzubringen, oder ob es nicht ratsamer wäre, beide so problematischen und bislang ungeklärten Begriffe erst einmal jeweils für sich überzeugend zu fassen, um dann nach den eventuellen Schnittmengen zu fragen, sei dahin gestellt. Erfrischend ist angesichts dieser Problematik die den modischen Zeitgeist provozierende Eingangsfeststellung von Hans Boldt: „Über ‚Weimar’ im Rahmen von Fragestellungen der ‚Verfassungskultur’ zu reden, erscheint schwierig: Besaß die Weimarer Republik überhaupt eine tragfähige Verfassungskultur?“ (S. 223).

Die letzten fünf Beiträge sind historische Länderstudien: Arthur Schlegelmilch („Perspektiven und Grenzen des ‚deutschen Konstitutionalismus’“), Lothar Machtan („Star-Monarch oder Muster-Monarchie? Zum politischen Herrschaftssystem des Großherzogtums Baden im langen 19. Jahrhundert“), Hans-Christof Krause („Zwischen Parlament und Prärogative – Monarchie und Verfassung in Großbritannien seit dem 19. Jahrhundert“), Stefaan Marteel („Der verlorene Geist von 1830. Konstitutionalismus und Politik in Belgien im 19. Jahrhundert“) und Werner Daun („Verfassungsgeschichte Italiens im langen 19. Jahrhundert. Schlüsselkonzepte und neue Perspektiven“).

Obgleich, wie bei einem derartigen Band nicht anders zu erwarten, nicht alle Beiträge gleiches Gewicht haben, ist es ein insgesamt durchaus anregender Band, selbst dort, oder gerade weil, er Überlegungen zu stimulieren vermag, die das Mitgeteilte weiter zu entwickeln vermögen, aber gegebenenfalls auch zu abweichenden oder gegenteiligen Auffassungen führen müssen. Dennoch muss die Bemerkung erlaubt sein, dass von seinem Inhalt her der Titel des Bandes eine Provokation ist. Dass er keine tragfähige Bestimmung entwickelt, was unter Konstitutionalismus hier verstanden werden soll, wurde bereits vermerkt. Vielleicht ein noch größeres Defizit betrifft Europa. Wenn es auch eingangs in zwei Beiträgen um Konstitutionalismus in Europa geht und Peter Brandt („Von der Konstitutionalisierung der Staaten Europas zur Konstitutionalisierung der Europäischen Union“) sich gezielt mit einem Aspekt des Themas beschäftigt, bleiben zum Schluss gerade einmal drei Länder außerhalb Deutschlands, denen eigene Studien gewidmet sind. Damit greift der Titel des Bandes eindeutig zu hoch und weckt Erwartungen, die er nicht bereit ist zu erfüllen. Ebenso könnte man abschließend noch erwähnen, dass die beabsichtige Interdisziplinarität ein ehrenwertes Ziel verkörpert, aber auf der Ebene der Darstellungen nicht als eingelöst betrachtet werden kann. Hier bleibt es bei einem Nebeneinander, das durch das Versäumnis des Herausgebers, in Einführung und Zusammenfassung Ziele und Ergebnisse zu bündeln, noch einmal unterstrichen wird.

Kommentare

Von Lehnert, Detlef07.07.2015

Leider informiert diese Rezension in dreifacher Hinsicht nicht zutreffend über den Inhalt des Bandes:

Natürlich gibt es eine – auch als solche bezeichnete – „Einführung“ des Herausgebers (S. 9–31). Diese greift einleitungstypisch das Stichwort Konstitutionalismus auf (S. 9–16), stellt dann die Teile 2 bis 4 inhaltlich vor (S. 16–23) und erörtert zuletzt aktuelle Fragen (S. 23–31). Auf S. 9, Anm. 1 findet sich auch der Hinweis, dass die Einführung von den unmittelbar nachfolgenden Texten (Brandt und Vorländer) noch ergänzt wird.

Selbstverständlich ist – ebenfalls entgegen der Behauptung des Rezensenten – die Herkunft aller Beiträge auf S. 20, Anm. 27 (mit zusätzlichem Verweis auf S. 222) präzise erläutert. Dem Herausgeber erschien aber die Gliederung des Bandes nach thematisch-sachlichen Gesichtspunkten vorrangig.

Der (üblicherweise knappe) Buchtitel „Konstitutionalismus in Europa“ enthält keinerlei „Provokation“. Jenseits der übergreifenden Ausführungen zu genau diesem Thema im Ersten Teil und der Fallstudien zu ausgewählten Ländern in Europa (natürlich nicht sämtlicher Länder von Europa) im vierten Teil weisen weitere Einzelbeiträge viele Länderbezüge auf (auch wenn sie nicht um länderübergreifende fachmethodische Fragestellungen zentriert sind). Um nur drei Beispiele, ohne die – historisch auch nicht unwichtige – regionale Differenzierung innerhalb Deutschlands zu nennen: Der Text von Schefold beleuchtet neben außereuropäischen Seitenblicken (S. 104) Italien, die Schweiz und Frankreich (z.B. S. 103 u. 107). Der Text von Lehnert behandelt Österreich, Schweden, Schweiz, Niederlande (z.B. S. 120–122). Der Text von Häberle weist zahlreiche europäische Länderbezüge, exemplarisch Spanien (S. 173 und 177), die Schweiz und Frankreich (S. 173), Ungarn/Polen/Österreich (S. 180) auf. Diese Liste ließe sich ergänzen.


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