C. Halbrock: "Freiheit heißt, die Angst verlieren"

Cover
Titel
"Freiheit heißt, die Angst verlieren". Verweigerung, Widerstand und Opposition in der DDR: Der Ostseebezirk Rostock


Autor(en)
Halbrock, Christian
Reihe
Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) 40
Erschienen
Göttingen 2014: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
537 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Eckert, Zeitgeschichtliches Forum, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

Christian Halbrock nimmt sich die große Aufgabe vor, eine Lücke in der umfangreichen Literatur über Opposition und Widerstand gegen die kommunistische deutsche Diktatur mit einer umfassenden Darstellung des Ostseebezirks Rostock zu schließen. Dabei gelingt es dem Autor, der selbst an der ostdeutschen Ostseeküste geboren wurde, neue Kenntnisse über eine Vielzahl von bisher kaum bekannten widerständigen Aktionen zu ermitteln, zu beschreiben und zu analysieren. Schnell wird so deutlich, dass Widerstand und Opposition im Norden der DDR die gleichen Strukturmuster aufwies und von den gleichen Themen ausging, wie dies in den anderen Teilen Ostdeutschlands der Fall war.

Hiervon ausgehend bieten sich Vergleiche mit anderen Regionen oder mit Großstädten an, die bisher noch nicht vorgenommen wurden, aber ganz neue Perspektiven öffnen würden. Schnell wird auch deutlich, dass es eine Entwicklung auch im Bezirk Rostock und im gesamten Norden der DDR gab, die vom frühen Widerstand der bürgerlichen Parteien und vor allem protestantischer Christen, der Studentenräte an den Universitäten sowie dem der Sozialdemokraten gegen die Zwangsvereinigung ihrer Partei mit der KPD ihren Ausgang nahm. Auch an der Küste spielte der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 eine zentrale Rolle im Widerstand und Halbrock setzt sich dezidiert mit Spionage, Diversion und Sabotage auseinander, die er in sein Panorama widerständigen Verhaltens einbezieht.

Stark ausgeprägt war im Norden der DDR der Widerstand gegen die Kollektivierung der Land- und hier auch der Fischwirtschaft, gegen die Verfassungsabstimmung 1968, die der Autor Volksbefragung nennt, und gegen die Aggression der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei. Wie auch in anderen, Berlin fernen Teilen der DDR war hier der Widerstand gegen den Mauerbau gering. Dagegen gab es Aufbegehren gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann. Ebenfalls ganz ähnlich wie etwa in Sachsen oder in Ost-Berlin bildeten sich unter dem Dach einiger protestantischer Gemeinden unabhängige Basisgruppen heraus, Umwelt- und Bürgerrechtsgruppen gewannen an Bedeutung und auch zur Friedlichen Revolution trugen die Ostseebezirke das ihre bei.

Trotzdem bleibt letztlich der Eindruck erhalten, dass der Norden der DDR weniger von widerständigem Verhalten geprägt war als die Großstädte und der Süden des Landes. Das machen auch die graphischen Übersichten der Geheimpolizei deutlich, die für das Jahr 1978 oppositionelle „Schwerpunktpersonen“ und für 1989 „Basisgruppen der politischen Untergrundtätigkeit“ verzeichneten (S. 58 f., S. 61). So erfasste die Staatssicherheit im Bezirk Karl-Marx-Stadt 25 dieser Gruppen, im Bezirk Rostock aber nur sechs. In dieser Situation musste das revolutionäre Aufbegehren 1989/90 zwangsläufig geringer sein und später einsetzen. Der Autor betont jedoch trotzdem besonders die Rolle von Widerstand und Opposition im Norden. Das wäre besser nachzuvollziehen, hätte er das ihm so zahlreich zur Verfügung stehende Material nicht nach einer Gesamtübersicht über mehrere weitere Kapitel verstreut, die sich – durchaus anregend und informativ – mit den Formen des Widerspruchs und des Widerstandes, mit ihren Existenzbedingungen, mit dem Alltag und mit den Dauerthemen von Nonkonformität auseinandersetzen.

Von grundlegender Bedeutung ist die Frage, warum das widerständige Verhalten im Norden von dem in den anderen Teilen der SED-Diktatur abwich. Hier führt ein Hinweis auf die Mentalitätsunterschiede letztlich nicht weiter. Eine Rolle spielten vielmehr die geringe Industrialisierung des Nordens und die ebenfalls geringe Bevölkerungsdichte. Außerdem war die Nähe zu Ost-Berlin als einem widerständigem Zentrum zu groß und immer wieder wanderten Oppositionelle dorthin ab. Zudem wurde der Bezirk Rostock, mit seinen Häfen das „Tor zur Welt“, als „Seegrenze Nord“ von der Staatssicherheit besonders scharf überwacht. Deutlich wird dabei immer wieder die erschreckende Brutalität des Systems besonders in seiner frühen Herrschaftsphase. Gleichzeit macht Halbrock jedoch auch klar, dass das MfS durchaus nicht allwissend war, diesen Nimbus jedoch pflegte. Eine Besonderheit des widerständigen Verhaltens im Norden der DDR war, dass sich Oppositionelle nicht von den Ausreisewilligen abgrenzten – allerdings gab es dies beispielsweise in Leipzig in Ansätzen auch.

Besonders interessant sind die Ausführungen des Autors zu Einzelthemen wie der Friedensarbeit im Jakobitreff in Stralsund, dem Ökumenischen Zentrum Umwelt Wismar und die Proteste gegen die heute weitgehend unbekannten Kirchensprengungen. Dazu kommen die Flucht über die Ostsee, Fahnenabrisse, die Rolle jugendlichen Übermuts, von Randale und Rebellion. Bisher ist auch der Anteil von Frauen am widerständigen Verhalten zu wenig thematisiert worden. Das holt Halbrock für den Norden jetzt nach und kommt zu einer deutlichen Höherbewertung als dies bei anderen Autoren der Fall ist. Gleichzeitig werden Schwierigkeiten bei der Begriffsbestimmung „Dienstverpflichtung“ im oppositionellen Umfeld deutlich.

Neues leistet die Monographie bei der Erhellung des beruflichen Hintergrunds der Opposition und Widerstand Leistenden, die zu einem großen Teil Facharbeiter, aber auch gering Qualifizierte waren. Richtig ist auch, dass der Autor dem widerständigen Verhalten im Alltag mit der alltäglichen Meckerei, der Besetzung von Wohnraum und der Rolle der Elternhäuser viel Platz einräumt. Dagegen wird die Subkultur nur gestreift. Grundsätzlich richtig ist weiterhin, dass die Anpassung und die überzeugte „Täterschaft“ unter den Ostdeutschen dominierten. Es gab jedoch auch immer wieder Solidarität mit den Oppositionellen.

Breiten Raum räumt Halbrock der Diskussion von Definitionsfragen des abweichenden Verhaltens ein, das er in Nonkonformität, Verweigerung, Protest, Widerstand und Opposition einteilt. Bedauerlicherweise bleiben diese Begriffe schwammig und werden nicht einheitlich verwandt; offensichtlich ist „Opposition“ für Halbrock jedoch die höchste Form von Widerständigkeit. Damit gibt er eine Unterscheidung auf, die sich bisher in der Forschung durchgesetzt hat: Die Unterscheidung zwischen Widerstand (grundsätzliche Ablehnung der Diktatur und Wunsch ihrer Überwindung), Opposition (Bemühungen um Systemreformen und Aufbau einer Zivilgesellschaft) und Dissidenz/Resistenz (abweichendes Verhalten vor allem im Alltag) sowie den Überbegriff widerständiges Verhalten. Bei Halbrock ist Widerstand einmal der übergeordnete Begriff, dann eine Vorform der Opposition. Das alles ist zwar anregend, gleichzeitig jedoch verworren und verwirrend und hätte zur besseren Übersicht an den Anfang der Monographie gehört. Bei der Auseinandersetzung mit diesen Begriffen fällt auch auf, dass der bisherige Forschungsstand nur unzureichend berücksichtigt wird. Dagegen ist der Rückgriff auf Forschungen zum Nationalsozialismus durchaus zielführend – aber, was so nicht erwähnt wird – schon mehrfach erfolgt und auch theoretisch begründet worden.

Ärgerlich ist der immer wieder undifferenzierte Gebrauch des Wortes „Kirche“ bzw. „unter dem Dach der Kirche“. Dabei geht es in der Regel um Teile der evangelischen Landeskirchen, was aber nur selten deutlich, ansonsten wohl vorausgesetzt wird. Dieses undifferenzierte Herangegen an die „Kirche“ irritiert bei der Lektüre zunehmend und verstellt auch manchen differenzierten Zugang, der für den verbesserten Erkenntnisstand über widerständiges Verhalten im Rostocker Ostseebezirk wichtig gewesen wäre.

Da auch staatliches Handeln und das der SED nicht genügend differenziert werden, wird das politische Primat der Staatspartei nicht ausreichend verdeutlicht. Dagegen ist Halbrocks Fazit, dass politisch abweichendes Verhalten als Akt der Selbstbehauptung zu bewerten ist, überzeugend. Letztlich ist auch richtig, dass es der SED nicht gelang, die Probleme ihrer Diktatur zu lösen, weil im Kern die Staatspartei selbst das Problem war.

Das Literaturverzeichnis der Monographie verzeichnet nur eine Auswahl der verwendeten Literatur, wobei die von Halbrock besonders herangezogenen regionalgeschichtlichen Arbeiten bisher weitgehend vernachlässigt worden sind. Jedoch enthält es nicht alle im Text zitierten Titel, auch werden wichtige Arbeiten nicht erwähnt. Die Arbeit ist vor allem durch Archivalien der Staatssicherheit quellenmäßig hervorragend fundiert, deshalb ist es umso bedauerlicher, dass eine zusammenfassende Quellenübersicht fehlt.

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