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Titel
Deutsche SchildBürgerKunde. Das ausgestellte Gedächtnis der Nation


Autor(en)
Jung, Udo O.H.
Erschienen
München 2014: Iudicium-Verlag
Anzahl Seiten
270 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Pöppinghege, Historisches Institut, Universität Paderborn

In seinem fragmentarischen „Passagen-Werk“, entstanden von 1927 bis 1940, befand Walter Benjamin, die Stadt sei „durch die Straßennamen ein sprachlicher Kosmos“.1 Was für Städte gilt, sollte für ein ganzes Land erst recht gelten. Der Auffächerung und Analyse dieses „Kosmos“ der Straßennamen in Deutschland widmet sich der Germanist Udo O.H. Jung in seinem Buch, das aus der landeskundlichen Beschäftigung mit dem Thema im Rahmen des Deutschunterrichts für Zweitsprachenlerner hervorgegangen ist und sich zugleich an ein breiteres Publikum richtet. Vielfach erläutert der Autor seine didaktische Vorgehensweise und die beabsichtigten Lerneffekte, was der Analyse aber nicht abträglich ist.

Das Thema der Straßennamen ist in den vergangenen Jahren zunehmend in den erinnerungskulturellen Fokus der Öffentlichkeit gerückt – spätestens immer dann, wenn Umbenennungen zur Debatte standen. Vielfach wurden Straßennamen in diesem Zusammenhang als „Spiegel der Geschichte“ geadelt – ein Prädikat, das sie zu Unrecht erhielten, wie die vorliegende Untersuchung zeigt und wie an der ungleichen Repräsentation historischer Persönlichkeiten und ganzer Epochen leicht zu erkennen ist. Was wir in bundesdeutschen Städten heute vorfinden, ist das Ergebnis von Zufällen und Vorlieben. Zufall deshalb, weil ein Benennungsbedarf immer dann entsteht, wenn nach reger Bautätigkeit viele Straßenschilder zu beschriften sind. Das ist aber keineswegs kontinuierlich der Fall, sondern erfolgt in Wellen. Straßennamen wurden in den vergangenen 200 Jahren seit ihrer verwaltungsrechtlichen Einführung nicht stetig von den Zeitgenossen vergeben, sondern eben nach dem jeweiligen Bedarf. Im Zeitalter der Urbanisierung hieß das, dass sich in vielen Städten die jeweiligen Herrscher bzw. herrschenden Eliten mit ihren Vorlieben, Wertvorstellungen und Idolen in das Straßennamenkorpus einschrieben. Das war ihr gutes Recht, so wie es das gute Recht einer jeden Generation ist, die vorgefundenen Narrative – denn um nichts anderes als Geschichtsdeutungen handelt es sich bei Straßennamen mit historisch-politischen Bezügen – kritisch zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen. Straßenbenennungen sind also eine höchst subjektive Angelegenheit, die – und hierin liegt ein weiteres Missverständnis – in früheren Zeiten nicht unbedingt die Meinung der Bevölkerungsmehrheit widerspiegelten. Wer sie für unantastbare Quellen der Geschichte hält, wird daher allzu leicht zum verspäteten Opfer von Selbstinszenierungen oder gar Propagandaleistungen. Ein repräsentativer Ausdruck „des“ deutschen Selbstbildes sind Straßennamen keineswegs. Es handelt sich eher um ein lückenhaftes kollektives Gedächtnis, das der Autor mit der ungewöhnlichen Metapher „Morbus Alzheimer“ umschreibt, da viele Epochen, Personen und historische Ereignisse entweder kaum vorkommen oder schlichtweg fehlen (S. 49).

Mit seinen Deutsch-als-Fremdsprache-Studenten hat der Autor mittels verschiedener Datenbanken die Häufigkeit sowie das regionale Vorkommen von politisch-historischen Straßennamen untersucht – und dies ebenso intensiv wie systematisch. Ein umfangreicher Tabellenanhang gibt darüber Auskunft, welche Persönlichkeiten in den vergangenen Jahrzehnten als besonders ehrungswürdig eingestuft wurden und auch heute noch auf Straßenschildern vorhanden sind. Denn das ist die Problematik des Mediums: Es entzieht sich weitgehend der diachronen Querschnitte, man ist häufig auf die Analyse des Ist-Zustands der Gegenwart angewiesen. Dies ist auch der Schwerpunkt von Jungs Untersuchung. Ansonsten müsste man in die einzelnen historischen Epochen herabsteigen, das zeitgenössische Vorkommen und auch die Benennungsmotive der Mitwirkenden untersuchen, was die Quellenlage meist nicht erlaubt.

Über das Medium der Straßennamen präsentiert sich Deutschland als Land der „Dichter und Denker“, genauer gesagt wohl der Dichter und Musiker. Denn Schriftsteller, Poeten und Komponisten bevölkern bundesdeutsche Straßenschilder momentan am häufigsten – sieht man von Toponymen (Ortsnamen) einmal ab. Danach folgt die große Gruppe der Ingenieure und Naturwissenschaftler, und erst auf den Plätzen vier und fünf finden sich Politiker und Militärangehörige. Dass die militaristische – vor allem preußische – Vergangenheit zumindest beim Medium des Straßennamens unter ferner liefen rangiert, scheint den Verfasser zu wundern. Wer jedoch die aktuellen Forschungen zu diesem Thema – übrigens auch zur Sonderwegsdiskussion – heranzieht, wird weniger erstaunt sein.

Aus der Perspektive des Historikers bleibt die frühere Benennungspraxis in Jungs Werk etwas unterbelichtet. Dass nämlich vorwiegend die gesellschaftlichen Eliten und deren Wertmuster die Straßenschilder „prägten“, kann gar nicht oft genug betont werden. Das gilt nicht nur für Diktaturen, sondern auch und gerade für die urbane Expansionsphase im Kaiserreich. Jungs Untersuchung veranschaulicht darüber hinaus eine Demarkationslinie zwischen Ost- und Westdeutschland, die nicht zuletzt mit der Benennungspraxis im Kalten Krieg und den politischen Wertmustern erklärt werden kann. Als Beispiel mag das Thema „Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ dienen, das in der DDR vorwiegend kommunistische Widerstandskämpfer kannte, während diese im Westen auf Straßenschildern weitgehend ignoriert wurden – zugunsten des bürgerlich-kirchlichen Widerstands.

In diesem Sinne ist die Aussagekraft von Straßennamen für das kollektive Gedächtnis einer Nation begrenzt, selbst wenn man in Rechnung stellt, dass alle heute noch existierenden Straßenbenennungen von den Nachgeborenen zumindest solange mehrheitlich akzeptiert sind, wie es zu keinen Umbenennungen kommt. Zu Recht weist Jung darauf hin, dass es bei derlei Debatten auf die Abwägung des Einzelfalls ankommt – und dass es das selbstverständliche Recht einer jeden Generation ist, neue Fragen zu stellen, gegebenenfalls neue Quellen heranzuziehen und neue Gewichtungen vorzunehmen. Was als eine geschichtswissenschaftliche Selbstverständlichkeit daherkommen müsste, wird bei Umbenennungsdebatten in Form eines erstaunlichen Beharrungsvermögens beispielsweise von Anwohnern konterkariert. Das Buch zeigt an Einzelbeispielen, wie wohlmeinend mancherorts auch heute noch mit Tätern, Profiteuren und Sympathisanten von Diktaturen umgegangen wird, etwa mit der Hitler selbst nach 1945 treu ergebenen Schriftstellerin Agnes Miegel (S. 64, S. 237). Das kann in den seltensten Fällen sachlich begründet werden; zumeist sind es emotionale oder ideologische Argumente, mit denen Umbenennungsdebatten grundsätzlich unterbunden werden sollen. Dabei sind nicht die Umbenennungsversuche grundsätzlich „geschichtsvergessen“, so der häufig geäußerte Vorwurf, sondern die Weigerungen, sich reflexiv mit der Wandelbarkeit historischer Werturteile zu befassen.

Für die großen Umbenennungsdebatten in deutschen und österreichischen Städten (z.B. Hannover, Oldenburg, Münster, Wien) mag das Buch etwas spät kommen; für eine tiefere Einsicht in die Benennungspraktiken und deutschen Selbstbilder ist es dagegen nie zu spät. Leider sind die historisch wichtigsten Forschungen des israelischen Kulturwissenschaftlers Maoz Azaryahu zu den Straßenbenennungen in der DDR und im Berlin der Weimarer Republik nicht in die Untersuchung eingeflossen.2 Manche Passagen beispielsweise zu Bildinterpretationen und kunstgeschichtlichen Aspekten (S. 100–108, S. 135) sind etwas langatmig geraten, führen vom Thema weg und dürften dem didaktisch-landeskundlichen Ansatz geschuldet sein. Insgesamt liegt mit der „Deutschen SchildBürgerKunde“ eine umfassende und problemorientierte, aber nicht streng akademische Bestandsanalyse bundesdeutscher Straßennamen vor. Der Klappentext nennt das Werk „ein Buch zum Nachmachen: Die Daten sind alle in einem Anhang versammelt; eine Bibliographie mit über 350 Einträgen hilft, das Feld weiter aufzuschließen.“ Der Preis von 48 Euro dürfte so manchen Interessierten allerdings abschrecken. Trotzdem sind dem Buch viele Leser/innen zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. V.1, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1982, S. 650.
2 Vgl. Maoz Azaryahu, Renaming the Past. Changes in „City Text“ in Germany and Austria, 1945–1947, in: History and Memory 2 (1990), Heft 2, S. 32–53; ders., Vom Wilhelmplatz zum Thälmannplatz. Politische Symbole im öffentlichen Leben der DDR, Gerlingen 1991; ders., Commissioned Memory. Politics of Commemoration in Contemporary Germany, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 28 (1999), S. 341–366.