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Titel
The Castrato. Reflections on Natures and Kinds


Autor(en)
Feldman, Martha
Reihe
Ernest Bloch Lectures
Erschienen
Anzahl Seiten
421 S.
Preis
€ 57,41
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jutta Toelle, Abteilung Musik, Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, Frankfurt

Endlich! Martha Feldman, Professorin in Chicago, Verfasserin zweier kulturhistorisch angelegter Werke über das Madrigal in Venedig und die opera seria des 18. Jahrhunderts, ist es gelungen, das lange vermisste Buch über Kastraten zu schreiben. Endlich gibt es also ein Werk über Kastraten, das historisch-soziologisch deren Geschichte aufarbeitet, Mythen und Narrativen nachgeht, in einer gut lesbaren und perfekt verdichteten Sprache geschrieben ist und dabei selbstverständlich auf höchstem theoretischen Niveau argumentiert. Bisher konnte man fast ausschließlich auf sehr alte Literatur1 und Werke über Sänger und Gesangstechnik (von John Rosselli2 und anderen) zurückgreifen; das heutige Bild von Kastraten wird geprägt durch Gérard Corbiaus Film "Farinelli" von 1994 und durch populär angelegte Bücher und Romane, die schon im Titel klangvoll bis schlüpfrig mit Metaphern spielen (Hubert Ortkemper, Engel wider Willen; Christiane Wunnicke, Die Nachtigall des Zaren; Franzpeter Messmer, Der Venusmann). Angesichts der populären Beschäftigung mit dem klanglichen Phänomen hoher Männerstimmen – durch Alfred Deller aus dem Refugium britischer Chöre in die Popularität herübergerettet und durch James Bowman, Andreas Scholl, David Daniels, Philippe Jaroussky, Max Emanuel Cencic und andere in die Jetztzeit überführt – und der Verblüffung darüber, dass diese Sänger offensichtlich ein Vakuum ausfüllen, das es vorher gegeben hat, schien es schon lange angebracht, mit einigen Mythen aufzuräumen und anderen auf den Grund zu gehen. Das gelingt nun Martha Feldmans faszinierendem neuen Buch.

Die Autorin stellt grundsätzliche Fragen und postuliert als eines der Ziele des Buches: “a greater understanding of the inherent material conditions of a castrato’s musical labor and his musical excellence, the very thing that warranted castrations for singing and allowed him to operate in important domains of power and brokerage“ (S. xxi). Wie konnte es also sein, dass der Kastrat in seiner Körperlichkeit als Verkörperung der Gesellschaft galt, deren Normen und Narrativen er doch komplett entgegen stand? Eine der Grundthesen des Buches ist, dass heutige Sänger funktional die Rolle einnehmen, die die Kastraten ihnen bahnten (siehe S. xi/xii: „the entire classical foundation of virtuosic solo singing in the West […] owes its existence to musical traditions and practices of castrati“). Mehrere große Themenstränge ziehen sich durch das Buch, das fast unauffällig chronologisch aufgezogen und in drei Teile mit je zwei Kapiteln gegliedert ist. Anfangs, im ersten Teil des Werkes, geht es um „reproduction“ im weitesten Sinne: wie und warum wurden Kastraten „gemacht“, was waren ihre Kompensationsstrategien für das erzwungene Zölibat und die Zeugungsunfähigkeit, wie konstruierten sie ihre Männlichkeit – und zwar nicht in erster Linie als sexuelle Identität, sondern als politische Kategorie? Feldman macht dabei die vielfältigen Verbindungen mit Opferdiskursen und der Blutopferthematik der katholischen Kirche deutlich, die als Erklärung und Ausrede für die Kastration des Jungen herhalten mussten; auch Vergleiche mit dem Leiden Jesus Christus’ gab es („the sound of the singing castrate whose flesh had been mortified to produce him might thus be imagined as the audible approximation of a wailing Christ“, S. 45). Um das Phänomen des relativ schnellen Aufkommens der „Mode“ des Kastrierens von Knaben zu erklären, vermutet sie Zusammenhänge mit der starken Patrilinearität im Italien des 17. und 18. Jahrhunderts: das Kastrieren, um einem Jungen eine vielversprechende sängerische Karriere als Kastrat zu ermöglichen, sei somit von Familien als Ausweg aus dem Dilemma des nicht Erstgeborenen und Nicht-Erben, als „a special of sacred celibacy“ (S. 46) gesehen worden. Viel Raum wird der ikonographischen und diskursiven Verwandtschaft der Kastraten mit Pulcinella gegeben, der schwer zu fassenden, prototypischen Figur der commedia dell’arte: ein Straßenkünstler und Performer, Möchte-Gern-Frauenheld mit hoher Stimme und androgynem, teils weibischem Aussehen. Während Pulcinella in der Karnevalszeit als Clown die Straße beherrschte, verwirrte der Kastrat auf der Bühne des Opernhauses die Geschlechter; als liminale Wesen stellten beide die herrschende soziale Ordnung infrage.

Der zweite Teil des Buches, mit „Voice“ überschrieben, unternimmt eine Annäherung an die Kastratenstimme, die es als solche natürlich nicht gegeben hat; stimmtechnische „Geheimnisse“ wie messa di voce und portamento werden anhand von Gesangslehrbüchern, der Analyse bestimmter Kompositionen, Berichten über Aufführungen und Analysen von Aufnahmen erklärt. In ihrem Versuch, sich an Kastratenstimmen heranzutasten, vergleicht Feldmann hier anhand von kurzen Ausschnitten aus Charles Gounods "Ave Maria" die Stimme Alessandro Moreschis, des einzigen Kastraten, von dem es Aufnahmen gibt, mit anderen zeitgenössischen: so lassen sich auf der bescheidenen, aber ausreichenden, das Buch ergänzenden Website des Verlags Uinversity of California Press neben Moreschi vier prominente Sopranistinnen des frühen 20. Jahrhunderts – Emma Eames, Adelina Patti, Nellie Melba und den verismo-Star Eugenia Burzio – anhören. Dies bietet aufschlussreiche Einblicke in frühe Aufnahmetechnik, Stimmphysiologie und Gesangsstile der Jahrhundertwende. In der Bestrebung, das Besondere der Stimmlichkeit von Kastraten zu definieren, kommt die Autorin schließlich zu der weder überraschenden noch gewagten, aber von ihr hinreichend belegten Schlussfolgerung: „we might imagine listening to chest at high range […] the combination is exciting“ (S. 109).

Ein Kapitel zum castrato de luxe schildert die Kastraten und vor allem die berühmtesten unter ihnen, wie Farinelli, Caffarelli, Senesino und andere, auf dem Höhepunkt ihres Ruhms: als Performer, als Vertraute der Mächtigen bis hin zum Minister und als erfolgreiche Geschäftsleute und Vermögensverwalter.

Der dritte Teil des Buches („half-light“) knüpft genau dort an, denn bald, spätestens im späten 18. Jahrhundert, wurde den Kastraten Eitelkeit, Dekadenz und ihr Luxusleben vorgeworfen, moralisch motivierte Vorwürfe, die untrennbar mit Kritik an der Kastration selbst verbunden waren. „Castrati had become irreversible signs of things out of place“ (S. 206), vor allem deswegen, weil der Anspruch auf Männlichkeit, den die Kastraten so lange erfolgreich durch Netzwerke und Macht konstruiert hatten, in den Augen vieler nicht mehr länger von entmannten Männern eingelöst werden konnte. Feldman zeichnet im letzten Kapitel des Buches das langsame Aussterben und das Nachleben der Kastraten nach; als letzte große Vertreter treten Crescentini und Velluti neben der berühmten Giuditta Pasta auf, neben Haydn, Napoleon, Stendhal, Rossini und Berlioz. Es endet mit Gioacchino Rossini, der Richard Wagner gegenüber behauptete, dass der Niedergang der italienischen Theater im frühen 19. Jahrhundert auf das Verschwinden der Kastraten zurückzuführen sei, und mit drei neuen Überzeugungen der Europäer, die das Aussterben der Kastraten besiegelten: „Europe had learned (it thought) how to be more humane to children and how to align gender with sex in strict polarities – to make men like men and women like women; and consequently because Europe had lost its tolerance for disjunctions between appearance and embodiment on stage.“ (S. 261)

Feldmans Buch – klar und ohne überflüssigen theoretischen Ballast geschrieben – ist also nicht nur ein unverzichtbarer Beitrag zum Thema Kastraten, sondern wird in naher Zukunft sicherlich das zentrale Werk zum Thema sein, für Laien und Wissenschaftler, Sänger und Musikhörer, Studenten und Lehrende. Endlich!

Anmerkungen:
1 Franz Haböck, Die Gesangskunst der Kastraten, Wien 1923.
2 John Rosselli, "The Castrati as a Professional Group and as a Social Phenomenon, 1550–1850", Acta Musicologica 60 (1988), S. 143–179; John Rosselli, Singers of Italian Opera: The History of a Profession, Cambridge 1992.

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