S. O. Müller: Das Publikum macht die Musik

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Titel
Das Publikum macht die Musik. Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Müller, Sven Oliver
Erschienen
Göttingen 2014: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
€ 49,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Hansen, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Der Titel ist pointiert und provokativ. Es ist allerdings nicht das Anliegen von Sven Oliver Müller, einen radikal konstruktivistischen Ansatz zu verfolgen. Die extreme Ansicht des schwedischen Musikwissenschaftlers Ola Stockfelt, allein der Zuhörer sei der Komponist der Musik (man mag in diesem Zusammenhang durchaus etwa an John Cages 4‘33“ denken), macht sich Müller nicht derart entschieden zu Eigen.1 Weitgehend losgelöst von einer Betrachtung und Bewertung der ästhetischen Qualität von Musikwerken, nimmt er die Praktiken des Musiklebens in den Blick, um aus der Perspektive des Historikers in erster Linie das Publikum als jene entscheidende Instanz zu betrachten, die über den Erfolg beziehungsweise Misserfolg von Komponisten und ihren Werken verfügt. Dabei ist es das Ziel der Untersuchung, „das Verhalten und die Gestaltungsmacht dieser Menschenmenge zu beschreiben“ (S. 8). Dies gelingt Müller, der sich mit der vorliegenden Arbeit an der Universität Bielefeld habilitiert hat, auf überzeugende und gerade hinsichtlich der gezeigten „Bandbreite der Praktiken und Verhaltensmuster“ (S. 11) sehr anschauliche Weise.

Im Fokus stehen die Konzert- und Opernaufführungen zentraler Spielstätten und Konzertreihen, die in ihrer Auswahl einen Vergleich des Berliner, Londoner und Wiener Publikums und Repertoires ermöglichen. Diese drei Metropolen, auf die sich Müller aus überzeugenden Gründen beschränkt, bieten sich gegenüber kleineren Städten als exemplarische Beispiele an. Zum einen besaßen sie insgesamt den größeren und vielseitigeren Musikbetrieb. Zum anderen waren hier die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Eliten anzutreffen, die die prägenden kulturellen Konsumenten bildeten und auf die sich Müller in seiner Studie konzentriert. Als Quellen dienen ihm dabei eine breite Auswahl der unter politischen und ästhetischen Gesichtspunkten unterschiedlichen (Tages-)Zeitungen und Musikfachzeitschriften. Daneben werden aber auch einige Archivalien herangezogen. So gewähren beispielsweise erhalten gebliebene Rechnungsbücher und Abonnentenlisten einen Einblick in die Veranstaltungsorganisation und die Besucherstruktur, Polizei- und Gerichtsakten ermöglichen zusätzliche Aussagen über auffällige Aufführungen, zu denen besonders die häufiger anzutreffenden Saalschlachten, die Staatsbesuche oder die tragischen Brandkatastrophen zählen. Es entsteht hierdurch ein Panorama der Entwicklungen im 19. Jahrhundert, das sich aus einer Vielzahl konkreter Einzelereignisse zusammensetzt, die allgemeine Tendenzen und Besonderheiten sichtbar werden lassen.

Im Vergleich der drei Städte zeigen sich die größten Unterschiede in London. Während Berlin und Wien über ein Hoftheater verfügten, dominierten in der britischen Hauptstadt die freien Unternehmer den Opernbetrieb. Dies hatte naheliegende Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Publikums. Nicht nur wurden in London erheblich mehr Sensationsangebote gemacht, um gewinnbringend oder zumindest kostendeckend zu arbeiten. Die hohen Eintrittspreise trugen auch zu einer wachsenden Dominanz des Wirtschaftsbürgertums in der Oper bei. Noch die schlechtesten Konzertkarten „kosteten umgerechnet doppelt so viel wie die Eintrittskarten für Wiener Veranstaltungen“ (S. 73). Die beiden Hoftheater hingegen waren stets auf die staatliche Finanzierung angewiesen. Aber auch hier blieb die Teilnahme eine finanzielle und folglich soziale Frage. Das geringe Angebot an preiswerten Sitz- und Stehplätzen trotz hoher Nachfrage, die zunächst frühen Anfangszeiten und schließlich verschiedene Distinktionsmittel beschränkten an allen drei Orten den Zugang erheblich.

Das Verhältnis von Adel und Bürgertum zueinander wies in den drei Städten Unterschiede auf. Aber der gemeinsame Opern- und Konzertbesuch bewirkte einen Austausch, der zu einer zunehmenden Annäherung beider Gruppen führte. Das Musikleben des 19. Jahrhunderts sei deshalb auch nicht als „Siegesallee einer autonomen bürgerlichen Kultur zu begreifen“ (S. 100). Die gegenseitige Beobachtung und die Kommunikation verstärkten die Angleichung zwischen Adel und Bürgertum. Während das Bürgertum adelige Lebensstile imitierte, gelang es dem Adel umgekehrt, durch eine Angleichung seines Geschmacks und Verhaltens an das Bürgertum gezielt seine „Angriffsflächen“ (S. 362) zu verringern. Die Auswirkungen derartiger Veränderungen lassen sich zum Beispiel auch markant am Ende der einst angesehenen Londoner „Ancient Concerts“ im Jahr 1848 ablesen. Die Besucherzahl dieser einzig dem Adel vorbehaltenen Konzertreihe sank binnen zwanzig Jahren rapide, weil das „konservative Repertoire, die ausgrenzende Zusammensetzung des Publikums und die undisziplinierten Verhaltensstandards“ (S. 344, S. 92f.) die Aristokratie immer weniger ansprachen. Eine neue soziale Klasse ging aus den Gemeinschaft stiftenden musikalischen Praktiken allerdings nicht hervor.

Eine der zentralen und sehr tiefgreifenden Veränderungen im Musikleben war bekanntlich die Entwicklung des stillen, zuhörenden Publikums. Diesen Wandel, der sich zwischen 1820 und 1860 vollzog, führt Sven Oliver Müller ausführlich in seinen zahlreichen Facetten vor Augen. Das disziplinierte Hörverhalten, das aus einem neuen Stellenwert der Musik, insbesondere der Instrumentalmusik, resultierte, begann sich in Deutschland viel früher auszubilden als in London. Mit ihm waren neue Geschmackskategorien verbunden, aber auch ein nachhaltig veränderter Umgang mit Emotionen und mit dem Körper. Müller verdeutlicht anschaulich, dass neben den zahlreichen Debatten über das richtige Verhalten auch den Dirigenten und den Veranstaltern eine konkrete Erzieherrolle zukam. Sie beide erhoben Ansprüche an die Besucher, die sie öffentlich artikulierten oder in Form von Kontrollmaßnahmen und Hausordnungen „zur Regelung des Publikumsverkehrs“ (S. 243) durchsetzten. Die Einführung von festen Sitzreihen und Konzertpausen gehörten ebenso hierzu wie beispielsweise Hundeverbote, die verpflichtende Abnahme der Kopfbedeckung oder der pünktliche Konzertbeginn.

Schweigsamkeit, Konzentration, Körperbeherrschung und Geschmack wurden somit in der Oper und im Konzert zu einer Anforderung und zu einer Herausforderung, die über Zugehörigkeit und Fremdheit entschieden. Wie gesellschaftlich und kulturell prägend dies war, zeigen nicht zuletzt die Beobachtungen derjenigen, die mit diesen Verhaltensweisen (noch) nicht vertraut waren. Mark Twain beispielsweise fühlte sich während seiner Europa-Reise in den 1870er-Jahren beim Besuch einer vierstündigen Lohengrin-Aufführung an die schmerzhafte Zeit seiner Zahnbehandlungen erinnert. Ihm fehlte, wie er selbst konstatierte, jener notwendige Zugang zu diesem Werk Richard Wagners, um gleich den anderen begeisterten Zuhörern eine solche Musik verstehen und folglich genießen zu können (Vgl. S. 237f.).

Derartige Beobachtungen verweisen auf die sozialen Praktiken des Publikums, die sich immer wieder in unterschiedlicher Intensität wandeln. Nachdem in den zurückliegenden zwanzig Jahren mehrere gewichtige Arbeiten das Forschungsinteresse an der sozial- und kulturgeschichtlichen Bedeutung von Musik gerade auch für die Geschichtswissenschaft bereichert und belebt haben 2, hat Sven Oliver Müller einen weiteren Beitrag hierzu geleistet, mit dem er neue Perspektiven auf das Publikumsverhalten bietet und die bisherigen Kenntnisse hierzu vertieft. Seine Studie regt zu weiteren Fragen und Auseinandersetzungen mit diesem Thema an und vermag nicht zuletzt als flüssig und stellenweise sehr unterhaltsam geschriebenes Buch auch ein breiteres Publikum anzusprechen.

Anmerkungen:
1 Vgl. S. 22; Ola Stockfelt, Cars, Buildings, and Soundscapes, in: Helmi Järviluoma (Hrsg.), Soundscapes. Essays on Vroom and Moo, Tampere 1994, S. 19–38.
2 Vgl. etwa Ute Daniel, Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995; James Johnson, Listening in Paris. A cultural history, Berkeley 1995; Philipp Ther, In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815–1914, Wien 2006; Christophe Charle, Théâtres en capitales. Naissance de la société du spectacle à Paris, Berlin, Londres et Vienne 1860–1914, Paris 2008; Hansjakob Ziemer, Die Moderne hören. Das Konzert als urbanes Forum 1890–1940, Frankfurt am Main 2008.

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