H. Kästner: Der Weimarer Landtag 1817–1848

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Titel
Der Weimarer Landtag 1817–1848. Kleinstaatlicher Parlamentarismus zwischen Tradition und Wandel


Autor(en)
Kästner, Henning
Reihe
Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus
Erschienen
Düsseldorf 2014: Droste Verlag
Anzahl Seiten
419 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roland Gehrke, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Vor bald vier Jahrzehnten begann die Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien mit der Herausgabe der Reihe „Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus“, in der die Frühzeit – sprich: die Genese und Entwicklung deutscher Parlamente zwischen Wiener Kongress und Bismarck’scher Reichseinigung – stets einen besonderen Schwerpunkt bildete. Beginnend mit Manfred Botzenharts grundlegender Betrachtung der Revolution von 1848/49 (1977), richtete sich der Blick zunächst auf Preußen (Günther Grünthal 1982, Herbert Obenaus 1984), dann verstärkt auf die süddeutschen Verfassungsstaaten, denen eine verfassungspolitische Vorreiterrolle zukam (Hartwig Brandt 1987 über Württemberg, Dirk Götschmann 2002 über Bayern, Hans-Peter Becht 2009 über Baden). Die Parlamente der deutschen Kleinstaaten blieben demgegenüber noch länger unbeachtet. Nachdem Gerhard Müller seit den 1990er-Jahren immerhin schon mehrere Abhandlungen zur Verfassungsentwicklung und zum Frühparlamentarismus in den thüringischen Ländern vorgelegt hatte1, stößt Henning Kästner mit seiner Fallstudie über den Landtag des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach während der Restaurations- und Vormärzzeit nun gleichfalls in diese Forschungslücke hinein.

Generell hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten eine Renaissance der historischen Parlamentarismusforschung unter neuen Fragestellungen vollzogen. Während Martin Kirsch in Abkehr von der alten These eines verfassungspolitischen deutschen „Sonderwegs“ unter dem Leitbegriff des „monarchischen Konstitutionalismus“ die Gemeinsamkeiten mit anderen europäischen Verfassungstypen, insbesondere in Frankreich, betont2, werden die deutschen Parlamente, ihre Symbolik, ihr Zeremoniell und ihre spezifischen Handlungsmechanismen zunehmend auch unter kulturgeschichtlichen Aspekten ausgeleuchtet.3 Kästner selbst weist zudem auf den hohen Wert der neueren Adels- und Bürgertumsforschung gerade auch für die Geschichte des Parlamentarismus hin (S. 26).

Letztlich geht es Kästner um eine Gesamtdarstellung des Weimarer Landtags, den er aus entsprechend unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet: Einem einleitenden Grundlagenkapitel zur Verfassungsentwicklung in Sachsen-Weimar-Eisenach bis 1816 lässt er einen umfangreichen Abschnitt zur parlamentarischen Kultur und Praxis im Weimarer Landtag folgen, was dessen Wahl und soziale Zusammensetzung ebenso einschließt wie dessen Verhältnis zur Öffentlichkeit. Daran schließt sich ein Kapitel an, das das wechselseitige Verhältnis zwischen dem Landtag und der Regierung – letztere verkörpert durch Herzog Carl August beziehungsweise seit 1828 durch dessen Sohn und Nachfolger Carl Friedrich – näher beleuchtet. Den Abschluss bilden zwei Abschnitte, die die konkreten Verhandlungsgegenstände des Landtags und dessen Position in der Weimarer Etat- und Finanzpolitik in den Blick nehmen. Das maßgebliche Quellenfundament der Studie bildet die Überlieferung des Thüringischen Hauptstaatsarchivs in Weimar (hier vor allem die Landtagsprotokolle), ergänzt durch einige Abgeordneten-Nachlässe und Presseberichte.

Obwohl der Weimarer Landtag durchaus ähnlich weitgehende Befugnisse besaß wie die süddeutschen Kammerparlamente – er wirkte aktiv im Gesetzgebungsprozess mit, zudem bedurften sämtliche Steuern und Ausgaben seiner Bewilligung –, weist Kästner bereits einleitend auf einen Umstand hin, der dem Weimarer Parlamentarismus eine eigene Prägung verlieh: Die in Sachsen-Weimar-Eisenach betriebene „herrschaftliche Integrations- und Konsenspolitik“ (Gerhard Müller) habe zwischen Parlament und Regierung ein deutlich kooperativeres Verhältnis zur Folge gehabt als dies in den süddeutschen Ländern der Fall gewesen sei (S. 12f.) – gleichsam ein Generalbefund, auf den Kästner im Verlauf seiner Darstellung immer wieder zurückkommt.

In seiner Zusammensetzung wich der Weimarer Landtag ohnehin von den süddeutschen zweiten Kammern ab: Die neuständische Gliederung in Ritterschaft, städtisches Bürgertum und grundbesitzende Bauern – hinzu kam noch ein Vertreter der Universität Jena – erinnert eher an die (politisch weitgehend einflusslosen) Provinzialstände in Preußen. Im Kontext der alten Streitfrage nach Kontinuität oder Diskontinuität zwischen den frühneuzeitlichen Landständen und den Parlamenten des 19. Jahrhunderts4, gelangt Kästner zu dem Schluss, dass der Landtag sich in seiner Arbeitsweise dennoch bereits relativ modern präsentiert und somit nur wenig mit dem Verhandlungsgang der alten ständischen Landtage gemein gehabt habe (S. 122) – so wie es letztlich für den deutschen Parlamentarismus dieser Zeit insgesamt gilt. Ein weiteres Charakteristikum, das ebenfalls an die preußischen Provinzialstände denken lässt, lag in der weitgehenden Abschottung des Weimarer Landtags von der Öffentlichkeit: Seine Verhandlungen blieben bis 1848 nicht öffentlich, während die Weimarer Presse dem Landtag nur wenig Beachtung schenkte; gedruckt wurden anfangs lediglich kursorische Zusammenfassungen der Landtagsverhandlungen, seit 1823 dann immerhin auch die Protokolle. Auch verfügte der Landtag nicht über ein eigenes Plenargebäude, mit dem er als politische Institution selbständig in Erscheinung hätte treten können, sondern musste seine Sitzung unter beengten Bedingungen im eher schlichten Weimarer Wittumspalais abhalten.

Die Verhandlungsgegenstände des Weimarer Landtags spiegeln die typischen Probleme des deutschen Vormärz wider, so wie sie auch in anderen Ländern immer wieder Thema waren: Fragen der Landgemeinde- und Zunftordnung, die Ablösung grundherrlicher Berechtigungen, Steuerwesen und Zollfragen, Erfordernisse von Wirtschaftsförderung und Infrastrukturpolitik (Eisenbahnbau!) etc. Bei all diesen Themen, so Kästners bereits angedeuteter Befund, schreckte der Landtag vor einer direkten Konfrontation mit der Regierung jedoch meist zurück. Am Beispiel eines Etat-Konflikts von 1826 sowie der 1832 durch Bundesbeschluss implementierten Verschärfung der Pressezensur wird „der enge Handlungsspielraum eines kleinstaatlichen Parlamentes“ (S. 223) offenkundig: Um ein dauerhaftes Zerwürfnis mit dem Monarchen nicht zu riskieren, verzichtete der Landtag wiederholt darauf, seine verfassungsrechtlich durchaus gegebenen parlamentarischen Möglichkeiten voll auszureizen. Entsprechend stand schon die eher konsensorientierte Mentalität der Abgeordneten einer Fraktionierung nach politischen Gesichtspunkten entgegen, wie sie in den süddeutschen Kammerparlamenten spätestens seit den 1830er-Jahren zu beobachten ist. Auch die politische Vernetzung von Abgeordneten über die parlamentarische Handlungsebene hinaus blieb laut Kästner eher die Ausnahme – hier stellt erst die Revolution von 1848 (die Kästner in Form eines kurzen Ausblicks noch mitberücksichtigt) eine wirkliche Zäsur dar.

Im Ergebnis ist Henning Kästner eine quellensatte und zuverlässige Fallstudie zur Geschichte des deutschen Frühparlamentarismus gelungen. Die im Untertitel formulierte und mittlerweile etwas abgedroschen klingende Ankündigung, den Weimarer Landtag „zwischen Tradition und Wandel“ untersuchen zu wollen, verweist auf den methodisch wie strukturell eher konventionellen Ansatz des Autors, was den Wert der Untersuchung aber nicht mindert. Gewiss lassen sich Details kritisieren, etwa die irreführende Überschrift von Kapitel I.1 („Wesen und Wirken der Landstände im Alten Reich“, S. 31), wo es – sinnvollerweise! – tatsächlich nur um ständische Traditionen in Sachsen-Weimar-Eisenach geht. Und als inhaltliches Manko sei abschließend erwähnt, dass Kästner über weite Strecken allzu sehr seinem engen Weimarer Mikrokosmos verhaftet bleibt, wo ein Blick über die Grenzen des Herzogtums hinaus noch manche Antworten liefern könnte – etwa auf die Frage, wie weit sich die zahlreichen politischen Affären des deutschen Vormärz indirekt auch auf die Verhandlungen des Weimarer Landtags auswirkten oder wie weit es Ansätze zu einer Netzwerkbildung zwischen Weimarer und anderen deutschen Parlamentariern gab. Ungeachtet der Vielfalt der von Kästner zu Tage geförderten Erkenntnisse bleibt somit Raum für weitere Forschungen.

Anmerkungen:
1 Vgl. exemplarisch Gerhard Müller, Die thüringischen Landtage in der Revolution von 1848/49, in: Thüringer Landtag (Hrsg.), Parlamente und Parlamentarier Thüringens in der Revolution von 1848/49, Weimar 1998 (Schriften zur Geschichte des Parlamentarismus in Thüringen 11), S. 34–115.
2 Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 150).
3 Vgl. den Ansatz bei Johannes Gerhardt, Der Erste Vereinigte Landtag in Preußen von 1847. Untersuchungen zu einer ständischen Körperschaft im Vorfeld der Revolution von 1848/49, Berlin 2007 (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 33).
4 Vgl. Barbara Stolberg-Rilinger, Ständische Repräsentation. Kontinuität oder Kontinuitätsfiktion?, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 28 (2006), S. 279–298.

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