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Titel
Symbolische Formung und die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit.


Autor(en)
Schramm, Michael W.
Erschienen
Konstanz 2014: UVK Verlag
Anzahl Seiten
226 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marie-Kristin Döbler, Institut für Soziologie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Unter dem Motto „Eine Kulturphilosophie ohne Sozialtheorie ist leer, eine Sozialtheorie ohne die Beachtung der kulturellen Seite ist blind“ (S. 199) geht Michael W. Schramm in „Symbolische Formung und die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit“ davon aus, Kulturphilosophie und Sozialtheorie müssten vereint werden. Auf Grund von Perspektivität könnten sonst jeweils nur bestimmte Aspekte der Welt und Wirklichkeit in den Blick geraten, andere jedoch – egal wie gut und gründlich die jeweilige Theorie sei – müssten übersehen werden. Eine kulturtheoretische Betrachtung beispielsweise ließe offen bzw. nähme es als gesetzt, dass der Mensch ein Kulturwesen ist, würde aber nicht erklären, wie er zu einem solchen werde, während eine sozialwissenschaftliche Betrachtung die Frage nach dem individuellen Welt- und Wirklichkeitszugang vernachlässige.

Grundlegend für den Autor sind dabei insbesondere vier Annahmen:

„Die uns umgebende Welt ist keine von Menschen unabhängige Gegebenheit, sondern eine von uns Menschen gemeinsam hergestellte und gedeutete Welt. Sie ist gleichsam unsere zweite Natur.“ (S. 8)

Diese „zweite Natur“ wird mit „Kultur“ gleichgesetzt; „sie ist die ganze Wirklichkeit des Menschen“ und umfasst sowohl die Lebensweisen als auch die Lebenswelt, das heißt alles was der Mensch hervorbringt und was Generationen vor ihm hervorgebracht haben, „mitsamt ihren materiellen Kulturgütern und immateriellen Objektivationen.“ (S. 8f.)

Das tägliche menschliche Miteinander wird von gesellschaftlichen Institutionen geregelt und geleitet; ohne Institutionen wäre gemeinschaftliches Leben und Handeln nicht möglich.

Die soziale und die kulturelle Dimension hängen untrennbar miteinander zusammen, sind verflochten, da der Mensch immer und zwangsläufig in einem sozio-kulturellen Gefüge lebt.

Während Schramm also einerseits annimmt, es wäre nötig, Kulturphilosophie und Sozialtheorie in Beziehung zu setzen, geht er andererseits auch davon aus, es sei möglich; er meint, man müsse und könne gleichzeitig Kulturphilosophie und Sozialtheorie betreiben, so dass alle wesentlichen und wichtigen Aspekte der Wirklichkeit berücksichtigt werden könnten.

Vor diesem Hintergrund unternimmt Schramm den Versuch, eine kulturphilosophische und eine wissenssoziologische Theorie zu integrieren – oder eine Integration vorzubereiten. Wie weit eine solche Integration im vorliegenden Buch gehen kann bzw. wie umfangreich der Beitrag Schramms dazu ist, wird im Laufe des Buches relativiert. So scheint Schramm mit der Hoffnung zu starten, er könne auf eine Integration hinarbeiten (S. 9), während es gegen Ende dann heißt, das Ziel wäre immer nur die Vorbereitung einer Integration gewesen und im Rahmen dieses Buch könnte lediglich noch die „Frage gestellt“ (nicht jedoch beantwortet) werden, „wie eine solche integrative Kulturtheorie aufzubauen“ sei (S. 199); das heißt mehr als Vorarbeitet sei auf den rund 220 Seiten nicht zu leisten.
Diese Vorarbeit wird dafür aber recht gründlich betrieben: Bestimmte Aspekte der beiden Theorien, auf die bereits der Titel „Symbolische Formung und die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit“ verweist, werden ausführlich dargelegt. Einerseits geht es um Ernst Cassirers Kulturphilosophie, die um das Konzept der „symbolischen Formung“ kreist; andererseits steht Bergers und Luckmanns Wissenssoziologie mit der These zur „gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit“ im Fokus.

Diese beiden Theorien sind Schramms Erachtens nicht nur auf Grund ihrer jeweiligen intrinsischen Qualität sowie sprachlicher und struktureller Analogien prädestiniert mit einander in Verbindung gebracht zu werden. Vielmehr würden sich die jeweiligen Konzepte auch hervorragend ergänzen; Berger und Luckmann etwa böten die „bestmögliche Lösung“ für das „angesprochene ‚soziale Problem‘ bei Cassirer“ (S. 22).

Für die damit verbundene Argumentation vollzieht Schramm zunächst eine recht ausführliche Exegese Berger und Luckmanns „Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“. Dabei bestimmt er zunächst zentrale Begriffe Berger und Luckmanns Theorie zur Wissenssoziologie; z.B. gibt er wieder, wie sie „Lebens- und Alltagswelt“, „Interaktion“, „Sprache“ und „Wissen“ definieren. Dabei wird unter anderem nachgezeichnet, von welchen Vorgängern Berger und Luckmann diese übernehmen und wie sie diese zu welchem Zweck weiterentwickeln.

Über einen Verweis auf die ‚gemeinsamen Wurzeln‘ von Cassirer und Berger/Luckmann wird ein weiterer Punkt stark gemacht, warum sich ausgerechnet diese beiden Theorien zur Integration eigenen: Sowohl Cassirer als auch Berger/Luckmann – letztere jedoch vermittelt über den Bezug auf Alfred Schütz – knüpfen an Edmund Husserl an. Darüber hinaus ist es Schramms Erachtens naheliegend, dass über den Cassirer Rezipienten Schütz, Thesen und Konzepte von Cassirer – wenn auch nicht explizit benannt – in die „Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ mit einflössen (vgl. z.B. S. 39ff., S. 99), was das In-Beziehung-Setzen zusätzlich begründe und legitimiere. Eine mögliche Parallelisierung wird dann auch im folgenden Subkapitel hervorgehoben, in dem eine thematisch gegliederte, fünfstufige Gegenüberstellung zentraler Begriffe und Thesen Bergers und Luckmanns mit denen Cassirers erfolgt.

Basierend hierauf und unter erneutem Verweis auf den zuvor benannten gemeinsamen Ausgangspunkt werden in Kapitel 3 die Fragen, die Berger und Luckmann bearbeiten, mit jenen konfrontiert, die Cassirer ins Auge fasst. Schramm zieht auch hierbei das Fazit, dass beide Theorien die gleichen Phänomene betrachten und selbst ihre jeweiligen Antworten ähnlicher Art wären, obwohl die Verwendung unterschiedlicher Begriffe, die unter den Bannern ‚sozial‘ bzw. ‚kulturell‘ rubrizierten, etwas anderes suggeriere. So würden beispielsweise das Konzept der „Alltagswelt“ und „Jedermannswissen“ bei Berger/Luckmann behandeln, was Cassirer unter „Sitte“ und „Ethos“ verstehe.

Mag man insbesondere unter dem Primat der „Funktionalen Äquivalenzen“ diesen Vergleich als Leser nachvollziehen können, den Aufbau des Buches zunächst recht schlüssig und begründet finden, könnte sich der Leser an dieser Stelle trotzdem fragen: Warum diese Form der ‚Trennung‘ hinsichtlich der Begriffsdefinitionen? Warum ist die Zusammenfassung der Theorie Berger/Luckmanns auf mehrere Kapitel verteilt und erscheint damit ‚zerrissen‘? Warum wird die Kritik an ihrer Theorie, die dann zu Cassirer überleitet, nicht gebündelt? So ist der scheinbar wichtige inhaltlich-konzeptionelle Unterschied zwischen den Begriffsbestimmungen (Kapitel 2) und der Abhandlung entlang der Fragen, die Berger/Luckmann respektive Cassirer stellen (Kapitel 3), nicht besonders deutlich zu erkennen – und auch Schramm selbst scheint es eher als Begriffs-Paarbildung zu verstehen, denn er schreibt: „In den beiden anderen Kapiteln des Hauptteils (3 und 4) werden in einem ersten Schritt die sich auf die kulturelle und soziale Wirklichkeit beziehenden Begriffe […] gegenübergestellt“ (S. 26). Leider ist es dann auch nicht ganz nachvollziehbar, in welcher Weise sich dies vom zweiten Schritt unterscheidet, der die strukturelle Analogie der „zentralen theoretischen Konzepte“ darstellen soll. Anders gesagt: Schramms Ausführungen lesen sich wie eine Begriffs-Analogiebildung, die im Kapitel 5 dazu übergehen, darzulegen, wie eine Integration der beiden Theorien mit welchem Gewinn für die Wissenschaft möglich wäre, das heißt Anknüpfungspunkte für weiterführende Arbeiten zu einer „integrative[n] Kulturtheorie“ (S. 199) zu liefern – und damit an jenem Punkt enden, an dem es besonders spannend wird.

Somit bleibt zusammenzufassen, dass Schramm ‚die Kultur als Ganzes‘ (vgl. z.B. S. 7ff. sowie Kapitel 5) in den Blick nehmen möchte, indem er gleichzeitig eine kulturphilosophische und eine wissenssoziologische Sichtweise berücksichtigt und das Konzept der symbolischen Formen Ernst Cassirers mit den philosophisch-sozialwissenschaftlichen Überlegungen Peter Bergers und Thomas Luckmanns verknüpft. Schramm gelingt es dabei Analogien und Parallelen zwischen den jeweiligen Theorien aufzuzeigen. Ebenso kann er darlegen, dass Cassirer und Berger/Luckmann lediglich unterschiedlich benennen, was sie sehen, obwohl sie auf die gleichen Phänomene der Welt blicken bzw. ‚kulturell‘ und ‚sozial‘ nur verschiedene Perspektiven auf Welt und Wirklichkeit umschreiben und Cassirer im Prinzip die gleichen Phänomene betrachtet wie Berger und Luckmann. Des Weiteren verweist Schramm auf den potentiellen Gewinn disziplinübergreifender, integrativer Ansätze.

Dabei beschert Schramm dem Leser manches ‚Aha-Erlebnis‘, weil unter anderem die Exegese der „gesellschaftlichen Konstruktion“ dort verwendete Begriffe und Konzepte klarer macht; für jeden, der Berger und Luckmann besser verstehen will, ist dieses Buch daher zu empfehlen. Demjenigen hingegen, der eine „integrative Kulturtheorie“ sucht oder erwartet am Ende der Lektüre könne er ‚alles‘ sehen und hätte die Eingeschränktheit einer Perspektive überwunden, sei etwas die Hoffnung genommen; Schramms Buch leistest dazu lediglich die Vorarbeit.

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