S. Gonser: Der Kapitalismus entdeckt das Volk

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Titel
Der Kapitalismus entdeckt das Volk. Wie die deutschen Großbanken in den 1950er und 1960er Jahren zu ihrer privaten Kundschaft kamen


Autor(en)
Gonser, Simon
Reihe
Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 108
Erschienen
München 2014: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
239 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Wylegala, Institut für Geschichtswissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Gegenstand der Dissertation Simon Gonsers ist der Einstieg der drei westdeutschen Großbanken (Deutsche Bank, Commerzbank, Dresdner Bank) in das Privatkundengeschäft, dessen allmähliche Ausweitung während der 1950er- und 1960er-Jahre und in diesem Zusammenhang schließlich die Entwicklung zum "Massengeschäft". Obgleich es sich hierbei um einen zentralen Aspekt der Bankgeschichte der Nachkriegszeit handelt, war dieser bis in die Gegenwart nachwirkende Wandel bisher ein Desiderat der bankengeschichtlichen Forschung.

Die Ursachen waren laut Gonser nicht ausschließlich organisationsinterne, womit er zugleich die Selbstdarstellung der Großbanken, ihr Einstieg in das Privatkundengeschäft seit Ende der 1950er-Jahre sei planvoll erfolgt, infrage stellt. Daher bezieht er über den institutionellen Rahmen hinaus auch die parallel ablaufenden gesellschaftlichen Veränderungsprozesse in seine Untersuchung ein. Hierbei orientiert er sich in modifizierter, auf die Spezifika der Branche zugeschnittener Form an Hartmut Berghoffs Konzept einer "Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte". Die Arbeit basiert auf den Beständen der unternehmenseigenen Archive der drei Großbanken (punktuell ergänzt um Bestände des Bundesarchivs in Koblenz). Dabei erlaubt die Quellenlage allerdings weder einen Vergleich der Institute untereinander noch die Identifikation der maßgeblichen handelnden Personen, weshalb Gonser diese Institutsgruppe als Block behandelt. Abgesehen von dieser aus pragmatischer Sicht notwendigen Herangehensweise, erscheint dies aufgrund der Homogenität und des kooperativen Verhältnisses zwischen den drei Instituten auch aus inhaltlichen Gründen durchaus sinnvoll.

Dem eigentlichen Hauptteil ist ein der historischen Entwicklung der Branche gewidmetes Kapitel vorangestellt. Dort wird die Herausbildung einer Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Institutsgruppen (Sparkassen, Genossenschafts- bzw. Raiffeisenbanken und Großbanken) nachgezeichnet. Während die anderen Gruppen mit jeweils unterschiedlichen Kundenkreisen das Privatkundengeschäft weitgehend abdeckten, waren das eigentliche Betätigungsfeld der Großbanken vorwiegend die Industrie- und Handelsfinanzierung sowie der Wertpapierhandel. Bescheidene Anfänge im Privatkundengeschäft sind allerdings bereits in der Zeit des Kaiserreiches zu erkennen. So entstanden so genannte Depositenkassen, also Zweigstellen, die auch im Bereich des Privatkundengeschäfts Bankdienstleistungen anboten. Ferner wurde das Vermögen einiger weniger wohlhabender Privatkunden verwaltet. Eine Ausweitung erfuhr dieses Geschäftsfeld dann in den 1920er-Jahren im Zusammenhang mit dem Ausbau des Inlandsgeschäfts. Schließlich engagierten sich die Großbanken im Laufe der 1930er-Jahre zunehmend im von den Nationalsozialisten aus politischen Gründen geförderten Spargeschäft. Die traditionelle Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Institutsgruppen blieb aber dennoch weitgehend bestehen. Dieser allmähliche und langfristige, bis in das Kaiserreich zurückreichende Prozess der Annäherung an das Privatkundengeschäft sollte erst in den 1950er- und 1960er-Jahren eine rasante Beschleunigung erfahren und letztlich in der Auflösung der traditionellen Arbeitsteilung münden.

Diesem Wandel schließlich sind die beiden Kapitel des eigentlichen Hauptteils gewidmet. Gonser beginnt einleitend jeweils mit der Darstellung der wirtschafts- und sozialhistorischen Rahmenbedingungen. Grundlegende Bedeutung für das Privatkundengeschäft hatte der wirtschaftliche Aufschwung im Rahmen des "Wirtschaftswunders", ging er doch einher mit steigenden Einkommen der Privathaushalte. Damit eng verbunden, fällt in diesen Zeitraum schließlich auch der Übergang zur Massenkonsumgesellschaft. Dies waren Veränderungen, die in zunehmendem Maße Privathaushalte als Kunden interessant werden ließen, vor allem, da die Großbanken zunächst unter Kapitalmangel litten. Dementsprechend erfolgte im Laufe der 1950er-Jahre nach und nach der Einstieg in die verschiedenen Sparten des Privatkundengeschäfts (Konten- und Investmentsparen, Wertpapiergeschäft, Lohn- und Gehaltskonten, Kleinkredite et cetera). Zugleich wurde – vor allem im Süden der Bundesrepublik – das Filialnetz ausgebaut. Der Einstieg in die verschiedenen Sparten wie auch der Ausbau des Filialnetzes resultierte aus jeweils unterschiedlichen Gründen, unter denen der Ausbau des Privatkundengeschäfts selbst zumeist nicht maßgeblich war. Im Laufe der 1960er-Jahre wurde das Angebot an Produkten und Dienstleistungen noch erweitert und ausdifferenziert. Geworben wurde nun auch gezielter um solche Personengruppen, die bisher nicht zu den Kunden der Großbanken zählten, und im Ergebnis wuchs das Privatkundengeschäft zum "Massengeschäft".

Zusätzlich angetrieben wurde diese Entwicklung durch den zunehmenden Wettbewerb innerhalb der Branche, denn es waren nicht allein die Großbanken, die sich außerhalb ihrer angestammten Geschäftsfelder engagierten. Die allmähliche Auflösung der traditionellen Arbeitsteilung war seit den 1950er-Jahren eine allgemeine Entwicklung innerhalb der Branche, die noch durch die Deregulierung des Marktes (etwa durch die Liberalisierung der Zins- oder der Wettbewerbsordnung) beschleunigt wurde und um 1970 schließlich ihren Höhepunkt erreichte, als alle Institutsgruppen in allen Geschäftsfeldern aktiv waren und dabei alle Kundenkreise bedienten. Der schärfer werdende Wettbewerb resultierte im Ergebnis in einer "Phase der Rationalisierung, der Modernisierung und der verstärkten Marktorientierung" (S. 198).

Die sukzessive Neuausrichtung der Geschäftstätigkeit war nicht systematisch oder planvoll, folgte keiner Strategie. Die Großbanken "waren vielmehr Getriebene der Umstände und eines sich wandelnden Umfeldes" (S. 211). Erst gegen Ende der 1960er-Jahre sollte sich dies ändern. Dabei ging mit dem Generationswechsel in den Vorständen der Großbanken seit der Mitte der 1960er-Jahre auch eine sich bis in die 1970er-Jahre hinziehende Neugestaltung der Organisationsstrukturen einher. So wurden die verschiedenen Sparten des Privatkundengeschäfts in einem eigenen Bereich zusammengefasst. Mit dem Ende des "Wirtschaftswunders" und den dadurch gänzlich veränderten Rahmenbedingungen begann schließlich eine neue Entwicklungsphase.

Die Lektüre macht zunächst deutlich, dass die Geschichte des Privatkundengeschäfts der Großbanken nicht erst in den 1950er-Jahren beginnt. Vielmehr reichen die Wurzeln dieses Geschäftsfeldes bis in das Kaiserreich zurück. Des Weiteren lässt sich einerseits ein klares Bild davon gewinnen, wie die Großbanken erst schrittweise in die einzelnen Sparten einstiegen und wie dann daraus ein "Massengeschäft" wurde. Zugleich gelingt es Gonser, seinem eigenen Anspruch gerecht zu werden und den engen Konnex zwischen dieser Entwicklung und den jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen herauszuarbeiten. Mit anderen Worten wird auch deutlich, dass Unternehmen eben keine autarken Gebilde innerhalb der Gesellschaft sind, sondern auch für sie die Notwendigkeit besteht, sich an eine sich stetig wandelnde gesellschaftliche Umwelt anzupassen, die zahlreichen Wandlungsprozesse um sie herum mit Blick auf die für sie maßgebliche ökonomische Funktionslogik zu rezipieren und das eigene Geschäftsmodell dementsprechend stets zu modifizieren. Etwas im Dunkeln bleibt dabei zuweilen allerdings, wie dies konkret im Falle der Großbanken und ihres Privatkundengeschäfts aussah.

Daher drängt sich die Frage auf, ob es nicht sinnvoll gewesen wäre, über den Ansatz einer Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte hinaus beispielsweise auf organisationssoziologische Ansätze zurückzugreifen, die explizit den Zusammenhang von Organisation und gesellschaftlicher Umwelt behandeln, der Untersuchung also auch einen fundierteren theoretischen Rahmen zu geben, um so die strukturellen Kopplungen zwischen Großbanken und Gesellschaft präziser zu fassen und damit deutlicher hervortreten zu lassen. Ferner ist die Darstellung der Entwicklung des Privatkundengeschäfts der Deutschen Bank (insbesondere für die 1960er-Jahre) nur sehr vage. Ein Blick in die Fußnoten lässt den Grund ersichtlich werden: Insbesondere im zweiten Kapitel des Hauptteils wurde weitgehend ohne Quellen dieses Instituts gearbeitet. Allerdings ist dies offenbar nicht Gonsers Versäumnis, sondern ist vielmehr dem nur eingeschränkt gewährten Zugang zu den Beständen des Historischen Archivs der Deutschen Bank zuzuschreiben.

Die angeführten Punkte sollen keinesfalls die eigentliche Leistung Gonsers schmälern. Mit dieser soliden, kompakten, stringent dargestellten Untersuchung hat er einen wichtigen Aspekt der Geschichte der Großbanken in der Bundesrepublik erhellt und einen Beitrag zur bankgeschichtlichen Forschung geleistet, der insbesondere in der Auseinandersetzung mit der Geschichte der drei Großbanken in der Bundesrepublik fortan zur Kenntnis genommen werden sollte.

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